Die Familiensaga endet im Zusammenbruch

Édouard Louis erzählt in 'L'effondrement' die Geschichte seines verstorbenen Bruders und macht endgültig Schluss mit den Bellegeules

Veröffentlicht am
14.11.2024
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Am 25. September kündigt Édouard Louis auf seinem Instagram-Kanal die Veröffentlichung seines neuesten Romans an – die Ankündigung lohnt es, in Gänze wiedergegeben zu werden:

„Dans 10 jours paraîtra L’effondrement. C’est le roman de la vie et de la mort de mon frère, mort à 38 ans. C’est une histoire de la dépression, de la mélancolie, de l’alcool et d’un être qui tente tout pour s’en sortir, mais qui s’enfonce encore plus quand il se débat, comme dans une tragédie grecque. C’est le négatif absolu de Monique s’évade. C’est un livre qui m’a imposé de m’éloigner du territoire de la sociologie et d’entrer dans celui de la psychiatrie et de la psychologie, pour cerner le problème de la dépression. C’est donc un livre qui déploie un tout autre langage, nouveau pour moi, et qui m’a demandé des années d’enquête, de réflexions, de détours. Enfin, ce livre est la clôture d’une fresque familiale, commencée avec Eddy Bellegueule il y a 10 ans. Après cela, je n’écrirai plus le mot famille.“
„In zehn Tagen erscheint Der Zusammenbruch. Es ist der Roman über das Leben und den Tod meines Bruders, der im Alter von 38 Jahren starb. Es ist eine Geschichte über Depressionen, Melancholie, Alkoholismus und einen Menschen, der alles versucht, um aus dieser Situation herauszukommen, aber noch tiefer sinkt, auch wenn er sich abmüht wie in einer griechischen Tragödie. Dies ist das absolute Negativ von Monique s’évade. Es ist ein Buch, das mich dazu gezwungen hat, mich vom Gebiet der Soziologie zu entfernen und das der Psychiatrie und Psychologie zu betreten, um das Problem der Depression zu erkunden. Es ist also ein Buch, das eine völlig andere, für mich neue Sprache entfaltet und das mir jahrelange Untersuchungen, Überlegungen und Umwege abverlangt hat. Schließlich ist dieses Buch der Abschluss eines Familienfreskos, das ich vor zehn Jahren mit Eddy Bellegueule begonnen habe. Danach werde ich das Wort Familie nie mehr schreiben.“

Die Tatsache, dass Louis ein Buch über seinen toten Bruder schreiben würde, überrascht nicht. Als er im November vergangenen Jahres die Poetikdozentur an der Uni Tübingen innehatte, trug er bereits Fragmente dieser Geschichte vor. Überraschend war eher, dass Louis im Frühjahr mit Monique s’évade („Monique bricht aus“, erscheint Ende Januar auf deutsch bei Fischer) noch ein zweites Mutterbuch vorgezogen hat.

Man fragte sich immer wieder: Worüber wird Louis eigentlich schreiben, wenn eines Tages all seine Familienmitglieder abgefrühstückt sind? Welcher entfernte Verwandte muss noch für ein weiteres Buch herhalten? Der ebenfalls früh verstorbene Cousin Sylvain? Die Großeltern möglicherweise? Nach dem Instagram-Post wissen wir nun: Es ist Schluss mit den Bellegueules! Nach nicht weniger als sieben Büchern – Harry Potter und Proust lassen grüßen! Überraschend ist auch, dass Louis L’effondrement ganz selbstverständlich als „Roman“ bezeichnet, was tatsächlich auch auf dem Buchcover so erscheint. Nach seinem zweiten Werk Histoire de la violence (2016) hatten er und sein Verlag auf dieses Etikett verzichtet – so wie auch Annie Ernaux seit ihrem ersten autosoziobiographischen Text La place (1984) konsequent dieses Label aufgegeben hat. Man darf sich also vor der Lektüre von L’effondrement durchaus fragen, ob Louis nun anders erzählt als zuvor, zumal er ja etwas großspurig die griechische Tragödie beschwört und einen Ausflug in die Psychologie ankündigt. Die lapidare Antwort lautet: nein – alles wie gehabt. Doch der Reihe nach.

Das erste Wort des Romans lautet – wenig verwunderlich – „Je“, und es steht am Anfang eines Satzes, der in all seiner Bitterkeit an den ersten Satz von Louis’ literarischem Debüt erinnert, das genau vor zehn Jahren in die Läden kam. Damals hieß es: „De mon enfance je n’ai aucun souvenir heureux“ („An meine Kindheit habe ich nicht eine einzige glückliche Erinnerung“) – heute lesen wir: „Je n’ai rien ressenti à l’annonce de la mort de mon frère“ („Ich habe nichts empfunden, als ich vom Tod meines Bruders erfuhr“). Beide Anfänge ziehen den Leser unmittelbar ins Geschehen und intonieren eine Stimmung, die auch zum düsteren Titel des neuen Romans passt, den man wohl mit „Der Zusammenbruch“ übersetzen muss. Louis erzählt – wie auch schon in den Vorgängertexten – fragmentarisch. Eine Rahmengeschichte, die chronologisch von den Ereignissen zwischen der Todesnachricht und der anstehenden Beerdigung erzählt, wechselt sich ab mit insgesamt sechzehn „Faits“, also Fakten, hinter denen sich jeweils Anekdoten aus dem Leben des verstorbenen Bruders verbergen. Diese – Vorsicht Wortspiel! – faktenreiche Biografie einer verlorenen Seele aus der französischen Provinz, die erst vom eigenen Vater verlassen und dann vom Stiefvater verlacht wurde, steht also im Mittelpunkt, sie bildet das Epizentrum der Familientragödie. Der Bruder, der im ganzen Roman ohne Namen bleibt, wird als junger Mann porträtiert, der große Träume hatte, etwa der berühmteste Metzger Frankreichs zu werden, der aber jedes Mal wieder auf dem harten Boden der Tatsachen landen musste. Irgendwann nimmt ihn dann der Alkohol unter seine Fittiche und macht aus ihm den brutalen Schläger, als den wir ihn schon in En finir avec Eddy Bellegueule und Combats et métamorphoses d’une femme kennengelernt haben – manche Ereignisse aus den Vorgängerwerken werden in L’effondrement beinahe wortgleich wiederholt.

Neu ist, dass Louis bei der Rekonstruktion der Lebensgeschichte seines Bruders auf ethnografische Spurensuche gegangen ist und nahezu jede von dessen Exfreundinnen interviewt hat. Diese Interviews werden in den Roman hineinmontiert und ähneln sich sehr stark in der groben Einschätzung des Bruders: Im nüchternen Zustand sei er der charmanteste Mann auf Erden gewesen, aber mit jeder Flasche Bier und jedem Whiskey immer mehr zum gewalttätigen Monster mutiert. Zu den Interviewten gehört auch jene Angélique aus besseren Kreisen, die bereits in Louis’ erstem Mutter-Buch einen Auftritt hatte. Sie war eine Zeitlang eine Freundin der Familie und hatte währenddessen eine Liebesbeziehung zu Louis’ älterem Bruder, den sie und ihr Umfeld anfangs vergöttert hatten: „Je l’ai aimé passionnément“ („Ich habe ihn leidenschaftlich geliebt“). Möglicherweise vergleicht Louis die Geschichte seines Bruders deshalb mit einer griechischen Tragödie, weil er in der Alkoholsucht so etwas wie einen Götterfluch sieht, doch belässt er es dabei nicht. Auch das soziale Milieu mitsamt seinen Determinismen wird für den frühen Tod verantwortlich gemacht – diese Argumentation hat Louis auch schon in Qui a tué mon père (2018) für seinen Vater geltend gemacht. Schließlich – auch das kennen wir bereits aus dem Vater-Buch – macht er die Homophobie der unteren Schichten für ihr soziales Schicksal verantwortlich. „Sa haine de l’homosexualité à lui était ancrée dans son esprit, elle n’était pas seulement un discours répété machinalement mais, je le crois, une idéologie constituée. Pourquoi? Mon frère était si dépossédé de tout, d’argent, de ses rêves, de bonheur, que ce discours de haine était d’une certaine façon tout ce qu’il avait. […] Mon frère ne faisait que les mauvais choix.“ („Sein Hass auf Homosexualität war in seinem Bewusstsein verankert, er war nicht nur ein mechanisch wiederholter Diskurs, sondern, wie ich glaube, eine feststehende Ideologie. Warum ist das so? Meinem Bruder wurde alles genommen, das Geld, seine Träume, sein Glück – so sehr, dass dieser Hassdiskurs in gewisser Weise alles war, was er hatte. [...] Mein Bruder hat immer nur die falschen Entscheidungen getroffen.“). Berührend sind jene Szenen, in denen der ältere Bruder versucht, dem jüngeren eine Stütze zu sein: Er streicht ihm seine neue Wohnung in Amiens, lässt ihn bei sich übernachten, lädt ihn zum Essen ein. Jedes Mal jedoch kippt die Stimmung irgendwann, wenn der Alkohol wieder Überhand gewinnt. Im kleineren Bruder bleibt am Ende nur Verachtung übrig.

So viel zur eigentlichen Lebensgeschichte eines Säufers, zu den „Fakten“. Hätte Louis es dabei belassen, wäre der Roman das erschütternde und auch berührende Zeugnis eines zu früh zu Ende gegangenen Lebens, die tatsächliche Tragödie eines Träumers, den das Leben im Stich gelassen hat. Leider bleibt Louis dem Stil seiner letzten Werke treu und bastelt um die Kerngeschichte einen Rahmen, der in der jüngeren Vergangenheit situiert ist und, wie bereits angedeutet, die Ereignisse nach dem Tod des Bruders beschreibt. Wir begegnen dort vor allem der trauernden Mutter und der Schwester, die sich bemüht, dem letzten (und einzigen) Wunsch des Verstorbenen gerecht zu werden, der darin besteht, im Grab des Großvaters in Amiens bestattet zu werden. Leider begegnen wir auch dem Autor selbst, der – zwar nachvollziehbarerweise – mit seinen eigenen Gefühlen hadert, der aber auch gleich die passenden Bücher zur Hand hat, um sowohl sein Ringen mit der ausbleibenden Trauer als auch die Krankheit und den Tod des Bruders zu objektivieren. Zunächst packt er Joan Didions autobiografischen Essay The Year of Magical Thinking (2005) in den Rucksack, in dem es um den plötzlichen Tod von Didions Ehemanns geht. Dann werden allerhand psychologische Schriften gewälzt, etwa von Hubertus Tellenbach und vor allem von Ludwig Binswanger. Auch Freuds Trauer und Melancholie (1916) und Kristevas Soleil noir: dépression et mélancolie (1987) dürfen nicht fehlen. Man muss sicher jedem Einzelnen zugestehen, auf seine eigene Weise mit einem persönlichen Verlust umzugehen, doch muss die öffentlich thematisierte Trauerarbeit immer auch gleich der ostentativen Zurschaustellung der eigenen Belesenheit dienen? Das eigene Hadern mit dem „richtigen“ Trauern wäre ausdrucksstark genug gewesen, die Leser hätten keiner Literaturliste am Ende des Romans bedurft.

Ein weiterer Punkt, der einem nach der Lektüre unangenehm im Magen liegt, ist – wie schon im Vorgänger Monique s’évade – das Streiten um das liebe Geld. Um dem Bruder seinen letzten Wunsch einer Bestattung in Amiens zu ermöglichen, fragt seine Schwester Isabelle, wieviel Louis selbst zu den Kosten dazu schießen könne oder ob sein Bruder wie ein Hund begraben werden solle. Die Antwort: „La vérité, c’était que oui, je l’aurais laissé être enterré comme un chien“ („Die Wahrheit, ja, ich hätte ihn wie einen Hund begraben lassen“). Louis lässt sich schließlich zu „300, 400, maximal 500 Euro, mehr nicht“ überreden, obwohl das Begräbnis alles in allem 5.000 Euro kosten wird. Immerhin unterstütze er schon seit längerem seine Mutter und müsse als freischaffender Künstler ohne regelmäßiges Einkommen auch auf seine Ausgaben achten. All das hätte man von jemandem, dessen Bücher mittlerweile in über 20 Sprachen übersetzt wurden, lieber nicht erfahren – die jüngeren Generationen würden sicher von Oversharing sprechen. Allein die Einnahmen des jüngsten Romans über den Bruder, der gerade erst mit dem Prix Les Inrockuptibles ausgezeichnet wurde, hätten den Zuschuss zum Begräbnis mit Sicherheit etwas üppiger ausfallen lassen können. Ob Louis überhaupt zur Beerdigung erschienen ist oder – wie Eribon nach dem Tod seiner Mutter – dem Friedhof ferngeblieben ist, lässt der Roman offen.

Der Eindruck ist also nach der Lektüre von L’effondrement ambivalent. Ja, Louis kann schreiben und es gelingt ihm, das Hadern mit der Trauer um jemanden, den er gehasst hat, glaubwürdig in Sprache zu überführen. Der namenlose Bruder ist weder Sympathieträger noch reines Hassobjekt, weder nur Täter noch Opfer – die Nuancen dazwischen werden immer wieder eindringlich ausgeleuchtet. Dennoch zwingt uns Louis als Leser durch sein Oversharing immer wieder dazu, sein Werk nicht nur nach literarischen, sondern nach moralischen Maßstäben zu beurteilen. Das mag in dieser Konsequenz durchaus beeindruckend sein, weil er sich ja selbst als öffentliche Person bewusst dieser Beurteilung aussetzt. Es hinterlässt jedoch insgesamt einen bitteren Beigeschmack und ja, man ist am Ende froh, dass das Kapitel „Familie“ nun endgültig abgeschlossen ist.

Édouard Louis: L'effondrement. Paris: Seuil, 240 S.

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