Was für ein feiner, zarter Roman über Edmond und Jules de Goncourt und das geheime Leben ihrer „törichten Magd“ Rose Malingre! Für das die beiden, ihrer Bruderliebe und ihrer Hingabe an Literatur und Kunst wegen, blind waren. Das ist umso erstaunlicher, als ihrer Neugier und ihrem wachen Verstand ansonsten in Paris so gut wie nichts entging. Wer bisher noch nichts über Leben und Schreiben der Goncourts – Namensträger des wichtigsten französischen Literaturpreises –, wusste und vielleicht allenfalls das eine oder andere ikonische Doppelporträt aus dem Atelier Nadar kennt, wird, wenn Doppelleben (franz. Les vieux garçons 2022) von Alain Claude Sulzer ausgelesen ist (obwohl man ewig weiterlesen möchte), mehr über die Brüder erfahren wollen. Und vielleicht ihr Journal – das lange geheim gehaltene Protokoll des Pariser Lebens im Zweiten Französischen Kaiserreich –, und ihren Roman Germinie Lacerteux aufschlagen. Mit diesem Roman würdigten Edmond und Jules de Goncourt ihre Dienerin Rose, deren Nöte sie, als sie noch lebte, verkannten.
Doppelleben ist also auch ein Roman über einen Roman, was ein Wagnis ist und hier wunderbar funktioniert. Weil Doppelleben viel mehr ist als ein Metaroman, nicht zuletzt eine Liebeserklärung an Edmond und Jules. Denn es geht Sulzer nicht nur um das Doppelleben von Rose, um ihre geheimen Wünsche und ihre verheerenden sexuellen Beziehungen, sondern auch um das einzigartige und berührende „Doppelleben“ der Brüder. Bis zum frühen Tod des Jüngeren, Jules, im Jahr 1870, führten sie ein gemeinsames Leben für die Kunst (und das Vergnügen), sprachen mit einer Stimme, schrieben mit einer Feder und teilten alles, sogar ihre Maitressen. Diesen Akzent eines zwillingsgleichen Junggesellenlebens setzt der Titel der französischen Übersetzung, Les vieux garçons.
Alles beginnt in diesem Roman mit einem Droschkenunfall 1869, bei dem Edmond, der Ältere und Robustere der beiden, am Kopf verletzt wird. Die Brüder hätten die rote Nase des Kutschers ernstnehmen sollen. Doch 1869, als sie endlich gefeierte Schriftsteller sind, ist längst ein anderes Unglück offenbar: der unaufhaltsame Verfall Jules’. Er wird ein Jahr später, noch vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges und dem Ende des Zweiten Französischen Kaiserreichs, an Syphilis sterben. Das ist die grausame Wahrheit, auch wenn Edmond die tückische Krankheit hartnäckig als geistige Erschöpfung, als Folge künstlerischer Verausgabung verharmlost oder vielleicht auch schamhaft verschleiert, weil er auf diese Weise verzweifelt versucht, den Bruder zu beschützen und an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Doch gegen die wachsende Qual helfen weder Leibesübungen noch die Hydrotherapie eiskalter Duschen; das ohrenbetäubende Hundegebell, das Geschrei der Nachbarskinder und das blecherne Tuten aus der Werkstatt des Instrumentenbauers Adolphe Sax treiben den immer schon hochempfindlichen Jules jetzt fast in den Wahnsinn. Bald kann er nur noch stottern und stammeln, er stolpert und stürzt, nach und nach versagen die Sinne, entgleitet ihm der Sinn der Worte. Hat er einen Bruder? Nur höchst delikate Speisen wie Froschschenkel sowie Besuche im Salon von Princesse Mathilde, der freigeistigen Cousine des verachteten Kaisers Napoleon III., und lästerliche Plaudereien mit Gustave Flaubert, Théophile Gautier und anderen Freunden, lenken die Brüder noch eine kleine Weile ab von dem leidvollen Wissen, dass es mit Jules zu Ende geht. Und auch Kunst und Schönheit helfen ihnen, weil sie immer helfen.
Und Rose? Sie kam, wie so viele arme Mädchen, mit 14 Jahren aus der Provinz nach Paris, um zu arbeiten und irgendwie ihr Glück zu machen. Und wie so viele, die nicht ausnehmend hübsch waren und deshalb als Tänzerin, Schauspielerin und Kurtisane nicht reüssieren konnten, wurde sie Magd, wurde erniedrigt und vergewaltigt. Später bekam sie, welch ein Glück, eine Anstellung bei Madame de Goncourt, wurde anständig behandelt und blieb nach dem frühen Tod ihrer Herrin. Fortan lebt sie ihr scheinbar demütiges Leben im Windschatten der vermögenden und anspruchsvollen Söhne, führt geräuschlos den Haushalt, kommt und geht zu später Stunde, und sie merken es nicht. Sie wissen nichts von ihrer verzweifelten Gier nach Liebe, von ihren Schwangerschaften, einer Totgeburt und der Geburt einer gesunden Tochter, sie sehen weder die Zeichen der erlittenen Demütigungen noch die Geldnot und Alkoholsucht. Als es fast zu spät ist, wenden sie sich ihr zu und erstarren. Sie stirbt an „Schwindsucht“, die so unerbittlich ist wie die Syphilis. Und erst nach Roses Tod, der dem Ausbruch von Jules’ Krankheit um einige Jahre vorausgeht, erfahren Edmond und Jules von Marie – einstiges Kindermädchen und spätere Geliebte der Beiden –, vom Doppelleben ihrer Magd. In der Leere, die sie überraschenderweise anfällt, versuchen sie, sich ein Bild von ihr zu machen, sich ihr Gesicht, ihre Gesten, ihre Worte in Erinnerung zu rufen; ein Porträt – Zeichnung, Gemälde oder Foto – gibt es nicht. Wie immer vereint im Geiste, beginnen sie mit Nachforschungen, stellen Fragen und sichern Spuren in den Habseligkeiten der Verstorbenen – Kleider, Wäsche, vergilbtes Bettzeug, dunkle Locken (Schamhaare?), Geld. Und so wie Jules erst in einer fiebrigen Vision das Gesicht der jungen Hure wieder vor sich sieht, die ihn vielleicht in jungen Jahren mit Syphilis ansteckte, wird das verschüttete Bild von Rose auch durch wahre Empfindungen hervorgebracht – durch den Geschmack der von ihr zubereiteten (ungenießbaren) Gerichte auf der Zunge und durch ihre Hand auf Jules’ Schulter, wenn er fror, und er fror immer. Alain Claude Sulzer erzählt so auch – und wir glauben ihm alles – von der Entstehung des Romans Germinie Lacerteux (1865), eines Romans im Stil der „neuen Schule“. Womit der Naturalismus gemeint ist, der sich anschließend mit Émile Zola im literarischen Feld durchsetzte. Es ist der streckenweise klinisch genaue Roman über die Nymphomanin Rose, der den Goncourts endlich die Anerkennung von Kollegen – sogar ein Lob von Victor Hugo – und den ersehnten literarischen Durchbruch brachte. Da aber blieben dem Jüngeren nur noch fünf Jahre; „Jules hing am Leben, aber das Leben hing nicht an Jules“.
Alain Claude Sulzer hat einen berückenden Roman geschrieben, obwohl es doch, neben vielen Unterhaltungseffekten – glamourösen Gesellschaftsszenen und schrulligen Episoden – , vor allem um Ängste, Nöte und Krankheiten geht. Einen Roman als Hommage an die Goncourts, hier und da klingt aber auch die Suche nach der verlorenen Zeit an. Sulzer schenkt nicht nur einem heute weitgehend vergessenen, zur aktuellen Welle des „Klassismus“ so gut passenden Werk der Goncourts die Aufmerksamkeit, die es verdient; er vertieft sich auch ganz in die miteinander verflochtenen und doch einander so fernen Lebensgeschichten von Rose, Jules und Edmond, und er erzählt unsentimental und dafür voller Empathie, Aufrichtigkeit und Takt von ihren Schicksalen und intimen Widerfahrnissen. Diese drei lebten lange unter demselben Dach und kannten sich nicht, oder genauer: Rose kannte Monsieur Edmond und Monsieur Jules, aber diese kannten Rose nicht. Und weil sie so gewaltige Unterschiede in Herkunft, Geschmack und Lebensführung aufwiesen, taugen sie auch als Mittelpunkt des ebenso schillernden wie wahrhaftigen Porträts einer Epoche, die wir die Moderne nennen. Diese Wahrhaftigkeit des Romans Doppelleben verdankt sich dem genauen Studium der Zeitdokumente und zugleich der Einbildungskraft des Autors, der manches Detail – wie beispielsweise Jules’ Hanteltraining oder seine Träume – legitimerweise hinzudichtet, weil die Geschichte dadurch bereichert und atmosphärisch verdichtet wird. Denn es ist ja nicht zwangsläufig das wirklich Geschehene, das die Wahrheit ans Licht bringt. Das war auch die Überzeugung eines Zeitgenossen der Goncourts, Charles Baudelaire: Sein Bekenntnis zur Einbildungskraft als Königin des Wahren und zum Möglichen als einer ihrer Provinzen ist dem Roman als Motto vorangestellt. Hinzu kommt die besondere Schönheit des Stils, der hier – wie schon in vorausgehenden Büchern Alain Claude Sulzers – poetisch und musikalisch ist. Das hätte sogar den bekennenden Musikbanausen Edmond und Jules de Goncourt, und vielleicht auch Rose Malingre, gefallen. Und noch etwas zum Schluss: Die Rückenklappe des reizvollen Buchumschlags wartet mit einer vergnüglichen Pointe auf, die hier nicht verraten wird.
Alain Claude Sulzer, Doppelleben, Berlin, Galiani, 2022, 295 S. (Les vieux garçons, übersetzt von Jacqueline Chambon , Arles, Actes Sud, 2022)
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