Keine Trost-, keine Trotzschrift

Adèle van Reeth ringt in ihrem zweiten Roman "Inconsolable" mit der Vergeblichkeit, Trost zu finden

Veröffentlicht am
25.1.2024
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Das Kirchenjahr endet bekanntlich mit dem Totensonntag, oder wie er richtig heißt, dem Ewigkeitssonntag. Im Gottesdienst werden die Namen derjenigen verlesen, die im vergangenen Jahr verstorben sind. Gemeinsam derer gedenken, deren Tod in unserer Mitte eine schmerzliche Lücke gerissen hat, versuchen, einander den Trost und die Hoffnung des Evangeliums zuzusprechen, darum geht es am Ewigkeitssonntag.

Doch was, wenn man hinter dem gut gemeinten Trost nur noch unrealistische Vertröstung sieht? Wie mit dem Tod eines nahen Angehörigen umgehen, wenn die Religion keine Plausibilität mehr hat? Kurz: Wie soll man als Atheist nach dem Tod des eigenen Vaters Trost finden?

Gar nicht! So lautet zumindest die Antwort von Adèle van Reeth. In ihrem zweiten Roman Inconsolable (2023) ist dieser Titel Programm: Der zweieinhalbjährige Abschied von ihrem Vater, der unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt war, lässt die Philosophin, Autorin, Moderatorin und Chefin von France Inter untröstlich zurück. Sie erläutert zunächst detailliert auch überzeugend, warum ihr die seelischen Unterstützungsangebote der kulturellen Tradition, also Philosophie und Literatur, nicht helfen können. Vor allem die Stoa leistet ihr keinen Beistand: Epikur hatte einst argumentiert, dass der Tod nicht zu fürchten sei, denn solange der Mensch lebe, sei der Tod nicht, und wenn dieser komme, sei der Mensch nicht mehr. Deshalb könne und brauche er das eigene Ende nicht mehr zu fürchten. Die Seelenruhe angesichts der eigenen Sterblichkeit mag zwar eingeübt werden können, jedoch funktioniert die stoische Philosophie gerade nicht, so van Reeth, wenn es um das Verarbeiten des Ablebens eines geliebten Menschen geht. Die Stoa ist für sie keine Philosophie des Trostes.

Auch das Lesen, Schreiben und Redigieren von Texten kann den eigenen Kummer nicht mindern, schon gar nicht heilen. Nicht, dass die Literatur keinen Nutzen in dieser Trauerzeit hätte, aber Trost spendet auch sie nicht. Das gilt auch für ihre selbst geschriebenen Texte. Sie können bloß ihren Kummer fühlbar machen, den Schmerz als solchen benennen. Das bekennt van Reeth bereits mit den ersten Sätzen ihres Romans: „J’entre ici en perdante. Je sais que les mots ne pourront rien“ (dt.: „Ich trete hier als Verliererin auf. Ich weiß, dass die Worte nichts vermögen“). Auch die beschworene Erinnerung an ihren Vater tröstet sie nicht. Sie kann zwar die Vergangenheit wieder auferstehen lassen, nichtsdestotrotz macht sie ihn nicht wieder lebendig. Die Erinnerung ist keine Wiederbelebung dessen, was unwiederbringlich verloren ist.

Folgt daraus, dass Adèle nach dem Tod ihres Vaters nicht weiterleben kann? Diese Frage interessiert den Leser natürlich. Die Omnipräsenz der Trauer bedeutet für die Schriftstellerin gerade nicht, dass der Schmerz die Oberhand behält. Inhalt und Struktur des Romans spielen in der Hinsicht zusammen. Den Jahreszeiten folgend, erzählt van Reeth vom Trauerjahr: Dem Sterben und dem Tod des Vaters im Winter folgt der Frühling. Der Erneuerung der Natur widerspricht ihr innerlicher Kummer. Anschließend kommt der Sommer, jedoch spielt sich ihr Leben in den Sonnenmonaten ausschließlich in der Vergangenheit ab: Van Reeth zieht die Verbindung zwischen franz. été, im Sinne von ‚es ist gewesen‘ und été, der Jahreszeit. Sie lebt aus der Erinnerung, sehnt sich nach dem Sommer des vergangenen Jahres zurück, erzählt von dem Besuch ihres Vaters, als sein Gesundheitszustand noch gemeinsame Ausflüge zuließ. Ein zukünftiges Glücklichsein, ein Leben ohne stets zurückzublicken, scheint für Adèle noch unmöglich zu sein. Es folgt der Herbst, die Jahreszeit der Transformation der Natur – und plötzlich auch ihres Schmerzes. Sie spürt, wie der Geschmacks- und der Geruchssinn wieder zurückkehren. Als sich die Blätter verfärben, erlebt sie, wie ein neuer Morgen die Nacht ablöst, wie eine zunächst unwillkommene Katze schließlich als Bereicherung des Familienlebens wahrgenommen wird. Außerdem hält sie ihren zweiten Sohn in den Armen, gibt ihm die Brust, während sie mit der freien Hand Texte in den PC tippt. Sie selbst hatte ihrem sterbenden Vater noch die Zukunft ins Ohr geflüstert und ihm das Geheimnis anvertraut, wieder schwanger zu sein. Darin liegt für sie schließlich der Schlüssel: Loslassen können und Umarmen wollen. Ihr gelingt es im Herbst, trotz der Traurigkeit, die Lust am Leben zurückzuerlangen. Schließlich ist der Winter da und mit ihm das erste Jahresgedächtnis. Zeit Bilanz zu ziehen. Ein Jahr, nachdem die Familie ihren Mittelpunkt zu Grabe getragen hat, geht es Adèle wieder gut, anders gut, wie angesichts der untröstlichen Trauer präzisiert werden muss.

Wenn Adèle van Reeth nur zu sagen hätte, dass Literatur und Philosophie nicht trösten können, aber es Menschen schaffen, nach einem Abschied von einem geliebten Menschen trotz der Trauer weiterzuleben, dann könnte man auf die Lektüre von Inconsolable (2023) sicherlich verzichten. Das ist schon unzählige Male geschrieben worden, das weiß sie selbst. Eine solche Vereinfachung würde dem Roman deshalb auch nicht gerecht. Die Autorin hebt die eigenen Erfahrungen auf ein höheres Abstraktionsniveau, was wirklich interessant ist. Aus ihrem eigenen untröstlichen Gemütszustand leitet sie ab, dass Menschen nicht getröstet werden können, weil sie Menschen sind, ja weil das Untröstliche zur menschlichen Natur gehört: „Inconsolables, nous le sommes par nature parce que nous ne savons pas ce qui nous manque, et nous pensons ne pas pouvoir vivre avec ce manque“ (dt.: „Untröstlich sind wir von Natur aus, weil wir nicht wissen, was uns fehlt, und wir glauben, mit diesem Mangel nicht leben zu können“). Der Mensch fühlt Zeit seines Lebens, dass ihm etwas fehlt, ohne dass er dieses fehlende Puzzleteil als solches benennen könnte. Van Reeth führt diese Überlegung weiter, denn sie glaubt, die Antwort zu kennen: Für sie verbirgt sich hinter der Tatsache, keinen Trost zu finden, letzten Endes der Mangel an Ewigkeit. Der Mensch ist sterblich, er wird zu Staub – und gerade darin liegt die Trostlosigkeit! Das ist die zweite Dimension der Bedeutung des Titels Inconsolable, die über die individuelle Erfahrungsebene hinausgeht.

Das ist für die Autorin jedoch keine schlechte Nachricht. Untröstlich zu sein öffnet die Tür dafür, nicht bloß zu überleben, sondern wirklich zu leben, buchstäblich die Lust zu leben zum Leben zu erwecken. Den Motor für das Leben in der eigenen Endlichkeit zu erblicken, dafür plädiert Adèle van Reeth – auch nach dem Verlust eines geliebten Menschen. So stiftet sie für sich einen Sinn zwischen Muttermilch und Tinte.

Das sind also die Hauptlinien von Inconsolable, diesem in einer absolut klaren Prosa geschriebenen Roman, der sich wirklich ohne Unterbrechung an einem Nachmittag im November lesen lässt. Er hat mich nachdenklich gemacht und mich berührt.

Nach der Lektüre stellen sich sicherlich die Fragen, ob das Ganze wirklich innovativ ist und ob es überzeugt. Ohne in philosophische Spitzfindigkeiten zu verfallen, scheint mir die Grundlosigkeit, die Kontingenz der menschlichen Existenz nach Nietzsches Verkündung vom Tod Gottes, nach dem atheistischen Existentialismus in Frankreich nichts wirklich Neues zu sein. Auch Camus’ Sisyphos lebt in einer absurden Welt, in der der Tod das letzte Wort hat – und zwar glücklich, wenn wir dem Philosophen Glauben schenken mögen. Der Mangel an Ewigkeit erhält in van Reeths Roman bloß ein neues Gewand. Sie zieht ihm ganz einfach das Gewand der unstillbaren Trauer über. Das liest sich zwar gut, ist aber letztlich doch wenig originell. Mit einer klaren Leseempfehlung tue ich mich deshalb schwer. Ob das überzeugend ist, muss wohl jeder für sich selbst beantworten. Eines scheint mir aber sicher: keine Zeit scheint mir besser dafür geeignet, den Spuren der Sehnsucht nach Ewigkeit im menschlichen Herzen nachzugehen, als die kalte Jahreszeit.

Adèle van Reeth: Inconsolable, Paris: Gallimard 2023, 198S.


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