Henri Mitterand ist in Deutschland allen voran Literaturwissenschaftler:innen bekannt. Sein Name ist untrennbar mit dem französischen Schriftsteller Émile Zola verbunden. Er ist Herausgeber der umfassenden Pléiade-Gesamtausgabe der Rougon-Macquart (1960-1964), der Taschenbuchausgabe des Romanzyklus (1966-1970) und der einundzwanzigbändigen Ausgabe von Zolas Werken im Verlagshaus der Nouveau Monde Éditions (2002-2010). Das Projekt der Veröffentlichung von Zolas Correspondance (1975-1995) hat er initiiert. In seiner Karriere hat er an unzähligen Kolloquien teilgenommen und Zola gewidmete Dissertationen betreut, unter anderem die der zu der Riege der anerkannten Zolaforscher zählenden Philippe Hamon und Alain Pagès. Last but not least ist Mitterand als Zolabiograph in Erscheinung getreten. Wie kein anderer Literaturwissenschaftler hat er also entscheidend dazu beigetragen, Zola, der zu Beginn der 1950er Jahre mit wenigen Ausnahmen in der Forschung ein unbeschriebenes Blatt gewesen ist, fest im wissenschaftlichen Feld Frankreichs und Nordamerikas zu verankern. Mehrere Generationen von Wissenschaftlern hat Mitterand darüber hinaus geformt, nicht zuletzt Clive Thomas, der den zu besprechenden Interviewband redigiert hat.
In vier im Sommer 2019 entstandenen Gesprächen wirft Clive Thomas, Literaturprofessor und Psychoanalytiker aus Kanada, gemeinsam mit Henri Mitterand einen facettenreichen Blick auf dessen Leben. Zusammen zeichnen sie nicht nur das Porträt eines Forscherlebens, das in einem kleinen Dorf Frankreichs beginnt und den Bildungsaufsteiger Mitterand aus der Provinz in die hypokhâgne zunächst nach Dijon, dann in die khâgne nach Paris, an die ENS und nach seinem Studienabschluss schließlich an zahlreiche internationale Universitäten führt, sondern ebenfalls das des verheirateten Privatmenschen Henri. Der zweifache Vater und Großvater – vielleicht auch Urgroßvater, dies wird nicht ganz einsichtig – ist ein Familienmensch, was die in den Text eingeschobenen Fotos bezeugen. Zu den privaten einschneidenden Erlebnissen zählt der Verlust seiner Tochter. In warmen Tönen spricht Mitterand ebenfalls von seinen Eltern, Onkeln und Tanten, die sich stets für seine Forschungsarbeit interessiert und ihn unterstützt haben.
Verwoben ist die Lebensgeschichte von Mitterand, wie sollte es anders sein, mit der des 20. Jahrhunderts. Zwischen den beiden Weltkriegen geboren, wächst Mitterand stets mit der Erinnerung an die Kriegsgewalten auf, weil sein Vater als Soldat verletzt und in Gefangenschaft genommen wurde. Auch die 1968er sind Gegenstand der Gespräche zwischen Thomas und Mitterand. Die daraus hervorgehenden Transformationen des Universitätswesens äußern sich in der Entstehung der Reformuni de Vincennes, aus der später Paris 8 wird. Dort ist Mitterand, wie auch die renommierten Kollegen Michel Foucault und Hélène Cixous, zwischenzeitlich tätig. Seine weiteren Stationen führen ihn an die Sorbonne Nouvelle, für Gastprofessuren nach Toronto und schließlich als französischer Emeritus an die Columbia-Universität in New York.
Für uns Literaturwissenschaftler ist sicherlich besonders spannend zu verfolgen, wie sich in Mitterands gesamtem Wirken der ,Forschungskampf‘ der literaturwissenschaftlichen Paradigmen zwischen externer (Marxismus) und immanenter (nouvelle critique) Lektürepraktik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt. Hinsichtlich des eigenen Forschungsansatzes werden der Marxist Louis Althusser und die Vertreter der nouvelle critique gerade nicht gegeneinander ausgespielt, sondern zu theoretischen Weggefährten für Mitterand, um eine eigene Form der critique génétique und der sociocritique zu entwickeln, die, worauf er in seinen Studien stets aufmerksam macht, letzten Endes eine sociosemiocritique ist.
Den Leser interessiert natürlich besonders, was Mitterands Begeisterung für Zola entfachte, was ihn darin bestärkt hat, Zola einige seiner Geheimnisse zu entlocken. Zunächst habe er als fünfzehn- oder sechzehnjähriger Schüler Germinal, L’Assommoir und La Curée gelesen und geglaubt „qu’on va comprendre le monde avec ça !“ („dass man damit die Welt verstehen könnte“). Im Rahmen der typischen Etappen auf dem Weg zur Unikarriere (maîtrise und agrégation) habe er durch ein Forschungsstipendium der Fondation Thiers schließlich eine Dissertation über die Sprache Zolas aus linguistischer Perspektive begonnen. Gelangweilt von seinem Thema habe erst das Treffen mit Zolas Sohn Jacques Émile-Zola die Begeisterung in Mitterand entfacht. Vor ihm schließt sich plötzlich ein nahezu unentdecktes Universum an Manuskripten auf, zu dem der Originalbrief „J’accuse“, an den Präsidenten Félix Faure adressiert, gehört. Die in der B.N.F gelagerten Romanmanuskripte entpuppen sich als Tresor für den jungen Forscher. Mitterand hat die Konversion vom Linguisten zum Literaturwissenschaftler dank Émile Zolas Familie vollzogen. Sie sind es auch, die Mitterand dem Verlag Gallimard für die Pléiade-Ausgabe vorschlagen. Das akquirierte soziale Kapital trägt Früchte!
Von großem Interesse ist der gemeinsam geworfene Blick auf das Leben von Henri Mitterand außerdem für Forscher:innen, die sich mit Bildungsaufstiegen beschäftigen. Der talentierte Henri, das wird an vielen Stellen deutlich, dessen Vater zunächst Schuhmacher, schließlich Bahnarbeiter und dessen Mutter Schneiderin gewesen ist, verdankt seine Karriere nicht zuletzt Mentoren, die den Jungen ermutigt haben, seine Schullaufbahn stets fortzusetzen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei seinen Lehrern zu, die ihn dazu bewegen, sich an der khâgne einzuschreiben. „L’institution fabrique des chances“ („die Institution schafft Gelegenheiten“), konstatiert Mitterand. Zu den „coups de chance“ zählt insbesondere die Bekanntschaft mit Zolas Sohn. Aus dieser Begegnung spinnt sich, wie bereits erwähnt, eine lebenslange Begeisterung für Émile Zola. Der Rest ist Erfolgsgeschichte.
Clive Thomson (2021): On croit comprendre le monde avec ça ! Entretiens mémoriels avec Henri Mitterand. Neuilly: Atlande, 237 S.
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