Wo kauft man eigentlich Groschenromane?

Nach Annie Ernaux und Édouard Louis hat nun auch Didier Eribon mit "Vie, vieillesse et mort d'une femme du peuple" ein Buch über seine Mutter geschrieben und kreist doch immer wieder nur um sich selbst

Veröffentlicht am
19.3.2024
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Dass der Soziologe Didier Eribon auch acht Jahre nach dem Erscheinen von Rückkehr nach Reims hierzulande immer noch zu den wichtigsten intellektuellen Stimmen Frankreichs gehört, konnte diese Woche einmal mehr beobachtet werden. Schon in derselben Woche, in der sein jüngstes Werk Die Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben, also die deutsche Übersetzung von Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple (2023) in den Buchhandel kommt, haben bereits alle großen Zeitungen sowie sämtliche Kulturmagazine darüber berichtet. Ein Auftritt auf der Lit.Cologne fand vor ausverkauften Rängen statt. Mit so viel euphorischer Aufmerksamkeit begegnet das deutsche Kulturvolk sonst nur Michel Houellebecq, was einigermaßen ironisch anmutet, wenn man bedenkt, dass zwischen den beiden Landsmännern ganze politische Universen liegen. Das vordergründige Thema, um das es in Eribons erneut autosoziobiografisch fundiertem Buch geht, ist das Alter bzw. das Altern, womit er in Zeiten des demografischen Wandels ein durch und durch relevantes Problem anpackt. Obwohl Soziologe im Hauptberuf, stützt sich Eribon jedoch nicht auf sperriges empirisches Material, sondern schreibt über den letzten Abschnitt im Leben des Menschen, indem er sich auf die Lebensgeschichte seiner Mutter stützt, die wir bereits in Rückkehr nach Reims als überzeugte FN-Wählerin kennengelernt haben und die kurz nach ihrem Umzug in ein staatliches Altenheim im Alter von 87 Jahren verstorben ist. Wie in Retour à Reims nimmt Eribon den Tod eines Elternteils zum Anlass, um über das soziale Elend der ehemaligen Arbeiterklasse in Zeiten des neoliberalen Zeitgeists zu schreiben. Doch ebenso wenig, wie Retour à Reims ein Buch über den verstorbenen Vater war, ist Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple ein Buch über Eribons Mutter. Beide, Vater und Mutter, die bezeichnenderweise namenlos bleiben, dienen eher als Vorwand, um über gesellschaftliche Schieflagen zu sprechen, was durchaus legitim ist. Auch Annie Ernaux hat auf unpersönliche Weise sehr persönlich über das Schicksal der vom postindustriellen Fortschritt Vergessenen geschrieben und dafür einen Nobelpreis bekommen. Aber noch für einen zweiten Zweck müssen Eribons Eltern, die sich dagegen nicht (mehr) wehren können, herhalten: Sie dienen dem arrivierten Intellektuellen dazu, einmal mehr seinen eigenen Werdegang aus einfachen Verhältnissen darzustellen – man nennt dieses Textformat in der Literaturwissenschaft etwas umständlich Autosoziobiografie. Es geht also um das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte im Schatten gesamtgesellschaftlicher Machtstrukturen. Im Jahr 2009, als Retour à Reims, in Frankreich erschienen ist, war dieser Mix aus Autobiografie und soziologischer Studie noch relativ neu. Man war beeindruckt, von dem was Eribon erzählte und auch davon, wie er es erzählte. Seit dieser Zeit sind nun eine Reihe weiterer solcher soziologisch informierter Memoirs und Autofiktionen erschienen, man denke an die Werke von Eribons Schüler und Freund Édouard Louis, man denke an Christian Baron, Deniz Ohde oder Daniela Dröscher. In all diesen Werken geht es um Herkunft, schwierige Lebenswege und Erfahrungen sozialer Scham – und es geht sehr oft um die Mütter der Erzählenden. Wir kennen mittlerweile Louis’ resolute Mutter Monique, die nach Jahren der Demütigung ihren Mann Jackie verlassen hat, wir kennen Daniela Dröschers fettleibige Mutter, die ebenfalls unter den Beleidigungen ihres Gatten leiden musste und wir kennen die viel zu früh verstorbene Mutter von Christian Baron, die ihrer Schwester kurz vor ihrem Tod die Erziehung ihrer Söhne anvertraut hat. Nun legt also Eribon nach. Anders jedoch als der Titel Die Arbeiterin suggeriert, nimmt die Geschichte der Mutter nur wenig Platz ein in diesem immerhin 326 Seiten langen Buch (die deutsche Übersetzung kommt mit 272 Seiten aus). Um die Mutter als Protagonistin geht es nur im ersten Drittel des Buches, während der Rest doch eher aus Introspektionen besteht, die sehr stark an Rückkehr nach Reims erinnern. Doch der Reihe nach.

Der vielleicht wichtigste Satz in Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple steht auf Seite 170: „Ainsi donc, j’étais resté malgré tout un fils […], mais j’étais, à n’en pas douter, un bien mauvais fils.“ („So blieb ich trotz allem ein Sohn […], aber ich war, daran besteht kein Zweifel, ein ziemlich schlechter Sohn.“). Warum ist dieser Satz so wichtig mit Blick auf den Rest des Buches? Zum einen fällt auf, dass gleich zweimal auf sehr engem Raum die erste Person Singular auftaucht, während die eigentliche Hauptfigur der Biografie, also Eribons Mutter, hier nur indirekt durch das ebenfalls zweimal auftauchende „fils“ erwähnt wird. Dass Eribon sich hier selbst als „schlechten Sohn“ darstellt, mag als Fishing-for-Compliments-Strategie aufgefasst werden – nein, nein, so schlecht bist du doch gar nicht! Allerdings beschreibt der 70-jährige Soziologie nur wenige Seiten zuvor, dass er nicht zur Beerdigung seiner Mutter gegangen sei, weil diese in ihrem letzten Willen verfügt hatte, dass ihre Asche von einem Priester gesegnet werden sollte. Da Eribon darauf keine Lust hatte – „A quoi bon m’y rendre?“ („Wofür sollte es gut sein, dorthin zu gehen?“) –, ist er nicht hingegangen. Die einzige Beerdigung, die er jemals besucht habe, sei die von Bourdieu gewesen. Okay, das nennt man dann wohl Prioritäten setzen.

Für jemanden, dessen Mutter ebenfalls aus der Arbeiterklasse stammt und der sich schon seit Jahren um seine über 80-jährigen Eltern kümmert, haben solche Sätze das Potenzial, regelrechte Empörungswellen auszulösen. Daher soll es in dieser Rezension weniger um die von Eribon in gewohnter Offenheit vorgetragenen familiären Verwerfungen gehen, als um die Qualität des Buches mit Blick auf seine selbst gesteckten Anliegen. Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple wurde in den Ankündigungen als „hochpolitisches Buch“ über das Altern in den westlichen Gesellschaften vermarktet, das sich sowohl philosophisch als auch soziologisch unterfüttert mit dem Leben und Altern der ‚einfachen Menschen‘ auseinandersetzt. Eribon erzählt jedoch das „Leben“ seiner eigenen Mutter in nur ein paar wenigen Zeilen (S. 143-144): Sie ist als ungewolltes Waisenkind aufgewachsen, musste schon mit 14 als Hausmädchen arbeiten und hat danach fast ihr ganzes Leben als Fabrikarbeiterin und Hausfrau verbracht. Noch dazu war sie 55 Jahre lang mit einem Mann verheiratet, den sie nicht geliebt hat. Eribon lässt nur eine Schlussfolgerung zu: „Ma mère a été malheureuse toute sa vie“ („Meine Mutter war ihr ganzes Leben lang unglücklich“). Damit ist die Kategorie „Leben der Arbeiterin“ schnell abgehakt. Dem „Altern und Sterben“ räumt Eribon mehr Raum ein, und diese Passagen zu Beginn des Buchs gehören auch gleichzeitig zu den gelungensten: Der Einzug ins Altenheim, also in die letzte Wohnstätte alter Menschen, das schnelle Sterben einer Frau, die sich aufgegeben hat. All das wird eindringlich erzählt, und auch die Kritik am französischen Pflegesystem, der ewige Personalmangel und das politische Desinteresse an alten Menschen bleiben nicht unerwähnt. Aber diese Passagen nehmen gerade mal ein Drittel des Textes ein.

Die zahlreichen Rezensionen der deutschen Übersetzung sind fast durchgehend positiv bis hymnisch (FAZ, FAS, SZ, DLF). Von einem „berührenden und aufrüttelnden“ (NDR) Buch ist die Rede, von einem „dieser selten klugen Bücher, die aus einer Notwendigkeit heraus entstehen und die gelesen werden müssen“ (SRF). Man muss sich bei solchen Urteilen tatsächlich fragen, ob die Kritiker und Kritikerinnen nur dieses eine Buch von Eribon gelesen haben. Dann ließe sich womöglich noch die kollektive Begeisterung nachvollziehen, da Eribon tatsächlich gut schreibt und Diskussionen zu relevanten Themen anstößt. Wenn man aber Retour à Reims und La société comme verdict (dt. Gesellschaft als Urteil) gelesen hat, muss man sich schon fragen: Was erzählt Eribon in seinem jüngsten Buch wirklich Neues? Die ernüchternde Antwort: Nicht viel. Das liegt vor allem an Sätzen wie dem eben zitierten: Eribon erzählt eigentlich nicht viel über seine Mutter, dafür umso mehr über sich selbst, was auch Guido Kalberer von der NZZ aufgefallen ist: „Eribon hat mit ‚Eine Arbeiterin‘ ein lesenswertes Buch geschrieben, das mehr über den Aufsteiger aus dem Arbeitermilieu aussagt als über die Arbeiterin selbst.“ David Hugendick geht in der ZEIT noch einen Schritt weiter und spricht vom „eigenen biografischen Kreisverkehr“, aus dem die Texte Eribons einfach nicht (mehr) herauskommen. Dieses Bild trifft es sehr gut, da Eribon selbst dort, wo seine Mutter mal kurz die Rolle der Hauptfigur spielen darf, schnell wieder auf seine eigenen Befindlichkeiten zu sprechen kommt, die von ihrem Verhalten getriggert werden: Sie muss Werbeprospekte austragen, um ihr schmales Gehalt aufzubessern, er schämt sich dafür. Ob sie sich vielleicht auch für diesen wenig glamourösen Nebenjob schämt, fragt er sich nicht. Sie liest am liebsten Groschenromane, triviale Geschichten von der großen Liebe. Als er sich nach ihrem Tod fragt, wie eine solche Geschichte wohl geschrieben sei, weckt das kurz seine Neugier, und dann kommt dieser Satz: „Au fond, j’aurais envie d’en lire un ou deux. Pour savoir ce que ce sont les ‚conneries‘ qu’ils contiennent.“ („Im Grunde hätte ich mal Lust einen oder zwei zu lesen. Um zu wissen, was in diesen ‚Schmonzetten‘ drinsteht“). Ja, möchte man ihm zurufen, dann besorg’ dir doch eine! Aber: „Mais où les acheter, puisque je ne vais jamais dans ces hypermarchés où je sais maintenant qu’elle en faisait provision, quand elle allait y faire ses courses, quand elle pouvait encore se déplacer?” („Aber wo sie kaufen, da ich ja nie in diese großen Supermärkte gehe, wo sie sie sich – wie ich heute weiß – beschafft hat, wenn sie dort ihre Einkäufe machte, als sie noch mobil war?“). Hier hätte sich Eribon durchaus von Annie Ernaux beraten lassen können, die ihr ganzes Leben lang in solchen Hypermarchés eingekauft hat. Um vermutlich nicht ganz als lebensfremder Geistesmensch zu erscheinen, hat Eribon diesem Beschaffungsproblem noch eine eigene Fußnote hinzugefügt, in der er stolz verkündet, dass er nun herausgefunden habe, dass man solche „conneries“ auch im Internet bestellen kann, doch sei seine Leselust dann doch nicht groß genug gewesen, um einen Bestellvorgang einzuleiten. Diese reichlich kuriose Szene steht stellvertretend für ein enormes Defizit dieses Buchs – und eigentlich auch der Vorgängerbücher: Eribon speist sein gesamtes Wissen über die ‚einfachen Leute‘ einzig aus seiner eigenen Vergangenheit, die ungefähr zu Beginn der 1980er Jahre endete. Ein Interesse, sich mit den aktuellen Problemen der classes populaires auseinanderzusetzen, tatsächlich „ins Feld zu gehen“, wie es sein Lehrer Bourdieu stets getan hat, lässt sich bei Eribon nicht erkennen. Das lässt sich auch daran ablesen, dass neben der Mutter auch seine Brüder als prototypische Vertreter dieses Milieu herhalten müssen, die von Eribon – wie schon in Rückkehr nach Reims – als sexistische und rassistische Idioten vorgeführt werden. An diesen Stellen ist man als Leser nicht nur angesichts des familiären Sozialvoyeurismus peinlich berührt, sondern man hätte auch ein bisschen mehr Klassenempathie erwartet von jemandem, der sich stets als engagierter „porte-parole“ der alten Arbeiterklasse inszeniert.

Die beiden französischen Soziologen Claude Grignon und Jean-Claude Passeron haben bereits 1989 eine beachtenswerte Studie geschrieben mit dem Titel Le Savant et le populaire. Misérabilisme et populisme en sociologie et en littérature, die bislang leider noch nicht ins Deutsche übertragen wurde. Darin untersuchen sie, wie in der Soziologie und Literatur über die unteren Schichten gesprochen bzw. geschrieben wird. Die beiden Wissenschaftler machen zwei Tendenzen aus, die sie sowohl in literarischen Texten als auch in wissenschaftlichen Studien beobachten. Einerseits begegnet einem manchmal ein Hang zum Populismus, wozu die beiden grob gesagt das Bild des „edlen Proletariers“ zählen, also die Armen, die trotz ihren Miseren noch das Herz am rechten Fleck haben. Eine zweite Schieflage erkennen Grignon und Passeron im Miserabilismus, der darin besteht, das Leben der Arbeiter als noch schlimmer, dumpfer und grausamer zu beschreiben als es tatsächlich ist. Im Hinblick auf die untersuchten Felder – Wissenschaft und Literatur – kann man sagen, dass Eribons Werke sich weder ganz dem einen noch dem anderen zuordnen lassen. Klarer wird die Zuordnung mit Blick auf die beiden beschriebenen Phänomene: Hier muss Eribon leider eher der Seite des Miserabilismus zugerechnet werden. Er selbst würde diesem Vorwurf möglicherweise entgegentreten, indem er versichert, dass alles, was er beschreibt, auch wirklich genau so gewesen sei – Stichwort Authentizität. Sein Schüler Édouard Louis musste sich bereits ähnlichen Vorhaltungen stellen. Ja, das mag so sein, dass das schreibende Individuum all das tatsächlich so erlebt hat. Literatur darf subjektiv sein, niemand möchte das in Frage stellen! Aber vor allem Eribon erhebt ja mit seinen Werken immer wieder den Anspruch, dass seine eigenen Erfahrungen als stellvertretend für allgemeine gesellschaftliche Problemlagen zu verstehen seien, schließlich schreibe er ja keine Romane. Hier aber müsste der Soziologe Eribon deutlich mehr Sorgfalt walten lassen und sich öfters mal von seinen eigenen Vorstellungen lösen. Partizipierende Objektivierung hat Bourdieu das genannt, was bedeutet, seine eigene Situiertheit bei den Analysen stets mitzudenken. Seinem Schüler Eribon gelingt das nur sehr bedingt: hier wäre weniger Partizipation und stattdessen mehr Objektivierung besser gewesen.

Didier Eribon: Vie, vieillesse et mort d'une femme du peuple, Paris: Flammarion 2023, 336 S. In der Übersetzung von Sonja Finck unter dem Titel Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben erschienen im Suhrkamp Verlag.

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