Ein jeder hat wohl schon einmal die Erfahrung gemacht, dass sie stimmt, diese zum Allgemeinplatz gewordene Behauptung: Kunstwerke, zumindest die guten, die besten vielleicht, strahlen wirklich eine Aura aus. Eine Aura, die bezaubert, die innerlich etwas berührt, etwas, für das man vorher keine Worte hatte, vielleicht nie Worte finden wird. Wer kennt nicht die Verlangsamung der Zeit, das Eintauchen in eine andere Welt, wenn man sich in den heiligen Hallen großer Kunstwerke bewegt, den Museen, die mitunter selbst eine ganz eigene Aura besitzen? Man denke an die Uffizien in Rom, die Eremitage in Sankt Petersburg oder ja, den Louvre. Genau dieser Ort, der Louvre, ist Dreh- und Angelpunkt des liebevollen und zärtlichen Essays Comme un ciel en nous (Stock 2021) von Jakuta Alikavazovic. Dort in der Section des Antiques der Salle des Caryatides, verbringt die Autorin die Nacht vom 7. auf den 8. März 2020, kurz bevor sich die Welt für immer verändern wird, allein. Eingeladen wurde sie von den Herausgebern der bei Stock erscheinenden Reihe „Ma nuit au musée“, zu der bislang u.a. auch Kamel Daoud, Bernard Chambaz und Leïla Slimani einen Band beigesteuert haben. Schon für sich genommen böte dieses Selbstexperiment genug Stoff für ein Buch – es ist schließlich der Louvre! Wer wüsste nicht gerne, wer die Joconde, die Mona Lisa, bewacht? Ob es dort nachts wirklich so zugeht wie im Film oder beliebten TV-Serien à la Lupin?
Aber Alikavazovic geht es nicht um die Entschlüsselung dieses ikonischen Ortes, nicht nur zumindest. „Je suis venue ici cette nuit pour redevenir la fille de mon père“, schreibt sie direkt zu Beginn des Buches – um wieder die Tochter ihres Vaters zu werden, ist sie gekommen. Um zurückzureisen in die Zeit, als er sie auf seinen langen Streifzügen durch die Gänge des Louvres mitnahm, sie dort gemeinsam die Menschenmengen beobachteten, die Kunstwerke bestaunten, Geschichten erfanden.
„Le Louvre est la première ville française où je me suis senti chez moi“ – dass der Louvre die erste französische Stadt gewesen sei, in der er sich ganz bei sich gefühlt habe, sagte der Vater, der erst im Alter von zwanzig Jahren von Montenegro nach Paris gekommen war. Der Louvre – eine Welt, in die er sich flüchtete, zu der er aber nie ganz dazugehörte, der Vater, der sich immer mit seinem Akzent verriet und den perfekten bourgeoisen Kunstkenner immer nur darstellen konnte wie im Spiel, als hätte er sich einen schicken Mantel übergeworfen. Zwischen den Kunstwerken der Antike und der Renaissance fand er ein selbstgewähltes Exil im Exil, sein Exil in der Kunst. Alikavazovics Essay ist somit vor allem die Rückkehr einer Tochter zu ihren Ursprüngen, eine Reise zurück in eine selbst geschaffene Heimat, die immer schon eine imaginierte war.
Alikavazovic versucht nun rund dreißig Jahre später diesen Ort in der Nacht im Museum mit den Augen ihres Vaters zu sehen. Selten liest man Texte über Kunst, die mit einer solchen Eleganz und Sinnlichkeit geschrieben sind. So heißt es über den schlafenden Hermaphroditen: „On s’arrête à la figure troublante, masculine et féminine, à son repos charnel, pied posé sur le mollet; on se demande quels désirs animent en secret cette pierre froide qui bande (…).“ In der Nacht schläft sie unter der wohl bekanntesten Skulptur der Welt, der Venus von Milo, in einem Schlafsack; im Dunkeln sieht die Skulptur aus wie eine Wolke, „un nuage à la vague forme de femme, comme il en passe parfois dans le ciel.“ Sie schreibt über die beruhigende Ausstrahlung von Edward Hopper-Gemälden, von der Spiegelung des Himmels in den Installationen Robert Smithsons, von den „tours et détours“ der Spiral Jetty. Alles Seherlebnisse, die andere, persönliche Erlebnisse nach sich ziehen, Erinnerungen, Reflexionen evozieren, alles, ja man möchte sagen, persönliche Begegnungen, die mit ihr selbst zu tun haben. Selten liest man Texte, in denen Kunst so nah an ein Ich herankommt, Kunst mit so viel Gefühl verbunden ist. Alles hat hier buchstäblich mit allem zu tun.
Ihre Sprache ist auf jeder Seite rhythmisch, kreisend und schwebend, sie arbeitet mit Wiederholungen, sodass einzelne Sätze und Themen aufblitzen wie Sternbilder in einem tiefblauen Nachthimmel, Satelliten im Orbit. Meditation ist hier wohl das Wort, das das Genre des Textes am besten greift. Schon nach wenigen Seiten entwickelt er so selbst eine ganz eigene Aura, mystisch und bezaubernd. Die Kunstwerke stehen dabei immer für das Gefühl des Berührtwerdens – von der Geschichte, der Zeit, ihrer Zeitlosigkeit? Alikavazovics Stärke liegt darin, dass sie uns näherbringt, was und wie Kunst tatsächlich eine Verbindung herstellt über Epochen, über Ländergrenzen hinweg. Sie schafft es in ihrer poetischen Sprache genau das Gefühl einzufangen, das entstehen kann, wenn man Kunst betrachtet, mitunter von Kunst überwältigt wird. Sie zeigt, wie diese Betrachtung von Kunst für ihren Vater zu einem Refugium wurde, so wie für sie, die Tochter, selbst auch das Schreiben zu einer Art eigenem Raum geworden ist. Genau hier, im Louvre, treffen beide Räume nun aufeinander.
De quoi parle-t-on lorsqu'on parle d’art? – Von was reden wir, wenn wir über Kunst sprechen? Alikavazovic findet eine vielschichtige, eine persönliche und zärtliche Antwort: „Il faudrait, je suppose, commencer par l’amour. Un sentiment comme un ciel en nous.“ Es ist die Liebe zwischen einem Vater und einer Tochter, die Liebe zur Kunst, die Liebe zum Leben vielleicht, seinen Zufällen und Irrwegen, ein Gefühl wie ein Himmel in uns, davon sprechen wir. Oder zumindest sollten wir das tun. De quoi parle-t-on lorsqu’on parle d’art? Wir sprechen von einem herausgeschälten Stück von dem, was uns umgibt, für die Ewigkeit festgehalten. Genau dies tut dieses Buch. Und so hat Jakuta Alikavazovic mit Comme un ciel en nous zweifellos ein poetisches Denkmal für einen Vater geschaffen, der nirgendwo mehr zuhause war als in der Kunst des Louvre.
Der Essay wurde in diesem Jahr mit dem Prix Médicis Essai ausgezeichnet und ist bislang ausschließlich auf Französisch erhältlich.
Jakuta Alikavazovic: Comme un ciel en nous, Paris: Stock 2021, 150 S.
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