Einmal Junggeselle, immer Junggeselle? – Analoges Papiertinder im bäuerlichen Milieu

Marie-Hélène Lafon erzählt, wie eine Kontaktanzeige das soziale Schicksal des bäuerlichen Lebens in der Provinz auf den Kopf stellt.

Veröffentlicht am
20.9.2021
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Marie-Hélène Lafon ist im besten Sinne „bourdieusifiziert“. Dieses Eindrucks kann man sich zumindest nicht erwehren, wenn man die letzte der rund 151 Romanseiten von L’Annonce (2009) gelesen und das einfühlsame Porträt des Landwirtlebens in der französischen Provinz begeistert zur Seite gelegt hat. In seiner ethnosoziologischen Aufsatzsammlung Le bal des célibataires (2002, dt.: Junggesellenball (2002)) hatte der französische Soziologe Pierre Bourdieu in drei Einzelstudien (1962, 1972, 1989), jeweils mit einem theoretisch geschärfteren Inventar ausgerüstet, das Problem der Ehelosigkeit der Landwirte in seiner ruralen Heimat im Béarn analysiert. Hinter dem Junggesellendasein einer Vielzahl von jungen Agrarökonomen steht, so Bourdieu (2002: 236), eine verräterische Wahrheit: Die Landwirtsfamilien wünschen sich für ihre Töchter nicht das Kräfte zehrende Leben auf dem Hof, an das sie insbesondere ihre Söhne als (spätere) Erben binden. Pointiert gesagt wollen sie ihre Töchter nicht (länger) mit den Landwirtssöhnen vermählen, die vor dem Ersten Weltkrieg noch eine ansehnliche Partie waren. Stattdessen schicken die Familien ihre Töchter in die Schulen, lassen sie einen Beruf in der Stadt ergreifen und dort einen Lebenspartner finden (vgl. ebd.). Der elterliche Hof gleicht damit einem Marterpfahl, an den die Landwirtssöhne zeitlebens gekettet und folglich zur Ehelosigkeit verdammt sind. Die Eltern selbst werden so zu den Komplizen des Singleschicksals ihrer Söhne und verunmöglichen im Extremfall schließlich den patriarlinearen Fortbestand von Haus und Hof. Einmal Junggeselle? Immer Junggeselle! Eine persönliche und eindrückliche Erinnerung an dieses Schicksal gewährt Bourdieu selbst, als er von einem alten Schulfreund berichtet, der gemeinsam mit seiner Mutter zurückgezogen auf seinem Hof lebt. Dessen Warmherzigkeit, Treue und Familiensinn lassen sich angesichts der Ehelosigkeit einzig und allein an den Stalltüren ablesen, auf denen die weiblichen Namen und Geburtsdaten seiner Rinder notiert sind.

Einmal Junggeselle, immer Junggeselle? Wie diesem sozialen Schicksal entkommen? Es scheint, als verhandle Marie-Hélène Lafon, von Bourdieus Studie beeinflusst, diese Frage auf literarische Weise: So entscheidet sich ihr 46-jähriger Protagonist Paul, der auf einem Bauernhof in Fridières (eineinviertel Autostunden südlich von Clermont-Ferrand gelegen) gemeinsam mit seinen beiden Junggesellenonkeln Louis und Pierre sowie seiner ledigen Schwester Nicole lebt, gegen das soziale Schicksal aufzubegehren: Auf der Suche nach einer Partnerin gibt er eine Zeitungsannonce auf. Darauf antwortet schließlich die 37-jährige alleinerziehende Mutter, (Ex-)Fabrikarbeiterin und (Ex-)Kassiererin Annette, die in Bailleul im höchsten Norden Frankreichs versucht, sich und ihren 11-jährigen Sohn Éric über Wasser zu halten, nachdem der chronisch straffällige Alkoholikervater ihres Kindes eine Reise ins Gefängnis angetreten hat. Während sie im Zahnarztzimmer auf ihren Sohn wartet, liest sie die Kontaktanzeige und fühlt sich von dem Begriff „doux“ (dt.: „sanft“) sowie dem Beruf „agriculteur“ (dt.: „Landwirt“) angesprochen, sodass sie Paul eine Nachricht schickt. Annette und Éric ziehen nach zahllosen Telefonaten und zwei persönlichen Treffen auf halber Strecke schließlich zu Paul auf den Hof, was mit facettenreichen Reaktionen seiner Familie, die zwischen Belustigung, Spott und Zorn variieren, quittiert wird.

Als Leser ist man angetan von den liebevollen und gleichermaßen schroffen Protagonisten sowie ihren sozialen Schicksalen. So wird nicht ausschließlich die Ehelosigkeit zum Problem in den ruralen Regionen, wo die Arbeit das grundlegende Strukturelement darstellt. L’Annonce besticht außerdem durch das anschauliche Porträt der prekären Lebensverhältnisse der (Patchwork-)Landwirtsfamilie. Lafon erzählt, dass der körperlich harte Landwirtschaftsberuf kaum genug Geld einbringe, um das gemeinsame Leben zu bestreiten. Die ökonomische Situation der Bauernhofbewohner ist stets angespannt, ein Ausweg nicht in Sicht. Das Leben in Prekarität ist Annette von ihrer Jugend auf gewohnt, denn sie musste die Demütigungen der neoliberal umgebauten Gesellschaft in Nordfrankreich am eigenen Leib erfahren. Ihre unsicheren Lebensbedingungen sind durch Didier, den Vater ihres Sohnes, der Alkohol- und Gewaltexzessen frönt, noch einmal verschärft worden. Von ihm reißt sie sich schließlich los und wagt einen mutigen Lebensschritt. Nicoles Dasein in Fridières ist schließlich ein ebenso anschaulicher Fall von Prekarität, die die Folge eines verfrühten Ausstiegs aus dem Bildungssystem darstellt, denn sie hat keine Ausbildung abgeschlossen und keine Berufserfahrung. Vielleicht ist sie trotz ihrer alltagsrassistischen Äußerungen, zu denen sie sich häufig hinreißen lässt, sowie ihrer offen gelebten Aversion gegenüber den Neuankömmlingen auf dem Familienhof der Charakter, der den Leser nicht unberührt zurücklässt. Sie lebt ein Leben im Dienst für die kommunale Gemeinschaft: Für ihre Onkel und ihren Bruder übernimmt sie den Haushalt und rettet diese vor dem Verfall und dem „terrier ombreux“ (A: 37, dt.: „dunkle Höhle“). Der fast blinden Mimi Caté liest sie täglich bis zu ihrem Tod aus der Zeitung vor. Kurzum: Sie ist eine aufopferungsvolle private Pflegekraft für die betagten (alleinstehenden) Senioren aus der Region. Mit Paul, Louis und Pierre zusammen bilden die beiden Frauen das ,Quintett der Zurückgelassenen‘, das Lafon mit herzerwärmender Stimme porträtiert. Ihr gelingt es, der Verknüpfung der Lebenslinien, die die Protagonisten mittels ihres Willens und ihrer Kompromissbereitschaft vollziehen, Authentizität zu verleihen.

Insbesondere die Liebesgeschichte zwischen Paul und Annette überzeugt aufgrund der sanften Töne, in denen sie erzählt wird: Der Leser kann nicht anders, als dem vorsichtigen Vortasten der Protagonisten in Richtung des Anderen, das ihren leibhaftigen Ausgangspunkt in der Bewunderung Annettes von Pauls Händen und für Paul in der Sicherheit ihres klaren Blicks nimmt, Glauben zu schenken. Diese tastende Annäherung setzt sich auch nach dem Zusammenziehen auf dem Hof von Paul fort, etwa wenn Paul in die Mutter-Sohn-Gemeinschaft der Kreuzworträtsellöser aufgenommen wird. Langsamen Schrittes entsteht eine Liebesbeziehung, eine physisch, psychisch und geistig liebevolle Beziehung zwischen Paul und Annette, deren Entwicklung der Leser andächtig mitverfolgt. In der spätmodernen Leistungsgesellschaft, in der die Partnersuche den ökonomischen Imperativen eines stets besser passenden, attraktiveren, gebildeteren, athletischeren, mehr Geld verdienenden potentiellen Kandidaten unterworfen wird, ist diese Bereitschaft, sich auf den Anderen einzulassen, gleichermaßen Reflexionsstoff und Balsam für die nach Liebesglück suchende Leserseele.

Das generelle Landwirtsschicksal „Einmal Junggeselle, immer Junggeselle“ bestätigt sich in Lafons warmherzigem Sozioporträt ausnahmsweise nicht. Eindrücklich wird das Glück des Landwirts Paul in einer Szene lesbar, die sich letztlich als eine Replik auf Bourdieus Studie liest, die insbesondere seine Erinnerung im Licht ästhetischer Problembearbeitung auf den Kopf stellt. Im Unterschied zu Bourdieus altem, ledig gebliebenem Freund, der hingebungsvoll die Namen und die Geburtsdaten seiner Kühe auf die Stalltüren schreibt, ist es in L’Annonce Pauls Stiefsohn Éric, der auf den im Stall befestigten Schiefertäfelchen die Kuhnamen einritzt und so für alle verkündet: Einmal Junggeselle? Kein Junggeselle mehr!

Marie-Hélène Lafon: L'annonce, Paris: Buchet/Chastel 2019. Aus dem Französischen von Andrea Spingler, erschienen unter dem Titel Die Annonce bei Rotpunkt, Zürich 2020.

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