Mit dem zugegeben wenig schmeichelhaften Vorwurf, „homophobe“ und „épouvantable“ zu sein, weckte Didier Éribon anlässlich der Pariser Konferenz Raconter sa vie, raconter la société meine Neugier auf das mehr als 400 Seiten umfassende Buch Se ressaisir. Enquête autobiographique d’une transfuge de classe féministe, das Rose-Marie Lagrave im Februar 2021 veröffentlicht hat. Darin erzählt die emeritierte Soziologieprofessorin von ihrem sozialen Aufstieg, der sie aus der französischen Provinz auf eine Direktorenstelle an der EHESS geführt hat. Als Leser könnte man angesichts des Trends autosoziobiographischer Literatur geneigt sein zu denken, dass nun das nächste Werk vorliegt, das sich in die von Pierre Bourdieu und Annie Ernaux inaugurierte ,transfuge‘-Literatur einreiht, der Didier Éribon und Édouard Louis in den letzten Jahren, nicht ohne Ernaux ihre Hommage zu erweisen, bedeutende Beiträge hinzugefügt haben.
Mit der entwaffnenden Ehrlichkeit, „[c]e livre n’est donc ni une autobiographie, ni une auto-analyse“ (S. 10, dt.: „Dieses Buch ist weder eine Autobiographie noch eine Autoanalyse“), weist Lagrave diese Einordnung bereits zu Beginn von sich, wenngleich sie bekennt, diesen Pionierstudien ihre Anerkennung zu schulden. Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass sie den ,transfuge‘-Begriff für sich in Anspruch nimmt. Einen Hinweis auf ihren eigenen originellen Ansatz, über das persönliche Leben zu schreiben, liefert der Titel. Die Nominalgruppe „enquête autobiographique“ verdeutlicht eine methodische Akzentverschiebung gegenüber den Autosoziobiographien, wie sie von Ernaux, Éribon und Louis vorgelegt worden sind. Ihr Leben rekonstruiert sie vorwiegend nicht ausgehend von dem eigenen Gedächtnis, das beispielsweise durch die Betrachtung von Fotos angehalten wird, Erinnerungen auszuspucken, die anschließend soziologisch aufbereitet narrativiert werden können, wie Ernaux es tut. Stattdessen führt Lagrave eine soziologische Untersuchung durch, für die Interviews mit ihren Familienmitgliedern und Arbeitskolleg:innen, private Briefe, Archivmaterial über ihre Bildungslaufbahn in sämtlichen Institutionen und über ihre Lehrenden die Basis bieten, um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass sie der sozialen Reproduktion entkommen ist. Ihr Buch ist das Resultat dieses Forschungsprozesses.
Ungeachtet dieser arbeitstechnischen Verschiebung ist jedoch für Lagrave unbestritten, dass sie mit den autosoziobiographischen Werken die Zielsetzung teilt, ihren Aufstieg gegen alle Widerstände zum Trotz zu verstehen, das heißt, ihren Einzelfall zu kontextualisieren, das Besondere einzuordnen, das Spezifische vor dem Hintergrund der Zeit zu beleuchten. Im Rahmen ihrer minutiösen Rekonstruktion der einzelnen Schritte, die sie als Kind einer katholischen Großfamilie aus der ruralen Provinz schließlich an die EHESS geführt haben, ist sie nicht nur an der Erhellung ihres eigenen äußerst unwahrscheinlichen Werdegangs interessiert, sondern sie liefert darüber hinaus einen individuellen Beitrag zur Soziohistorie der Französischen Republik. Auch poetologisch bleibt sie der von Ernaux, Éribon und Louis adaptierten Programmatik Bourdieus treu, der bereits in den 1980er Jahren davor gewarnt hat, der „illusion biographique“ zu verfallen: Es könne gerade nicht darum gehen, das eigene Leben als einen intentionalen Entwurf zu rekonstruieren, der in den ersten Lebenserfahrungen schon teleologisch angelegt ist. Lagrave leistet darauf aufbauend keine lineare Rekonstruktion ihres Lebens, dessen Etappen mit Notwendigkeit zur Konsekration an der EHESS führen mussten. Dies klingt ebenfalls in dem Titel an: „Se réssaisir“ meint, sich als feministische ,transfuge‘ ausgehend von der sozialen Position als emeritierte Soziologieprofessorin hinter den bruchhaften Erlebnissen, den Zufällen des Lebens, die sie gemeistert hat, ,zurückzugewinnen‘. Es bedeutet, das Zusammentreffen von ihrem Habitus und dem Feld des Bildungssystem zu rekonstruieren, in dem ihr Habitus unerwarteterweise, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, fruchtbar wirken konnte.
Die soziologische Rekonstruktion ihrer Konsekration vollzieht sich nicht ohne Kritik an ihrem Mentor und Freund Pierre Bourdieu, an Didier Éribon und Édouard Louis, worin die Originalität ihres Beitrags zur ,transfuge‘-Literatur einmal mehr verdichtet wird. Laut Lagrave lassen deren Erzählungen (soziologisch) unberücksichtigt, was ihre Karriere in einer patriarchalischen Gesellschaft dem Privileg verdankt, selbst Mann zu sein. Demgegenüber beansprucht Lagrave ihren ,transfuge‘-Status intersektional(er) auszuloten, indem sie sowohl die sozialen Ursprünge als auch ihre Geschlechtlichkeit, ihrer sexuellen Orientierung inklusive untersucht.
Ihr Blick auf die eigenen familiären Ursprünge legt in diesem Rahmen einen Unterschied zwischen ihr und der literarischen Avantgarde der autosoziobiographischen Gattung frei: Rose-Marie Lagrave stammt nicht aus der Arbeiterklasse. Gewissermaßen entzieht sich die sozioprofessionelle Situation ihrer Eltern einer eindeutigen Klassifizierung: Der kleine soziale Aufstieg ihrer Großeltern und Eltern aus dem bäuerlichen Milieu – ihr Vater ist Büroangestellter und ihre Mutter Gouvernante in Paris – wird infolge der Tuberkuloseerkrankung ihres Vaters und des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs letztendlich wieder einkassiert. Die kinderreiche Familie, Lagrave wächst mit zehn Geschwistern auf, lebt aufgrund des Invalidenstatus des Vaters und des ältesten autistischen Bruders von staatlicher Sozialhilfe. Hinsichtlich der sozialen Ermöglichungsbedingungen ihres ,transfuge‘-Daseins hat Lagrave diese deprivilegierte materielle Situation sowie die Tatsache, als Mädchen in einer katholische, kinderreiche Familie – man denke an Dahrendorfs Formel von der katholischen Arbeitertochter vom Land – hinein geboren worden zu sein, in Trümpfe verwandeln können. Wenngleich die Familie arm ist, die Krankheit des Vaters und des autistischen Bruders omnipräsent sind und die Kinder teilweise mit der strikten katholischen Erziehung malträtiert werden, verfügt der Vater als früherer Priesterseminarteilnehmer über ein kulturelles Kapital, das die Habitualisierung der Kinder bestimmt. Die Kinder besitzen bei ihrem Schuleintritt jedoch nicht nur das kulturelle Wissen, das einen Startvorteil in der Schullaufbahn bedeutet und sie für den Besuch des Gymnasiums qualifiziert. Zudem wird, obwohl die Familie katholisch ist, den Kindern ein nahezu calvinistisches Arbeitsethos auferlegt. Die viele harte Arbeit wird zu einer von Stolz befreiten Pflicht stilisiert. Als dritter Vorteil erweist sich die gute Erziehung. Wider Erwarten sorgt zudem die familiäre Armut dafür, dass fast die Hälfte der Geschwister ein Stipendium für das lycée erhält, das Rose-Marie auch noch in ihrem Studium gewährt wird. Das Geheimnis ihres Aufstiegs kleidet Lagrave in die folgenden Worte: „Faire de la nécessité vertu, telle est l’armature de ma pente ascensionnelle. Mon fil conducteur pour détecter des opportunités, et ne pas les laisser passer“ (S. 375, dt.: „Aus der Not eine Tugend zu machen, das war die Devise meines Aufstiegs. Dies war mein Leitsatz, um Chancen zu erkennen und sie nicht vorbeiziehen zu lassen.“). Dieser Leitsatz, verbunden mit den Dispositionen, hart zu arbeiten, und durch die Soziallehre des Katholizismus bedingt, sich für die sozial Schwachen zu engagieren, erweisen sich schließlich auf lange Sicht als erfolgsversprechend. So wurde sie zusammen mit einem Kollegen an der EHESS Leiterin der Abteilung der Internationalen Beziehungen, erarbeitete sich das Renommee ihrer Kolleg:innen und setzte sich nach der Entdeckung des Feminismus für die Gleichberechtigung von Mann und Frau an der Universität ein. Im Unterschied zu den männlichen ,héritiers‘, in deren Laufbahnen sich libido dominandi und libido sciendi verbinden, hat die sozial und geschlechtlich deklassierte Lagrave den Einstieg in die Universitätskarriere geschafft – wider Erwarten wurde sie konsekriert, obwohl sie zu dem Spiel um Konsekration überhaupt nicht prädisponiert war. Der lange Weg zur Forschungsdirektorin an der EHESS ist geprägt von diversen Abzweigungen und Weggabelungen, zu denen auch ihre Scheidung zählte.
Der Untersuchung von Lagrave merkt man durchweg an, dass sie durch und durch Wissenschaftlerin ist. So liefert sie im Kontext ihrer lebenslangen Forschungsarbeit, in der sie die bourdieusche Epistemologie, seine Programmatik sowie die das Licht der Welt erblickt habenden Gender-Studies (hinsichtlich des Lebens der Landwirtinnen) miteinander verknüpft, neue Perspektiven auf die Gesellschaft, womit sie über die Autosoziobiographien hinausgeht. Sie verdeutlicht, warum es einer wissenschaftlichen, feministischen Durchdringung der Themen des Alterns und des Sterbens bedarf. So liegt es auf der Hand, dass Akademiker anders altern als Bauerarbeiter, nach dem Ausscheiden aus ihrem Berufsleben weisen sie einen unterschiedlichen Gesundheitszustand auf (S. 350). Da das Älterwerden von Männern und Frauen jeweils unterschiedlich konzipiert und mit alternden Männern und Frauen jeweils unterschiedlich umgegangen wird, schließt sie, dass das Altern auch hinsichtlich der Geschlechtlichkeit sozial konstruiert ist. Für Lagrave erweist sich das Altern als das stigmatisierendste Stigma, da es die Ungleichheiten von Mann und Frau besonders betont (S. 362). Nicht nur hinsichtlich des Alterns bieten Feminismus und Genderstudies theoretische Untersuchungsperspektiven. Auch der selbstbestimmte Tod ist ein Thema für die interdisziplinäre Frauenforschung, zu dessen Verhandlung sie an die ,Errungenschaft‘ des Rechts auf Abtreibung frei nach dem Motto „Mein Brauch gehört mir“ anknüpfen könne (S. 374) Mehr noch als Ernaux, Éribon und Louis erlaubt es die Stimme Lagraves, die Gesellschaft von morgen zu konturieren. Das engagierte Schreiben von Lagrave – eine Verlängerung ihres engagierten Forschens – zielt darauf ab, auf eine von sozialen Klassen, vom Patriarchat und von Rassismus befreite Gesellschaft hinzuarbeiten.
Besonders gelungen ist die von Lagrave vermittelte Einsicht, dass ein Bildungsaufstieg nicht immer mit Spaltungs- und Brucherfahrungen einhergehen muss. Im Unterschied zu Bourdieu, Ernaux, Éribon und Louis leidet Lagrave nicht unter einem „habitus clivé“ (dt.: „gespaltener Habitus“). Sie betrachtet sich angesichts ihrer Bildungskarriere nicht als Verräterin, erfährt ihren Aufstieg nicht als Bruch mit dem Herkunftsmilieu und empfindet auch keine Scham – was nicht bedeutet, dass schamvolle Erfahrungen im Verlauf ihres Aufstiegs keine Rolle spielen.
Die Erzählung hat aber auch einen schwerwiegenden Makel. Es muss ein Einwand Éribons ernst genommen werden, der ihr – im Unterschied zu seinem schwach begründeten Vorwurf, das Buch sei homophob – berechtigterweise vorwarf, sich selbst eben nicht als weiße Frau im Universitätsbetrieb reflektiert zu haben. In der Tat bleibt dem Leser nach der Lektüre die Frage unbeantwortet, was es für Lagrave genau bedeutet hat, als junges Mädchen auf das Gymnasium gegangen zu sein, als Frau Soziologie studiert, als geschiedene Frau und Mutter wider Erwarten in einer patriarchalischen Gesellschaft Karriere gemacht zu haben. Die Kämpfe, die sie sicherlich ausgefochten haben wird, bleiben unerwähnt. Erörterungen, wie sie es nach der Scheidung geschafft hat, für ihre Kinder da zu sein und eine Doktorarbeit zu schreiben, bleiben bis auf die Bemerkung aus, samstags an ihrer Qualifikationsschrift gearbeitet zu haben. Wenn sie Éribon und Louis zuschreibt, als Homosexuelle von einem (homosexuellen) sozialen Netzwerk in Paris für ihre Karriere profitiert zu haben, dann hätte sie zumindest genau darlegen müssen, welche Fürsprecher – auch angesichts ihrer feministischen Kämpfe für die geschlechtliche Gleichstellung an der EHESS – sich für sie aus welchen Gründen eingesetzt haben, kurz welches soziale Kapital sie hat akkumulieren können. Die wenigen Sätze darüber, dass ihre Arbeit an der EHESS in der Abteilung für Internationale Beziehungen, für die sie Marc Augé angeworben hat, breite Wertschätzung hervorgerufen hat, reichen hier nicht aus.
Rose-Marie Lagrave: Se ressaisir. Enquête autobiographique d’une transfuge de classe féministe erschien 2021 bei La Découverte.
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