Wir haben den Hamburger Soziologen Sighard Neckel auf einer Tagung in der Schweiz zum aktuellen Boom der Autosoziobiografien kennengelernt. Er war im deutschsprachigen Raum einer der ersten, die sich aus soziologischer Perspektive mit dem Gefühl der statusbedingten Scham auseinandergesetzt haben, das in nahezu allen Autosoziobiografien (u.a. von Ernaux, Eribon, Dröscher) von grundlegender Bedeutung ist. Neckels Studie „Status und Scham“ (1991) entstand in der bewegten Zeit der deutschen Wiedervereinigung, und schon damals hat er erkannt, dass Schamerfahrungen im Lebensgefühl vieler Ostdeutscher ein großes Problem darstellen. Wir haben uns mit Sighard Neckel getroffen, um die anregenden Schweizer Pausengespräche fortzusetzen und sind am Ende sogar im US-amerikanischen Wahlkampf gelandet.
Sie haben Ihre Studie Scham und Status nach der Wiedervereinigung 1991 veröffentlicht. Im öffentlichen Diskurs dominiert allerdings der Eindruck, dass das Thema der sozialen Scham zum ersten Mal umfassend von dem französischen Soziologen Didier Eribon in Retour à Reims (2009) bearbeitet worden ist. Wie bewerten Sie das gestiegene Interesse an der Scham?
Die Aufmerksamkeit für dieses Thema ist schon bemerkenswert, da die Scham in der modernen Gesellschaft, jedenfalls was Erwachsene betrifft, eher eine tabuisierte Emotion ist. Scham gilt als ein Ausdruck von Schwäche, von Unterordnung und eines geringen Selbstbewusstseins. Das sind Attribute, die erwachsene Menschen nicht gerne mit sich verbunden sehen möchten.
Trägt Eribon also zu einer Enttabuisierung der Scham bei?
Dass über Scham, über die ansonsten in der Öffentlichkeit eher der Mantel des Schweigens gedeckt wurde, so stark diskutiert wird, ist zumindest ein kleiner Tabubruch.
Inwiefern spielt bei diesem Tabubruch die Tatsache eine Rolle, dass hier ein Mann über seine Schamerfahrungen schreibt?
Es ist nicht ganz unwichtig, dass die Scham über die eigene soziale Herkunft in diesem Fall von einem Mann thematisiert wird. Denn Scham gilt nicht nur in unserer modernen Kultur, sondern in vielen Kulturen in der Welt vor allem als ein weibliches Gefühl. Das hängt damit zusammen, dass Frauen in der Geschichte eben häufig mit der Position der Schwäche und der Unterordnung verbunden worden sind.
Ich finde es interessant, dass Annie Ernaux sehr explizit über ihre soziale Scham als Frau geschrieben hat. Bei ihr ist die Scham durchaus janusköpfig. Auf der einen Seite ist sie negativ belegt, sie fungiert als Emotion der Schwäche und der Entwürdigung. Andererseits stellt Ernaux sie als ein produktives Gefühl dar. Ohne ihre Schamerfahrungen wäre sie wahrscheinlich gar nicht erst zur Schriftstellerin geworden. Wie bewerten Sie diese Doppeldeutigkeit?
Scham ist in der Tat ein vielgestaltiges und ambivalentes Phänomen. Auf der einen Seite kennen wir Scham als Folge von Beschämungen, die man durch andere erfahren hat. Dann ist sie tatsächlich ein Gefühl empfundener Minderwertigkeit. Auf der anderen Seite, das wissen wir ja auch aus unserem eigenen Erleben, hat die Scham eine Schutzfunktion mit Blick auf das, was man als seinen persönlichen Wert empfindet. Ein Schamempfinden kann mich, anders gesagt, darüber informieren, was ich an mir selbst als besonders verletzlich und damit auch als besonders wertvoll empfinde.
Eignen sich literarische Texte wie die von Ernaux oder Eribon auch als Quellen für die soziologische Emotionsforschung?
Es besteht in der Soziologie mittlerweile ein erhöhtes Interesse an literarischen Zeugnissen. Ich selbst habe in meinem Buch über „Status und Scham“ damals auch literarische Texte, etwa von Dostojewski über den „armen Beamten“, verwendet. Literatur kann bestimmte soziale Konstellationen in ihrer ganzen Eindringlichkeit darstellen. Man kann literarische Texte als sensibilisierende Konzepte verstehen, weil sie uns einen Eindruck darüber vermitteln, wie bestimmte soziale Problemlagen thematisiert und gedeutet werden. Das ist nicht nur hinsichtlich der Autosoziobiografien der Fall. Wir sehen das etwa auch in der Migrationsforschung: In den letzten Jahren sind zahlreiche Bücher von Autorinnen und Autoren erschienenen, die in der zweiten oder dritten Generation ihrer migrantischen Herkunft in Deutschland über ihren Lebensweg, ihre Probleme, Schwierigkeiten und Einsichten berichten.
Die Soziologie begreift Literatur folglich als einen Deutungsmodus sozialer Wirklichkeit?
Als einen hoch subjektiven Modus gesellschaftlicher Erfahrung, der uns eben darum Zugänge zum Erleben unserer Wirklichkeit verschafft. Literatur hat selbstverständlich nicht die empirische Härte soziologischer Untersuchungen, sei es quantitativer oder qualitativer Art, in denen etwas gesellschaftlich Allgemeineres zum Thema wird. Aber sie liefert uns wichtige Hinweise auf dem Weg zur Entdeckung dieses Allgemeinen in der subjektiven Erfahrung. Soziologische Forschung sollte dabei selbstverständlich mehr sein als die Interpretation literarischer Texte. Soziologie ist keine Literaturwissenschaft.
Was kann uns die Soziologie genau über die Scham lehren?
Die generelle soziologische Perspektive, wie sie etwa von Georg Herbert Mead begründet worden ist, besagt zunächst, dass das individuelle Bewusstsein eben nicht allein ein Ergebnis selbstbezogener Reflexionen, sondern in all seinen Ausprägungen auch ein Resultat der Bewertung anderer ist. Unabhängig davon, ob diese Bewertungen immer auch übernommen werden, sind die Urteile unserer Mitmenschen buchstäblich der Spiegel, der uns unsere eigene Person zeigt. Ich gewinne ein Verständnis meiner eigenen Identität nur darüber, dass ich wahrnehme, wie diese Identität in den Augen anderer erscheint. Das lässt sich vor allem auch auf die Gefühlswelt übertragen.
Was bedeutet das für die Scham?
Scham ist Ausdruck einer Herabsetzung meines persönlichen Werts in den Augen anderer. Wenn mein Umfeld mir in seinen Reaktionen auf mich signalisiert, dass ich die an mich gestellten Erwartungen nicht erfülle, dass ich Menschen enttäuscht habe, dass ich Mängel oder Makel aufweise, die mir als Person möglicherweise vorwerfbar sind, dann mobilisieren diese Bewertungen in mir das Gefühl der Scham. Georg Simmel erklärte dies in seiner Betrachtung von Scham damit, dass das Idealbild, das ich von mir selbst habe, mit dem realen Selbst in Konflikt tritt. Dies kann auf Verfehlungen einer Person oder aber auf bestimmte persönliche Merkmale gegründet sein, wie die Körpergestalt, die Hautfarbe, das Geschlecht, das Alter, die Bildung usw.
Worin besteht dann der Unterschied zur Peinlichkeit? Ich denke an Körpergeräusche, die als ein Makel wahrgenommen werden…
Peinlichkeit ist ein situatives Ungeschick, von dem alle Beteiligten im Grunde genommen wissen, dass es jedem passieren kann. Deshalb kann man häufig beobachten, dass Menschen, die in eine peinliche Situation geraten, von anderen, die dabei sind, aus dieser Situation befreit werden. Die Peinlichkeit belastet gewissermaßen alle zusammen.
Und das ist bei der Scham anders?
Ja. Menschen, die beschämt werden, signalisiert man ein negatives Werturteil über ihre Person. Im Alltag vollzieht sich das vor allen Dingen, wenn Macht- und Statusunterschiede ausgehandelt werden. Das hat mich als Soziologen natürlich besonders interessiert.
Wie sind Sie genau auf die Idee gekommen, den Zusammenhang von Scham und Sozialstruktur zu erforschen?
Als ich mich am Anfang der 1980er Jahre in der Endphase meines Soziologiestudiums befand, habe ich mich mit Fragen von sozialer Ungerechtigkeit und Herrschaft beschäftigt. Das Buch Injustice: The Social Bases of Obedience and Revolt (1978) von Barrington Moore hat mich damals gefesselt. Er hat sich schlicht die Frage gestellt, wie es zu erklären ist, dass so viele Menschen in den unterschiedlichsten sozialen Konstellationen bereit sind, Ungerechtigkeiten mehr oder minder klaglos hinzunehmen, ohne sich also dagegen zu Wehr zu setzen. Barrington Moore hat für mich damals eine neue Perspektive eröffnet, weil er studiert hat, wie Beherrschte eigene Dispositionen und Haltungen in die Aufrechterhaltung von Herrschaft mit einbringen. Nichtsdestotrotz war mir der vertragstheoretische Ansatz von Moore noch zu weit von der sozialen Wirklichkeit entfernt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich dann das Glück, bei den Überlegungen zu meiner Dissertation auf eine in den Vereinigten Staaten schon begonnene Diskussion zur Soziologie der Emotionen zurückgreifen zu können, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen bedeutenden Aufschwung genommen hatte. Emotionen haben seinerzeit für die europäische und für die deutsche Sozialwissenschaft keine große Rolle gespielt. Daher bot es sich einfach an, diese Frage nach der Aufrechterhaltung von Herrschaft mit Fragen der affektiven Bindung an bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu verknüpfen. Hinzu kam dann noch, dass ich, vermittelt über einen großen Sartre-Kongress, der 1987 in Frankfurt am Main stattfand, angefangen hatte, Sartre zu lesen. In Das Sein und das Nichts (1947), seinem Hauptwerk, bin ich dann auf dieses berühmte Kapitel über den „Blick“ gestoßen. Ich glaubte, in dieser existenzialphilosophischen Analyse so etwas wie den Kern einer soziologischen Theorie der Scham entdecken zu können.
Kann man Ihre Dissertation also im Grunde als eine Fortsetzung der phänomenologischen Ontologie Sartres mit soziologischen Mitteln bezeichnen?
Ich würde es nicht allein auf Sartre beschränken, sondern allgemeiner auf die verschiedenen Versuche einer phänomenologischen Wendung der Hegel’schen Dialektik von Herr und Knecht beziehen. Sartre selbst steht für eine besonders einflussreiche existenzialphilosophische Deutung dieser dialektischen Figur, aber er hat nicht die einzige Interpretation dazu geliefert. Inspiriert haben mich daneben etwa auch Agnes Heller oder Maurice Merleau-Ponty, die beide einer marxistischen Phänomenologie deutlich näherstanden als Sartre.
Für die soziologische Perspektivierung ist Bourdieu eine wesentliche Referenz in Ihrer Arbeit.
Auf Bourdieu bin ich bereits im Zuge meiner Diplomarbeit gestoßen. Die ersten Bücher, die ich von ihm gelesen habe, waren seine ethnologischen Schriften. Intensiv auseinandergesetzt habe ich mich mit seinem Entwurf einer Theorie der Praxis (1974) und seinen Studien zum Zusammenhang von wirtschaftlichen und zeitlichen Strukturen in Algerien. Diese Studien zu den Kabylen zählen für mich bis heute zu den Höhepunkten einer ethnosoziologischen Forschung. Ich hatte während meines Studiums zudem das Glück, auf einen jungen Dozenten zu treffen, der sich für den Strukturalismus und insgesamt für französische Sozialtheorien interessierte. Das war Axel Honneth. Dadurch war eine Art Vorwissen vorhanden, das mir die spätere Lektüre von Die feinen Unterschiede (1979) erleichtert hat. Das Buch bedeutete – und das teile ichwahrscheinlich mit vielen Kollegen aus meiner Generation – einen wirklichen Durchbruch in der Kultur- und Ungleichheitssoziologie. Bourdieu lieferte den außergewöhnlichen Versuch, seine in Entwurf einer Theorie der Praxis entwickelte Praxistheorie mit einer Sozialstudie der Gegenwart und einer Lebensstilanalyse zu verknüpfen. Für einen jungen Soziologen wie mich war das ein überaus interessanter Weg, soziologische Forschung zu betreiben. Allerdings war mir aufgefallen, dass bei Bourdieu eine explizite Betrachtung von Emotionen fehlt, wenngleich sie implizit häufig angesprochen werden. In seinen Analysen zu den Mechanismen von Distinktion spielen Affekte natürlich eine große Rolle.
Pierre Bourdieu ist vor zweiundzwanzig Jahren gestorben. Wie haben Sie seinen Tod wahrgenommen?
Für die Frankfurter Rundschau habe ich damals einen kurzen Nachruf geschrieben. Was mich seinerzeit in Frankreich gewundert hat, war die starke Absetzungsbewegung von einigen seiner ‚Musterschüler‘. Von engen Weggefährten, wie etwa Luc Boltanski, wurden ihm manche Verwünschungen ins Grab hinterhergerufen. Das fand ich verstörend. Erst später bekam ich nähere Einsichten in die Gruppe um Bourdieu herum, u.a. von Boltanski selbst, der mir anlässlich seiner Frankfurter Adorno-Vorlesungen davon erzählte. Und Boltanski hat später ja seine Kritik weitgehend relativiert und auch theoretisch wieder seinen Frieden mit Bourdieu gemacht.
Wie ist Bourdieus Stellenwert heute in der Soziologie?
Heute lässt sich feststellen, dass Bourdieus Theorie, in welche Teildisziplin der Soziologie man auch schauen mag, überaus stark verankert ist. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Themen der Klassengesellschaft und der sozialen Ungleichheit in all ihren Facetten wieder stark in den Fokus der Gesellschaftswissenschaften gerückt sind. Hierzu hat er einfach Wegweisendes geschrieben. Seine aktuelle Bedeutung würde ich aber nicht allein auf die Kultur- oder Ungleichheitssoziologie beschränken. Bourdieu hat allem voran methodologische Grundsätze formuliert, die mir nach wie vor unhintergehbar erscheinen. Einer dieser wichtigen analytischen Grundsätze betrifft die Relationalität sozialer Phänomene, die sich in ihrer Bedeutung und Wertigkeit nicht aus sich selbst heraus erklären lassen, sondern stets als Ausdruck spezifischer Beziehungsverhältnisse aufgefasst werden sollten.
Das Reale ist relational, wie Bourdieu betont hat.
In der Tat. Mit Bourdieu können wir einen soziologischen Blick einüben, der uns davor bewahrt, gesellschaftliche Phänomene, gleich welcher Art, als substantielle Wesenheiten zu begreifen. Sein relationaler Blick auf gesellschaftliche Praxis ist von elementarer Bedeutung für die soziologische Forschung, und das wird gewiss auch so bleiben.
In welchem Verhältnis stehen dieser methodische Grundsatz und seine Konzepte?
Die Untersuchung gesellschaftlicher Realitäten als „Felder“, in denen sich soziale Kräfteverhältnisse abbilden, entspricht zum Beispiel ganz seinem relationalen Ansatz.
Wir finden die Praxistheorie besonders überzeugend.
Ja, Bourdieu hat uns mit der Praxistheorie Instrumente an die Hand gegeben, mit denen sich das Zusammenwirken von individuellen und gesellschaftlichen Strukturen treffend analysieren lässt. Neben dem Feldbegriff steht hier natürlich der „Habitus“, aber auch Begriffe wie Doxa oder Illusio, mit denen wir Denkweisen entschlüsseln können. Seine Praxistheorie bietet uns in sich stringente analytische Werkzeuge, mit denen sich ausgezeichnete Sozialstudien erstellen lassen.
Bourdieu selbst berichtet in seinem postum erschienen Soziologischen Selbstversuch (2002) von seiner sozialen Scham und seinem gespaltenen Habitus. Könnte man nicht sagen, dass die eigene Beschämung als junger Mann aus einfachen Verhältnissen ein soziologisches Gespür für Machtverhältnisse in der Gesellschaft geschärft hat?
Dass Bourdieu eine besondere Sensibilität gegenüber Ungleichheiten dadurch erworben hätte, weil er es als Aufsteiger aus der tiefsten französischen Provinz bis in den Olymp der französischen Wissenschaften schaffte, ist in der Tat eine häufig geteilte Meinung. Das will ich auch gar nicht bestreiten. Auf der anderen Seite sollten wir aber nicht übersehen, dass der innere Kampf mit dem eigenen Habitus auch zu völlig anderen Ergebnissen führen kann. Die erlittenen Verletzungen auf dem eigenen Aufstiegsweg können bei den Aufsteigern auch zu einer Geringschätzung der Milieus führen, die sie verlassen haben. Nehmen wir J. D. Vance, den Trump kürzlich als seinen Vizepräsidenten nominiert hat. Er ist ein Beispiel dafür, wie eine autosoziobiografische Art der Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft letztendlich dazu führen kann, dass man noch in der Pose des einfachen Lebens implizit seine Verachtung für diejenigen zum Ausdruck bringt, die es von dort unten nicht nach oben schafften.
Woran arbeiten Sie gegenwärtig?
Seit ich in Hamburg bin, beschäftige ich mich vor allem mit gesellschaftlichen Konflikten um Nachhaltigkeit. Dabei nehme ich unter anderem auch eine emotionssoziologische Perspektive ein, indem ich dazu forsche, was der Klimawandel und die ökologische Krise eigentlich mit unseren Gefühlen anstellen. Die Emotionssoziologie beschäftigt mich also weiterhin.
Herr Neckel, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.