Ich hätte es wissen können, eigentlich wissen müssen, aber – ich war doch reichlich ahnungslos. Und ziemlich überrascht, als ich im Wintersemester 2003/04 an der TU Dortmund ein Bourdieu-Seminar anbot.
Einige Jahre zuvor war ich an der Uni Bonn promoviert worden. In meiner Dissertation gab es ein großes Kapitel zu Pierre Bourdieu, auf das ich damals ziemlich stolz war. Am Institut für Erziehungswissenschaft war ich schon seit einigen Jahren angestellt und hatte großen Spaß daran, in meinen Seminaren das zum Gegenstand zu machen, was mich gerade intellektuell umtrieb. Im Wintersemester 2000/01 hatte ich bereits ein Seminar zu Bourdieu angeboten und damit gute Erfahrungen gemacht. Ich erinnere mich an sehr lebhafte Diskussionen über Bourdieus unterschiedliche Kapiteltypen, über dessen Modell des sozialen Raumes und auch darüber, was wohl unter einem Habitus zu verstehen sei.
Als ich die Einladung erhielt, an der TU Dortmund einen Lehrauftrag wahrzunehmen, sagte ich sofort zu – und freute mich um so mehr, als die Bitte an mich herangetragen wurde, ich möge doch etwas zu Bourdieu anbieten. Nichts lieber als das!
Hochmotiviert und voller Ideen traf ich an einem Herbstabend zur Vorbesprechung an der TU Dortmund ein und suchte den Seminarraum. Die kleine Gruppe von Studierenden, die hier schon auf mich wartete, war ganz anders als jene, die ich aus Bonn kannte. Sie waren nicht sonderlich interessiert an coolen Theorien und komplizierten Fachtermini. Die meisten Seminarteilnehmer*innen aus Dortmund waren deutlich älter; viele besaßen schon Berufserfahrung und hatten auf Umwegen an die Hochschule gefunden. „Prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ war für sie nicht ein Thema der abendlichen Nachrichten; das hatten manche schon selbst erlebt. Auch „Vulnerabilität“ war für sie kein Thema, zu dem man vielleicht eine ambitionierte Hausarbeit schreiben könnte; manche hatten längst am eigenen Leib erfahren, was damit bezeichnet wird. Sie waren augenscheinlich nicht daran interessiert, einen „französischen Theoretiker“ kennenzulernen; sie wollten stattdessen mit Bourdieu das verstehen, was ihnen widerfahren war. Sie wollten von ihren persönlichen Erfahrungen ausgehend versuchen, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse besser zu verstehen. Und ihre eigene Position. Dabei waren sie vielleicht nicht so smart und eloquent wie manche meiner Bonner Studierenden, die ich ebenfalls sehr schätzte, aber ihre Fragen besaßen eine besondere Dringlichkeit. Das hat mir sehr imponiert. Und zu denken gegeben.
Es hat meinen Blick geschärft, für die bürgerlichen Codes, die damals die Uni Bonn dominierten. Und eben auch meine Seminare. Für das „hidden curriculum“, das meine Lehrveranstaltungen prägte, ohne dass mir das zuvor aufgefallen wäre. Hier hatte es häufig eine spielerische Note, wenn wir über unterschiedliche Spielarten des Habitus sprachen oder zu verstehen suchten, was mit symbolischer Gewalt gemeint sein könnte. In Dortmund war das anders.
Wieder anders ist es in Tübingen, wo ich seit 2013 Allgemeine Erziehungswissenschaft lehre. Auch hier mache ich Bourdieu in Seminaren zum Gegenstand und stelle ihn in Vorlesungen vor. Erneut mache ich damit gute Erfahrungen. Auch zwanzig Jahre nach seinem Tod stoßen seine Theoreme auf reges Interesse. Neu ist allerdings, dass sich die fortgeschrittenen Studierenden ihrer privilegierten Position sehr bewusst sind. Sie sind an einer Exzellenz-Universität eingeschrieben, haben einen der wenigen Plätze unseres Masterstudiengangs ergattert – und reagieren darauf nun mit einem latent schlechten Gewissen. Das ist etwa dann zu spüren, wenn wir über Bourdieus Modell des sozialen Raumes sprechen und sie alles zu vermeiden suchen, was auch nur im Entferntesten in der Gefahr stehen könnte, Stereotype zu reproduzieren. Im Wissen darum, dass sie unter privilegierten Bedingungen ihren Interessen nachgehen, wollen sie auf keinen Fall dabei „ertappt“ werden, abfällig über jene zu sprechen, die über deutlich ungünstigere Berufsperspektiven verfügen. Oder die in Armut leben. Sie scheuen zurück davor, verallgemeinernde Aussagen zu treffen. Am liebsten würden sie nur noch „Einzelschicksale“ diskutieren. Und jedem Einzelfall in seiner (vermeintlichen) „Singularität“ gerecht werden.
Nur ist das eben das Ende der Theorie. Und ein später Sieg von Ulrich Becks Gerede von „Individualisierung“.
Theoriearbeit zielt darauf ab, verallgemeinerungsfähige Aussagen zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Sie ist daran interessiert, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Sie spürt auch dort noch Regelmäßigkeiten auf, wo wir selbst dafür blind sind und unsere eigene „Individualität“ zelebrieren.
Mich bringt das ziemlich auf die Palme. Nicht immer gelingt es mir, humorvoll darauf zu reagieren. Manchmal brodelt es dann auch ein wenig in mir. Und so habe ich unlängst an den Innenminister von Nordrhein-Westfalen erinnert, an Herbert Reul. Als dieser in einer Pressekonferenz auf eine große Zahl von Racial Profiling angesprochen wurde, weigerte er sich, von strukturellem Rassismus in den Reihen der Polizei zu sprechen. Er sah nur Einzelfälle. Er kam nicht umhin einen Fall einzuräumen, auch einen weiteren und noch einen und noch einen und noch einen... Aber ein „Muster“, gar „Gesetzmäßigkeiten“ oder eine „Struktur“? Vermochte er nicht zu erkennen.
Markus Rieger-Ladich lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen.