Oftmals sind die besten Pop-Alben diejenigen, die nicht gleich beim ersten Anhören Begeisterungsstürme auslösen, die aber zumindest dann schon so interessant sind, dass sie einen förmlich dazu auffordern, sie noch ein zweites, drittes und viertes Mal zu hören. Wo man dann mit jedem neuen Durchgang einen weiteren Song entdeckt, der ziemlich gut ist. Bis es dann irgendwann soweit ist, dass man das Album in Dauerschleife hört. Diese Art des langsamen Eintauchens in ein Meisterwerk ist zugebenermaßen ein bisschen last century, denn wer gibt sich im schnelllebigen Spotify-Zeitalter überhaupt noch die Mühe, sich buchstäblich in ein neues Album einzuarbeiten? Wenn ein Lied nicht gleich gefällt, dann schnell zum nächsten weiterzappen. Die Tatsache, dass aktuelle Popsongs im Schnitt statt dreieinhalb nur noch zweieinhalb Minuten lang sind, ist nur ein Ausdruck dieser neuen Hörgewohnheiten und des harten Geschäfts der Aufmerksamkeitsakquise.
Das Album La symphonie des éclairs des neuen französischen Shootingstars Zaho de Sagazan ist so ein Album, dem man auf jeden Fall mehrere Chancen geben sollte. In Frankreich bereits im Frühjahr 2023 erschienen, ist es seit diesem Sommer auch in den deutschen Charts dauerhaft angekommen. Im Oktober erschien die um sieben Songs erweiterte Version des Debüts unter dem Titel La symphonie des éclairs (Le dernier des voyages). Schließlich waren es zwei international beachtete Live-Aufritte, die im Sommer dieses Jahres für einen regelrechten Aufschwung sorgten, was Zahos Bekanntheit angeht: Bei den Filmfestspielen von Cannes performte sie – als Hommage an die Jury-Vorsitzende Greta Gerwig – ein Remake des David-Bowie-Klassikers Modern Love und bei der Abschlussveranstaltung der Olympischen Spiele in Paris begeisterte sie mit ihrer Version von Edith Piafs Sous le ciel de Paris. Seither gilt sie in Frankreich nun nicht mehr nur als Shooting-, sondern als Superstar. Mit 116 Millionen Streamings auf Spotify und knapp 200.000 verkauften Alben dürfte La Symphonie des éclairs das erfolgreichste französischsprachige Album dieses Jahres werden.
Dieser immense Erfolg überrascht insofern, als Zaho de Sagazans Debütalbum sicher nicht unbedingt mit denjenigen der gängigen Spotify-Sternchen und -Stars vergleichbar ist, man denke an den ewig gleichen Fahrstuhl-Pop von Mainstream-Heroinen wie Taylor Swift, Chapell Roan oder Sabrina Carpenter. Der Sound von Zaho de Sagazan ist sperriger, vielfältiger und aufregender zugleich. Sie selbst sieht sich irgendwo zwischen Jacques Brel, Barbara und Kraftwerk. Das trifft es tatsächlich ganz gut, da wir auf dem Album sowohl (beinahe) klassische Chansons finden (Dis-moi que tu m’aimes oder L’envol) als auch knallharte Elektronik-Bretter wie Aspiration oder Tristesse. Dazwischen düstere Wave-Hommagen wie La fontaine de sang, Les dormantes oder Hab Sex sowie das zuckersüße Duett Old Friend mit Singer-Songwriter Tom Odell. De Sagazan kann aber auch gängige Pop-Perlen, wie sie mit dem Titelsong La symphonie des éclairs oder der Polygamie-Hymne Les garçons unter Beweis stellt. Insgesamt stammen ihre wesentlichen Inspirationsquellen unüberhörbar aus den 80er Jahren – hier eine Prise Anne Clark, dort etwas Jeanne Mas. Nicht auf das Album geschafft hat es leider eine schillernde, mit sehr französischem Akzent dargebotene Coverversion des Nena-Evergreens 99 Luftballons, die man jedoch auf der EP La bonne étoile finden kann. Die Arrangements klingen insgesamt schon ziemlich retro, aber hier macht es eindeutig die Mischung. Der französische Wikipedia-Eintrag listet Zaho de Sagazan unter der Rubrik „nouvelle chanson française“, was sicher in die richtige Richtung geht, aber doch unterm Strich nicht ansatzweise der auf dem Debüt vertretenen Vielfalt gerecht wird. Die Schublade, in die man die ehemalige Altenpflegerin aus der Gascogne mit adeligen Wurzeln, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, stecken möchte, müsste erst noch erfunden werden.
Auch die Konzerte der (noch) 24-jährigen sind inzwischen regelrechte, stets ausverkaufte Happenings und finden längst nicht mehr nur in Frankreich statt, sondern derzeit in den USA und im kommenden Jahr auch in Deutschland. Ausschnitte auf YouTube lassen deutlich die Bedeutung ihres Albumtitels erkennen: symphonische Blitzeinschläge, die sich sogleich auf das Publikum übertragen und das alles performt in ziemlich geschmacklosen Radlerhosen. Aber wer achtet bei einem solch musikalischen Ausnahmetalent schon auf die Verpackung? Das Team des Literaturportals france.2000 wird im März nächsten Jahres einem solchen Spektakel in Leipzig beiwohnen – Bericht folgt dann im Frühjahr. Wir freuen uns drauf!
Interview mit Marie-Hélène Lafon
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
Mylène Farmer füllt an drei Abenden das Stade de France