Alte weiße Frauen

Annie Ernaux und Rose-Marie Lagrave reden über Herkunft, Pierre Bourdieu und die Tücken des Alter(n)s

Veröffentlicht am
19.4.2023
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Sie gehören beide zur selben Generation der Kriegskinder, teilen ähnliche soziale Herkünfte und ein lebenslanges Engagement für die Gleichstellung der Frau und die Rechte der sozial Deprivilegierten. Die Schriftstellerin Annie Ernaux (geb. 1940) und die Soziologin Rose-Marie Lagrave (geb. 1944) wurden im Mai 2021 ins Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) zu einer Table ronde eingeladen, um vor deutschen und französischen Promovierenden über „Die Erfahrungen und das Schreiben feministischer Klassenflüchtlinge“ zu sprechen (einen Videomitschnitt dieses Gesprächs finden Sie in der Mediathek des Instituts unter diesem Link). Ein weiterer Gesprächstermin fand im vergangenen Jahr an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) statt, an der Lagrave lange Jahre als Forschungs-Direktorin beschäftigt war. Aus diesen beiden Gesprächsrunden ist nun ein kleiner Band hervorgegangen mit dem schlichten Titel Une conversation, der von den drei Organisatorinnen Sarah Carlotta Hechler, Claire Mélot und Claire Tomasella herausgegeben wurde.

Um es gleich vorweg zu sagen: Wer die Schriften (Erzählungen, Interviewbände, Tagebücher) von Annie Ernaux kennt, wird in diesem rund achtzig Seiten umfassenden Dialog kaum neue Einblicke in das Leben und Wirken der Nobelpreisträgerin erhalten. Gleiches gilt für diejenigen, die Rose-Marie Lagraves ‚autobiografische Untersuchung‘ Se resaissir (2021) gelesen haben (hier unsere Rezension), deren wichtigste Etappen hier noch einmal in komprimierter Form zur Sprache gebracht werden. Nun, ich darf von mir behaupten, dass ich zu beiden ‚eingeweihten‘ Lesezirkeln gehöre, aber dennoch große Freude während der Lektüre von Une conversation empfunden habe. Das liegt zum einen an der Dynamik, die sich im Verlauf des Gesprächs entwickelt: Hier sprechen zwei kluge Frauen, die jeweils auf ein langes und vor allem bewegtes Leben zurückblicken und gegen alle gesellschaftlich-sozialen Widerstände ihren erfolgreichen Weg gegangen sind. Beide sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einfachen ländlichen Verhältnissen in der Normandie aufgewachsen. Während Ernaux ihre Kindheit als Einzelkind zweier Krämersleute verbrachte („fille unique“ galt damals noch als Schimpfwort, wie sich Ernaux erinnert), wuchs Lagrave mit zehn Geschwistern auf, darunter ein autistischer Bruder. Beide Autorinnen heirateten in den 1960er Jahren, bekamen zwei Söhne und ließen sich später wieder scheiden. Beiden gelang in der Folge eine bemerkenswerte Karriere: Ernaux wurde neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin zur Erfolgsschriftstellerin und Lagrave schaffte es, sich als Soziologin einen Namen zu machen, vor allem mit Arbeiten zum Feminismus und zur Soziologie des ländlichen Raums. Die beiden haben sich erst 2001 zum ersten Mal auf einem Kolloquium an der École Normale Supérieure in Paris persönlich kennengelernt. Allerdings kannten und schätzten sie sich schon zuvor durch die gegenseitige Lektüre ihrer Texte. Wiederholt betonen sie in ihrem Gespräch, dass sie sich jeweils in den Texten der Anderen wiedererkannt haben.

Der anerkennende Ton des Gesprächs, die zum Ausdruck gebrachte Warmherzigkeit und Gelassenheit lassen Bilder vor dem Auge des gebannten Lesers entstehen, Bilder von Petits Fours, einem Gläschen Likör und von Zigaretten, die die leidenschaftliche Raucherin Lagrave während ihrer Unterhaltung genüsslich konsumiert. Man fühlt sich bisweilen an den hinreißenden Dokumentarfilm Tea with the Dames (2019) erinnert, in dem sich die weiblichen Größen des britischen Kinos, darunter Judi Dench und Maggie Smith, nachmittags zum Teetrinken treffen und gemeinsam ihre Karrieren Revue passieren lassen. Beide Werke bringen genau das zum Ausdruck, was man im Französischen mit „sororité“ bezeichnet, mit weiblicher Solidarität oder ‚Schwesternschaft‘.

Doch soll hier keineswegs der Eindruck erweckt werden, als handele es sich bei Une conversation lediglich um die geistreiche Plauderei zweier älterer Damen. Es geht auch um den Kampf für Frauenrechte, den beide auf unterschiedliche Weise ein Leben lang ausgetragen haben – sowohl im Privaten als auch in der Öffentlichkeit. Es geht um die Soziologie als Waffe gegen soziale Ungleichheiten jeglicher Art. Die beiden sprechen auf der Höhe der Zeit über Theorien der Intersektionalität, also über das Problem, dass meistens mehrere Ungleichheitskategorien zugleich über den Platz des Menschen in den Machtstrukturen der Gesellschaft entscheiden. Ein Name, der auf den achtzig Seiten besonders häufig fällt – weit über zwanzig Mal! –, ist Pierre Bourdieu. Der große Soziologe und Intellektuelle spielt in den Biografien der beiden Autorinnen eine hervorgehobene Rolle: Lagrave war ihm bis zu seinem Tod beruflich und freundschaftlich verbunden, Ernaux verdankt seinen Studien einen neuen Blick auf ihren eigenen Werdegang sowie die wichtigsten Impulse für ihre eigenen Texte, die sie selbst in einem früheren Interviewband (L’écriture comme un couteau, 2003) als Autosoziobiografien bezeichnet hat.

Das politische Engagement spart der Band weitestgehend aus. Nach den Debatten um Ernaux’ Israelkritik nach der Nobelpreisrede hätte man sich ein paar Aussagen diesbezüglich gewünscht, aber dazu schweigen beide Gesprächspartnerinnen. Lediglich an einer Stelle erklärt Ernaux noch einmal, warum sie sich stets gegen ein Schleier-Verbot bei Musliminnen ausgesprochen hat.

Der Text endet mit ein paar Reflexionen über das Altern. „Dass ich mich allein im Angesicht des Todes befinde, ist eine Feststellung, aber keine Angst“, bekennt Ernaux. Lagrave plädiert dafür, dass sie im Falle unerträglicher Leiden selbstbestimmt den Moment ihres Todes festlegen darf: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich verspüre eine wahnsinnige Furcht vor dem Verfall und der Abhängigkeit.“ Man erhält den Eindruck, als bestimme die abgeklärte Gelassenheit, die das gesamte Gespräch geprägt hat, auch die Ansichten über den letzten Lebensabschnitt, in dem sich beide Autorinnen nun befinden. Man wünscht ihnen von Herzen, dass ihnen noch sehr viel Zeit bleiben wird, um diese Gedanken zu vertiefen. Das Thema des Alterns wird unsere Gesellschaften noch lange beschäftigen. Mit Ernaux und Lagrave wird einem davor nicht bang.

Annie Ernaux/Rose-Marie Lagrave: Une conversation, Paris: ÉHESS 2023, 144 S. Bislang ist noch keine deutsche Übersetzung vorhanden.

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