Das Buch Triste tigre (2023) von Neige Sinno beginnt mit einem Portrait. Dem Portrait eines Mannes, der in der Pariser Banlieue in einer ganz normalen Familie der „petite classe moyenne“ aufwuchs und dann in die Berge zog, eines Mannes, der als Bergführer arbeitete, eines Lebemanns, der das Risiko liebte, eines Mannes mit Adlernase und verführerischen Mandelaugen, zupackenden Händen, eines Mannes, der Johnny Hallyday liebte und dessen Eichel sich bläulich färbte, wenn er eine Erektion hatte. Und diejenige, die das Portrait dieses Mannes zeichnet, ist Neige Sinno, die Autorin des autofiktionalen récit und die Stieftochter eben jenes Mannes, eines Mannes, der sie als Kind jahrelang missbrauchte. Wir befinden uns in den 1980er Jahren in einem Dorf in den französischen Alpen. Sinno wächst in einer Familie auf, die – je nachdem aus welcher Perspektive betrachtet – mal als naturnah und hippiesk, mal als arm und verlottert bezeichnet werden kann. Die Mutter verlässt mit der kleinen Neige und ihrer jüngeren Schwester den Vater, um mit dem neuen Mann, dem Täter, zusammenzuziehen, bekommt dann mit ihm weitere drei Kinder. Währenddessen beginnt der Täter, seine Stieftochter anzufassen, sie zum Oralsex zu zwingen, sie zu penetrieren. Sinno wächst in einem dörflichen Umfeld auf, in dem diese Familie stets als Außenseitersippe betrachtet wird. All das Umstände, die möglicherweise auch dazu beigetragen haben, dass der Missbrauch erst geschehen konnte und lange unentdeckt blieb. Täter und Umfeld – mit Überlegungen zu beidem legt Sinno los, um uns im weiteren Verlauf jede einzelne Facette von Kindesmissbrauch schmerzlich näherzubringen, vor allem die Folgen für sie, die Überlebende.
Aus der Opferperspektive über Missbrauch zu schreiben, birgt für Autorinnen und Autoren immer gewisse Gefahren. Man kann die Kritik förmlich schon hören, bevor man das Buch überhaupt aufgeschlagen hat. Nur allzu bekannt sind die Vorwürfe, die solchen Berichten entgegengebracht werden – man denke etwa an La familia grande von (2021) von Camille Kouchner. Dass sich die Betroffenen vielleicht einfach falsch erinnern, wird dann oft vorgebracht, oder dass sie wohlmöglich übertreiben. Dass es sich lediglich um Privatangelegenheiten handelt, die aus purem Narzissmus aufs Papier gebracht werden, weil sie Aufmerksamkeit erregen wollen oder sich wegen eines verletzten Egos rächen wollen. Und überhaupt: Warum eigentlich dieses Herumreiten auf der eigenen Vergangenheit, kann das überhaupt einen literarischen Mehrwert haben, lesenswert sein, so ein Zeuginnenbericht?
Er kann. Und das liegt vor allem daran, dass Sinno all diese Vorwürfe von vornherein aushebelt, indem sie das Schreiben und Sprechen aus der Betroffenenperspektive, die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Opfern und Tätern zum zentralen Thema macht. Die Reflexion ist dann auch der Modus, in dem dieser récit verfasst ist. Die eigentlichen Missbrauchsszenen beschränken sich auf wenige, wenn auch dadurch nicht weniger ergreifende Details. Dass es passiert ist, dass es eine Straftat war und sie darunter gelitten hat, wird einfach vorausgesetzt – und das ist ein Gewinn. Weil sie so den Fokus auf die Nachwirkungen des Missbrauchs legt, auf die gesellschaftliche Bewertung solcher Straftaten. Und weil so von Beginn an deutlich wird, dass die Perversion nicht nur aus den pädophilen Handlungen der Täter besteht, sondern in einem pervertierten Denken, das nicht nur in deren Köpfen vorherrscht, sondern gesellschaftlich tiefer verankert ist, als man es sich vielleicht eingestehen mag.
So erwähnt sie beispielsweise Dante und Petrarca, die sich ebenfalls an Minderjährigen vergriffen, Tatsachen, die nicht selten von Tätern und Öffentlichkeit gleichermaßen damit abgetan werden, dass es ja andere Zeiten waren und Pädophilie damit eigentlich etwas Natürliches sei, würde sie nicht leider, leider in unserer aktuell ach so sexuell verklemmten Gesellschaft stigmatisiert; sie denkt über die Rezeption von Nabokovs Roman Lolita nach, der auch heute noch oft genug als erotische Liebesgeschichte gelesen wird. Ein Missverständnis, das sich nicht zuletzt durch die Verfilmungen manifestierte, in denen die frühreife „Nymphette“ den Übergriff geradezu erst provozierte und dem armen Humbert Humbert quasi keine Wahl lies; sie reflektiert den Satz, den ihre Mutter immer über ihren Vater sagte, bevor die Sache ans Licht kam: „Er hat ja auch gute Seiten.“
Seite für Seite demontiert Sinno diese Behauptungen, ja, die Vergewaltigungsmythen, die sich hartnäckig halten, ohne dabei die Erwartungshaltung eines Lesepublikums zu bedienen, das möglicherweise doch heimlich darauf hofft, mit skandalträchtigen Details unterhalten zu werden. Vor Voyeurismus ist wohl niemand wirklich gefeit, das merkt Sinno selbst an einer Stelle an. Doch bei diesem Buch geht es nicht um Unterhaltung, dafür ist das Thema ohnehin viel zu ernst, vielmehr geht es um das Verstehenwollen von Missbrauch in seiner ganzen Dimension, gesellschaftlich, persönlich. Hier wird uns eine Suche nach den Ursachen und Folgen vorgelegt, die wirklich keinen Aspekt ausspart. Sie berührt philosophische Fragen, wie beispielsweise diejenige nach dem Bösen, ebenso wie Fragen nach der Opferrolle, die ihr – man muss es so deutlich betonen – aufgezwungen wurde. Wenn sie Stereotype aufruft, dann nur, um sie sogleich mit gewetzter Klinge auseinanderzunehmen. Dass sie dabei zu keinem Zeitpunkt in einen wütenden Kampfton verfällt, grenzt an ein Wunder – es beweist, dass sie zu jeder Zeit die Zügel der Erzählung vollkommen in der Hand behält.
Neben der Täterperspektive nimmt sie so immer wieder Bezüge zum umfangreichen Kanon der ‚Opferliteratur‘, ausführlich werden beispielsweise Camille Kouchners La familia grande (2021), Julián Herberts Canción de tumba (2011) oder Margaux Fragosos Roman Tiger, Tiger (2011), von dem Sinno den Titel ihres Textes entlehnt hat, zitiert. Zudem erinnert Triste Tigre in seiner vignettenhaften Anlage stellenweise an In the Dream House (2019) der US-amerikanischen Autorin Carmen Maria Machado, in dem Szenen einer toxischen Liebesbeziehung im Dialog mit verschiedenen literarischen Genres erzählt werden. Auch finden sich deutliche Reminiszenzen an Annie Ernaux’ Mémoire de fille (2016), nicht nur, weil Sinno, wie es so charakteristisch für die Literaturnobelpreisträgerin ist, ebenfalls Fotos in ihre Betrachtungen einbezieht und den eigenen sozialen Background reflektiert, sondern vor allem auch dann, wenn sie begründet, warum sie sich im Unterschied zu Ernaux, die alle „Erinnerungen des Mädchens“ an die eigene Vergewaltigung in die dritte Person Singular verlagerte, bewusst dafür entschieden hat, alles aus der Ich-Perspektive zu erzählen: „Pour moi évidemment c’est moi, je ne ressens pas cette inquiétante étrangeté dont parlent certains auteurs qui se confrontent aux photos de leur passé, puisque je n’en suis jamais sortie. C’est toujours au présent. C’est moi, c’est maintenant.“ (dt. Für mich bin das ganz klar ich, ich fühle nicht diese beunruhigende Entfremdung, von der manche Autoren sprechen, die sich mit Fotos aus ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, weil ich dem niemals entkommen bin. Es ist immer noch da. Das bin ich, das ist jetzt).
Und das ist das eigentliche Drama dieser Geschichte: Dass man auf jeder Seite spürt, dass es für eine Überlebende niemals Heilung im Vergessen geben kann, dass man sexuellen Missbrauch genau genommen nicht überlebt, sondern mit dessen Erbe man, einmal geschehen, immer wird leben müssen. Genau von einem solchen Leben mit der Missbrauchserfahrung handelt Triste tigre. Wie damit umgehen ohne daran zu zerbrechen? Wie damit umgehen ohne in einer bemitleidenswerten Opferrolle stecken zu bleiben? Schreibt sie dieses Buch vielleicht auch deshalb, um weiterem Missbrauch auf irgendeine Art vorbeugen zu können? Sinno findet keine Antworten, aber viele Fragen bei ihrer Suche nach dem, was es ist, was Missbrauch ausmacht. An einer Stelle schreibt sie, dass die eigentliche Gewalt des Missbrauchs die Entmenschlichung ist. Die Täter sehen ihre Opfer als Objekte, mit denen sie umgehen können wie es ihnen beliebt. Die Gesellschaft sieht die Opfer nicht selten als Skandalobjekte, denen man im besten Fall Mitleid entgegenbringt. Sinno widersetzt sich diesen Zuschreibungen. Sie schreibt aus der Perspektive eines fürs Leben gezeichneten Missbrauchsopfers, ja. Vor allem aber schreibt sie und wird so zu einem Ich, zum denkenden Subjekt, zur Autorin.
Es ist in letzter Zeit etwas in Mode gekommen, Literatur nach ihrem inhaltlichen Mehrwert zu beurteilen. Ein wichtiges Buch, heißt es dann, eines, das man unbedingt lesen solle, um diese oder jene Perspektive besser nachvollziehen zu können. Und auch ich bin versucht, Triste tigre als eines dieser Bücher zu bezeichnen. Es ist ein wichtiges Buch mit einem gesellschaftsrelevanten Thema. Nicht selten wirken solche Kritiken allerdings beinahe so, als müsste man ein Buch nur, d.h. ausschließlich, wegen der schrecklichen Erfahrungen lesen, die dort geschildert werden. Als wäre es fast zu gesellschaftsrelevant, um überhaupt eine objektive Kritik zu üben. Doch ein solches Fazit würde Triste tigre nun wirklich nicht gerecht. Denn es ist auch ein äußerst kluges Buch, eines, mit dem Sinno die Ästhetik einer Opferperspektive vorführt – meisterlich. Dass sie beweist, dass es geht, dass sich über Missbrauch schreiben lässt ohne gängige Narrative zu bedienen, ist nichts weniger als das: ganz große Kunst. Vollkommen zurecht wurde Sinno für Triste tigre in diesem Jahr mit dem Prix Femina ausgezeichnet.
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