Spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie hat die Figur des Flaneurs in der französischen Literatur wieder Konjunktur. Statt fernen Ländern wendet man sich heimischen Gefilden zu, um sie buchstäblich Schritt für Schritt (aufs Neue) zu erkunden. Diese entschleunigte Form der Mobilität scheint die Gedanken auf besondere Art und Weise zu beflügeln. Dass auch Weltenbummler Mathias Énard die Kunst des Spazierengehens für sich entdeckt hat, illustriert sein neues Buch Mélancolie des confins: Nord. Dieser erste, in den Straßen von Berlin beheimatete Band bildet, so viel sei verraten, den Auftakt einer in alle vier Himmelsrichtungen weisenden Tetralogie, die – wie so häufig bei Énard – Intimes und Historisches verschmelzen lässt. In Fachkreisen gilt der zwischen den Metropolen Barcelona und Berlin hin- und herpendelnde polyglotte Goncourt-Preisträger fast schon als Universalgelehrter, und dies völlig zu Recht. Wer eines seiner in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher liest, begreift sofort weshalb, sprudelt doch daraus ein schier unerschöpflicher Wissensquell. Die gelegentliche Schwere des kulturgeschichtlichen Stoffs federt Énard mit einer hochsensiblen Sprache ab, die selbst subtilste menschliche Empfindungen seismografisch genau erfasst. In Mélancolie des confins: Nord finden wir all das, wenngleich das allzu verspielt, ja fast schon kitschig wirkende Buchcover diese Qualitäten auf den allerersten Blick zu dementieren scheint. Schon der Titel deutet auf gleich zwei zentrale Themen hin, die den Text refrainartig durchqueren: Melancholie und Grenze.
Wenden wir uns zunächst dem ersten dieser beiden Begriffe zu. Damit gemeint ist jene ganz Berlin mit einem Schleier der Trauer überziehende melancholische Gestimmtheit des Erzählers, der nach einem Krankenhausbesuch bei E. – einer guten, nach schwerem Unfall im Koma liegenden Freundin – seinen Kummer zu bewältigen sucht. Der Ortsteil Beelitz-Heilstätten samt der an die gleichnamige Klinik geknüpften (Kriegs-)Geschichte des 20. Jahrhunderts wird zum Ausgangspunkt einer langen, frühabendlichen Wanderschaft durch das herbstlich-nassgraue Berlin. Allgegenwärtig ist dabei die hellwache Erinnerung an jene, die in Gestalt einer schlichten Initiale dem einsamen Flaneur auf Schritt und Tritt folgt. Dieser aber verspürt noch eine andere Präsenz. Jeder Winkel, jede Straßenecke von Berlin atmet Historie, jeder Baum, so schreibt Énard, gräbt sein Wurzelwerk tief in den Boden der Vergangenheit hinein. Und so kommt der wissensdurstige Erzähler nicht umhin, all diese stummen Zeugen der Geschichte wachzurütteln und ihren Phantomen (darunter Goethe, Kollwitz, Haydn und Fontane) aufzulauern. Doch war Berlin nicht nur Heimat- und Wirkungsort unzähliger Genies aus Kunst und Wissenschaft, sondern auch Schauplatz bestialischer Schlachten, deren Opfer bis heute im Erdboden der Hauptstadt schlummern: „Überall liegen Tote“, so heißt es mahnend im Text auf Deutsch. Inselgleich fügt sich Berlin – und damit kommen wir auf den zweiten titelgebenden Begriff zu sprechen – in die Weiten der einstigen Mark Brandenburg und damit in jene vormals von Slawen besiedelte Grenzlandschaft ein, die Ende des 12. Jahrhunderts im Zuge der zweiten Ostexpansion unter die Herrschaft der altsächsischen Askanier fiel. Ausgehend von diesem Geschichtspanorama spannt der deutschlandaffine Énard eine weitreichende Reflexion über den Begriff der Grenze auf, die das Wesen der Literatur und des Menschen selbst umschließt. Literatur, so gibt Énard uns zu verstehen, situiert sich seit jeher am schmalen Grat zwischen Leben und Tod, zwischen dem, was war, ist und vielleicht noch kommen wird.
Als Grenzgängerin par excellence benennt sie ungeschönt die Schrecken der Vergangenheit, ohne dabei jemals gänzlich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verlieren. Als der Erzähler, erdrückt von der Sorge über E., das Klinikum verlässt, kommt ihm unweigerlich ein Vers der peruanischen Dichterin Blanca Verala in den Sinn: „Donde todo termina, abre las alas“ (dt.: „Wo alles endet, öffne die Flügel“). Damit steht dieser Sinnspruch mottoartig am Anfang eines Werks, das entlang der fragilen Grenze zwischen Mutlosigkeit und Zuversicht, Verzweiflung und Vertrauen Stück für Stück Entfaltung findet. Sinniert Énard über den Begriff der Grenze, vollzieht er kunstvoll den Spagat zwischen Geschichte und Geografie, menschlicher Psyche und Literatur. Sichtbar werden dann auch all jene nach außen verborgenen Verwerfungslinien, die unser innerstes Ich entzweien. Für mich steht jedenfalls fest: Énard erweist sich nicht nur als profunder Kenner der Kulturen (auch der schon in Boussole / Kompass so viel beschworene Orient gibt in seinem neuen Buch ein, wenn auch kurzes, Stelldichein), sondern auch als Meister der Liebes- und Freundschaftsprosa. Während Kompass die fiktive Geschichte einer unerfüllt gebliebenen Liebe erzählt, stimmt Mélancolie des confins: Nord eine leise, wundervolle Hymne an die Freundschaft an. Aber geht es dabei wirklich nur um Freundschaft? Wieder einmal scheinen die Grenzen porös zu sein, sieht sich doch der Erzähler vor die heikle Frage gestellt, ob wahre Freundschaft dem Zauber der Erotik widerstehen kann.
Obwohl er eine eindeutige Antwort schuldig bleibt, macht dieses Beispiel klar, was Mélancolie des confins: Nord so lesenswert macht: vielleicht weniger die Vielzahl an kulturhistorischen Exkursen, die hie und da das Lesevergnügen trüben können, als vielmehr all jene die mentalen Eskapaden des Flaneurs in Berlins Geschichte vorübergehend unterbrechenden Passagen, die mit feinsinnigem Humor Alltägliches beschreiben. So zum Beispiel, als der Erzähler, von der jähen Lust auf Gulaschsuppe übermannt, im Supermarkt den per Videoclip lancierten Werbeslogan „supergeil“ für das französische Ohr so gut es irgend geht verständlich machen will. Oder als er jenen üblen Geruch beklagt, den die Samen des weiblichen Gingkobaums unter den Schuhsolen des arglosen Spaziergängers verströmen, sobald in Berlin der Frühling naht. Schmunzeln muss der Leser auch dann, als der Erzähler kurz vor Ladenschluss eine Buchhandlung betritt, wo er – vom Fisselregen komplett durchnässt – unter den argwöhnischen Blicken der Verkäuferin Schirm und Schirmständer unfreiwillig malträtiert. Zum Schluss ein kurzes Fazit: Auch wenn uns Énard mit seinem neuen Buch (wieder einmal) ein gehöriges Interesse an Kulturgeschichte abverlangt, so überwiegt doch die Vorfreude auf den zweiten Band, in welche Himmelsrichtung auch immer er uns führen mag.
Mathias Énard: Mélancolie des confins: Nord. Arles: Actes Sud, 320 S.
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