Der Dichter und sein Henker

Der Journalist Hervé Algalarrondo geht auf Spurensuche in die Picardie und trifft vor allem auf unwillige Informanten

Veröffentlicht am
15.9.2021
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
Hier klicken um den Beitrag runterzuladen

In seinem vorletzten Werk fragte sich der Schriftsteller Édouard Louis bereits im Titel, wer seinen Vater umgebracht habe. Oder besser gesagt: Er fragte nicht, er stellte fest. Erst am Ende des Pamphlets liefert er Namen: Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Macron, Bertrand, Chirac. Nun, Jackie Bellegueule, wie Louis’ Vater heißt, erfreut sich vielleicht nicht bester Gesundheit, aber ist doch immer noch quicklebendig. Der Mord, den sein Sohn anprangert, bezieht sich daher eher auf die soziale Existenz des Vaters, die die französische Sozialpolitik der letzten zwanzig Jahre auf dem Gewissen habe. Wir wissen nicht, wie der aktuelle französische Präsident Emmanuel Macron auf diese Vorwürfe reagiert hat.  Was wir aber wissen, ist, dass er seit seiner Wahl im Jahr 2017 zu den erklärten Feindbildern des jungen Schriftstellers gehört, der zusammen mit seinen Freunden, dem Soziologen Didier Eribon und dem Sozialphilosophen Geoffroy de Lagasnerie, immer wieder öffentlich Stimmung macht gegen den „Macronisme“. Darunter verstehen die drei linken Intellektuellen vor allem eine Anbiederung an den neoliberalen Zeitgeist, die systematische Unterdrückung der sozial Schwachen, die Tolerierung von Polizeigewalt sowie die Reproduktion gesellschaftlicher Eliten – kurz: Macron verkörpere das alte französische Establish­ment, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte. Macron wird in der Wahrnehmung von Louis, Eribon und Lagasnerie als das Böse schlechthin imaginiert, als Henker des französischen Sozialstaats.

Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der ehemalige L’Obs-Journalist Hervé Algalarrondo nun unter dem Titel Deux jeunesses françaises eine Art Doppelbiografie vorgelegt hat, die sich ausgerechnet den beiden Kontrahenten Louis und Macron widmet. Diese Zusammenstellung ist jedoch keineswegs nur diesem, nun ja, eher gespannten Verhältnis geschuldet. Es gibt tatsächlich eine erstaunliche Vielzahl an Gemeinsamkeiten, die eine solche Engführung der beiden Lebensläufe rechtfertigt. Beide Protagonisten stammen aus der Picardie, beiden ist auf sehr unterschiedliche Weise der Aufstieg in die elitären Kreise der französischen Hauptstadt gelungen und beide, so Algalarrondo, haben ihre picardischen Wurzeln im Laufe ihrer Karriere mehr oder weniger gekappt. Schon im Klappentext wird eine literarische Figur genannt, die für die beiden Karrieren Pate gestanden haben könnte, nämlich Balzacs Figur des Arrivisten aus der Provinz: Eugène de Rastignac. Rastignac gehört zu jener Gruppe junger Männer, die aus der Provinz nach Paris kommen, um dort ihr Glück zu suchen. Doch im Gegensatz etwa zu Lucien de Rubempré und anderen gelingt Rastignac dieser Aufstieg dank seines Gespürs für die richtigen Kontakte und einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit. Für Macron mag dieser Vergleich besonders naheliegend erscheinen. Er selbst berichtete in seinem teilweise autobiografischen Buch Révolution (2016) davon, wie er als 16jähriger aus der Provinz nach Paris gekommen sei und ihn dort der wilde Ehrgeiz gepackt habe, der den Ambitionen der zielstrebigen jungen Männer aus den Romanen Balzacs kaum nachgestanden habe. Louis hingegen wird von Algalarrondo eher als Wiedergänger von Stendhals Julien Sorel präsentiert, was aber eher assoziativ motiviert ist, da in der Nähe von Louis’ Heimatdorf Hallencourt der Ort Sorel-en-Vimeu liegt, aus dem eine der letzten Freundinnen des jungen Eddy stammt.

Nach diesem literarischen Einstieg geht Algalarrondo abwechselnd vor – in Form einer Parallelmontage erzählt er die beiden so unterschiedlichen pikardischen Jugendgeschichten. In den Passagen zu Louis kann er aus dem Vollen schöpfen, da Louis selbst seine Kindheit und Herkunft ausführlich in den drei autobiografischen Texten En finir avec Eddy Bellegueule (2014), Histoire de la violence (2016) und Qui a tué mon père (2018) ausgebreitet hatte – der vierte (Combats et métamorphoses d’une femme, 2021) lag zumAbschluss von Deux jeunesses françaises noch nicht vor. Daher muss man sich zwangsläufig fragen: Was bietet Algalarrondo den zahlreichen Louis-Lesern Neues? Zunächst ganz schlicht ein neues Geburtsjahr: Während sowohl der deutsche als auch der französische Wikipedia-Artikel die Geburt von Eddy Bellegueule auf das Jahr 1992 datieren, hat Algalarrondo herausgefunden, dass Louis ein Jahr älter ist, was unter anderem sein Vater Jackie Bellegueule bestätigt hat. Auf der Autorenseite des Fischer-Verlags, der die deutschen Ausgaben von Louis’ Werken herausgibt, steht mittlerweile auch 1991 als Geburtsjahr. Diese Korrektur wäre allerdings ein etwas bescheidener Mehrwert, es folgen noch weitere. Algalarrondo hat im Rahmen seiner Recherchen in der Picardie versucht, einige Leute aus dem Umfeld des jungen Schriftstellers zu interviewen, was jedoch nicht immer von Erfolg gekrönt war. Nicht alle angefragten Familienmitglieder und Weggefährten aus Hallencourt oder Amiens zeigten sich besonders auskunftsfreudig. Immer wieder ist von geplatzten Verabredungen die Rede. Was Algalarrondo jedoch in Erfahrung gebracht hat – insbesondere dank einiger ehemaliger Lehrerinnen – ist, dass Eddys Schulalltag wohl keineswegs so düster verlaufen sei, wie Louis das insbesondere in En finir avec Eddy Bellegueule geschildert hat. Eddy sei im Gegenteil ein eher beliebter Schüler gewesen, der einerseits durch sein schauspielerisches Talent und andererseits aufgrund seines frühen politischen Engagements (z. B. für Migrantenschüler) über einen stabilen Freundeskreis verfügt habe. Louis selbst hat sein Talent fürs Theaterspiel als Eintrittskarte für seinen Bildungsaufstieg dargestellt, die es ihm ermöglichte, seine Schullaufbahn am Internat in Amiens fortzusetzen. Seine politischen Aktivitäten hat er jedoch verschwiegen. Beide Vorlieben intensiviert er in Amiens, sowohl am Gymnasium als auch später während seines Studiums. Lange Zeit – so einer seiner ehemaligen Kommilitonen – sah es sogar so aus, als strebe Louis eine politische Laufbahn an. Wir erfahren zudem, dass Louis auch während seiner Zeit in Amiens noch lange Zeit ungeoutet blieb, bis schließlich am 13. Februar 2010 eines der wohl folgenreichsten Ereignisse im Leben von Édouard Louis eintrat, das Algalarrondo als „effet Eribon“ bezeichnet. An diesem Tag lernt Louis an der Uni den bekannten Soziologen kennen, was den Auftakt einer engen Freundschaft markiert, die bis heute anhält. Ein Kommilitone beschreibt den dadurch ausgelösten Wandel des Studenten Louis: „J’aimais Eddy, cet Édouard ne me plaisait pas. Eddy était gentil, Édouard était méprisant“ ("Ich mochte Eddy, dieser Édouard gefiel mir nicht. Eddy war freundlich, Édouard war verächtlich"). Eribon war es Algalarrondo zufolge auch, der Louis mit einem Empfehlungsschreiben die Tore zur renommierten École normale supérieure öffnete, wo dieser noch im selben Jahr sein Studium fortsetzte.

Die Passagen über Macron sind noch mehr von den Schwierigkeiten geprägt, auskunftswillige Interviewpartner zu finden. So lernen wir kaum etwas, was Macron nicht schon von sich in Révolution preisgegeben hätte. Seine starke Beeinflussung durch seine Großmutter mütterlicherseits, genannt Manette, wird ausführlich beschrieben, ebenso sein Aufwachsen in einem bürgerlichen Viertel von Amiens und seine literarischen Neigungen. Die Tatsache, dass Macron in seiner Jugend Schriftsteller werden wollte und sogar einen Roman über einen spanischen Konquistador geschrieben hatte, konnte man schon in Michaela Wiegels Macron-Biografie aus dem Jahr 2018 nachlesen. Was schließlich in Louis’ Leben der „effet Eribon“ war, stellte natürlich in Macrons Biografie der berühmte „effet Brigitte“ dar. Die märchenhafte und zugleich vom familiären Umfeld geächtete Liebesgeschichte zwischen Schüler und Theaterlehrerin sei es vor allem gewesen, die Macron nach Paris getrieben habe. Bekanntlich blieben die Versuche, die beiden Liebenden durch diesen Wohnortwechsel dauerhaft zu trennen, erfolglos. Viel mehr erfährt man nicht über die jeunesse von Emmanuel Macron. Jegliche Versuche, im privaten oder politischen Umfeld des französischen Präsidenten an intime Details zu gelangen, scheitern an einer Mauer des Schweigens. So bleibt vieles im Leben des einstigen Wunderkinds, das später zu Beginn seiner Amtszeit so oft mit der Jupiter-Figur verglichen wurde, weiterhin rätselhaft.

Lohnt also die Lektüre von Algalarrondos Doppelbiografie trotz eines gewissen Defizits an neuen Informationen über die beiden Protagonisten? Ja, unbedingt. Allein schon die Parallelisierung zweier Lebensgeschichten, die jeweils von der Flucht aus der zu eng gewordenen Provinz nach Paris erzählen, hat tatsächlich etwas von Balzac oder Stendhal. Algalarrondo montiert diese Geschichten geschickt zusammen und zeigt auf, wie aus Eddy Bellegueule, der einmal Politiker werden wollte, einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Generation und wie aus Emmanuel Macron, der in seiner Jugend literarische Ambitionen hegte, der französische Präsident wurde. Beide haben dem Theaterspiel einen großen Teil ihrer so unterschiedlichen Karrieren zu verdanken und beide brauchten jeweils einen ‚Fluchthelfer‘ bzw. eine ‚Fluchthelferin‘, um in der Hauptstadt zu reüssieren. Dass sich beide wohl zutiefst verachten – von Louis wissen wir es, von Macron kann man es nur vermuten –, verleiht diesem doppelten Bildungsroman eine durchaus ironische Note. Natürlich muss man sich im Klaren darüber sein, dass Algalarrondo Journalist im Hauptberuf ist, was dazu führt, dass Deux jeunesses françaises an manchen Stellen etwas kolportagehaft ausgefallen ist – man wartet als Leser förmlich auf immer mehr Gossip. Das ändert aber nichts daran, dass man anhand dieses originellen Zugangs ein spannendes Stück französische Zeitgeschichte zu lesen bekommt und sich am Ende wie nach der Staffel einer Netflix-Serie fragt, wie das wohl weitergehen wird mit Édouard und Emmanuel. Es wäre durchaus nicht ganz unwahrscheinlich, dass der inzwischen fast 30jährige Schriftsteller eines Tages in der Politik landen wird oder dass sich der noch amtierende Präsident nach seiner politischen Karriere doch noch der Literatur zuwenden wird – er wäre nicht der erste französische Politiker dieser Art.

Hervé Algalarrondo: Deux jeunesses françaises, Paris: Grasset 2021, 224 S.

Weitere interessante Beiträge

Wenn das Pissoir zum Kunstwerk wird

Wolfgang Asholt widmet dem Surrealismus pünktlich zum 100-jährigen Geburtstag eine umfassende Studie

Walburga Hülk

Walburga Hülk

Universität Siegen
Zum Beitrag
Wenn Erzähler gefährlich werden

Jérôme Ferrari liefert in 'Nord Sentinelle. Contes de l'indigène et du voyageur' einen wortgewaltigen Abgesang auf das Patriarchat.

Matthias Kern

Matthias Kern

TU Dresden
Zum Beitrag
"So ist das nun mal".

Sandrine Collette erzählt in 'Madelaine avant l'aube' vom Lebenszyklus des unausweichlichen Elends.

Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
Zum Beitrag