Je m’appelle Fatima Daas.
Je suis la mazoziya.
La petite dernière.
Celle à laquelle on ne s’est pas préparé.
Ich heiße Fatima Daas.
Ich bin die Mazoziya.
Die jüngste Tochter.
Die, auf die niemand vorbereitet ist.
Je m’appelle Fatima – so lautet die Formel, mit der nahezu jedes Kapitel von Fatima Daas’ Roman La petite dernière (2020) (dt. Die jüngste Tochter (2021)) eingeleitet wird. Wie eine Beschwörung, Erklärung oder Selbstabsicherung lesen sich diese einzelnen Vignetten, denn sie alle legen eine neue Facette einer jungen Frau frei: Sie ist muslimisch. Sie ist gläubig. Sie ist eine Clichoise. Sie ist eine Algérienne, nein, eine Française d’origine algérienne. Sie ist eine Asthmatikerin. Eine Touristin. Sie ist eine pécheresse, eine Sünderin. Eine menteuse, eine Lügnerin. Sie ist eine, die nach Stabilität, nach ihrem Platz in der Welt sucht, eine Kaiserschnittgeburt. Sie ist eine unangepasste Teenagerin. Sie ist die, die täglich drei Stunden in der Metro verbringt, um aus dem Pariser Banlieue zur Uni zu kommen. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt. Sie ist verliebt in Nina. Und sie ist das Kind von Ahmed und Kamar, die jüngste von drei Schwestern, die Letztgeborene, vor allem ist sie die Letztgeborene.
Die Mutter Kamar ist es, die an einer Stelle im Roman ungewollt auf den Punkt bringt, was dies bedeutet. Bei einer Autofahrt mit Fatima und ihrer Schwester gibt sie der Älteren den Tipp, nur zwei Kinder zu bekommen, das reicht für die perfekte Familie, jedes weitere ist eines zu viel. Und auch, wenn sie nur wenige Sekunden später mit Blick auf die Rückbank entschuldigend hinterherschiebt „C’est le mektoub“, Schicksal, so dringt die eigentliche bittersüße Message durch wie Schweiß durch ein zu billiges Deodorant: La petite dernière ist die Überflüssige, eine Außenseiterin. Denn Schicksal ist immer beides: Glück und Unglück zugleich. Genau aus diesem Gefühl ist der Text geschrieben.
Daas findet eindrückliche Bilder für diese Zerrissenheit und Einsamkeit von einer, die immer im Dazwischen lebt. So ist sie die einzige ihrer Familie, die in Frankreich geboren ist, bei Besuchen der Großfamilie in Algerien verstehen die Verwandten ihr Arabisch nicht – zu französisch. In Frankreich erlebt sie derweil Alltagsrassismus, etwa als der Spanischlehrer sie zum Gespräch bittet: Die Hausaufgaben seien so gut geschrieben, die habe sie ja wohl nicht selbst erledigt. In der Schule ist sie die Rebellin, schließt sich den Jungs an und merkt schon früh, dass sie auf Frauen steht. Mit wem darüber reden, wenn in der Familie das große Schweigen herrscht über eigentlich alles, aber vor allem auch über Liebe und Sexualität? Mit einem Vater, der den Fernseher mit dem Kommentar khmaj, Verdorbenheit, ausschaltet, wenn in der Teenie-Serie Charmed ein Mann die Hand einer Frau streift, sicher nicht. Trotzdem: Sie kommt nicht los davon, will sich nicht vom Islam abwenden, auch wenn ihre Religion Homosexualität verdammt. Und sie kommt auch in der LGTBQI-Szene nicht richtig an. Zwar ist diese ein Zufluchtsort, aber so ganz kann sie sich nicht identifizieren mit den progressiven Ideen von Polyamorie und freier Liebe, die dort Standard sind – alles andere altmodisch. Neidisch blickt sie auf Freundinnen, die sich ihrer anerzogenen Moralvorstellungen einfach so entledigen können, ihr gelingt dies nur zum Preis von emotionaler Kälte und Gewissensbissen – die Rebellin, hier ist sie im Herzen die Spießige, die Traditionelle. Mit fünfundzwanzig lernt sie schließlich Nina kennen, die „héroïne“ ihrer Geschichte, die noch verschlossener ist als sie selbst. Eine Zäsur auf ganzer Linie, so viel sei verraten.
Je m’appelle Fatima.
Je cherche une stabilité.
Parce que c’est difficile d’être toujours à côté, à côté des autres, jamais avec eux, à côté de sa vie, à côté de la plaque.
Ich heiße Fatima.
Ich suche Stabilität.
Denn es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben.
Lesbisch, gläubig, banlieusarde – das ist viel Stoff für ein einzelnes Buch, komplex und politisch brisant. Der Roman könnte leicht ins Dogmatische abrutschen, tut er aber nie, hier wird an keiner Stelle ein politisches Programm heruntergebetet. Das ist vor allem Daas’ dichter und im besten Sinne intimer Sprache zu verdanken. Mal erinnert das Buch in seiner Form an poèmes en prose, mal an die knallenden Punchlines eines Rapsongs, man denkt beim Lesen an Sappho, an Ocean Vuong oder die Suren des Korans. Immer wieder werden arabische Begriffe eingestreut, definiert, erklärt, umformuliert. Kendrick Lamar und Lil Wayne fließen ebenso natürlich in den Text mit ein wie Marguerite Duras und Annie Ernaux.
„C’est par la délicatesse de son style que Fatima Daas ouvre sa brèche“ („Durch die Feinheit ihrer Sprache legt sich Fatima Daas offen“), wird Virginie Despentes auf der Banderole der französischen Ausgabe des Notabilia-Verlags zitiert. Und es stimmt. Fatima Daas bleibt immer ganz bei sich – zum Glück. Denn so lässt sie uns ganz dicht heran an die Zerrissenheit eines Ichs, das seinen Platz sucht in der Welt. Von diesem Standpunkt aus, wirft sie die relevanten Fragen auf und lässt dabei genug Raum, um die verschiedenen Positionen nachhallen zu lassen. Ein Ich als Echokammer. Die fragmentarische Form und die poetische Kraft der Sprache spiegeln, nein stellen dabei den Inhalt. Kein Plot, keine Chronologie nötig, um diese Coming-of-Age-Story zu erzählen, der eigene Sound genügt. Weil genau das die allem zugrundeliegende Triebkraft des Romans ist: Fatima Daas findet hier ihre eigene Stimme – im Mix und Remix von verschiedenen Facetten, Registern, Snapshots. Zurecht hat sie unlängst zusammen mit der Übersetzerin Sina de Malafosse den Internationalen Literaturpreis im Haus der Kulturen der Welt gewonnen.
Und ja, in Anbetracht der Tatsache, dass La petite dernière Fatima Daas’ Erstling ist, kann das Finden der eigenen Stimme durchaus doppeldeutig verstanden werden. Wer nun allerdings glaubt, es handele sich bei dem Roman um eine einfache Autobiografie in stylischem Outfit, geht der Autorin gehörig auf den Leim: „Fatima Daas“ ist ein Pseudonym. Die Autorin hat den Namen ihrer eigenen Figur stibitzt. Zunächst einmal als amüsantes Spiel mit Figurenebene, Erzählerin und Autorinneninstanz, aber eben auch als Spiel mit der Erwartungshaltung eines Lesepublikums, das autofiktionale Erzählungen immer auch auf ihre gesellschaftliche Relevanz und verwertbare Authentizität abklopft. Wie im Roman entzieht sich die Autorin Fatima Daas jeglicher eindimensionaler Identitätszuschreibung. Sie wollte, so sagte sie kurz nach Veröffentlichung des Romans im Interview mit France Inter, schließlich kein journal intime schreiben, sondern ernsthafte Literatur. Das ist ihr – hands down – auf ganzer Linie gelungen.
Fatima Dias: La petite dernière, Paris: Sodis 2020, 186 S. (Die jüngste Tochter. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Claassen 2021, 193 S.)
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