Cher Connard, Liebes Arschloch, so lautet der Titel des neuesten Romans der französischen Starautorin Virginie Despentes. Viele von Ihnen kennen sicherlich die Subutex-Trilogie, in der Despentes vor einigen Jahren ausgehend von der Lebensgeschichte des verarmten Plattenhändlers Vernon Subutex ein Tableau der französischen Gegenwartsgesellschaft auffächerte. Die Reihe brachte der Autorin auch hierzulande Vergleiche mit Balzac ein und wurde sogar als Serie verfilmt – ein unglaublicher Hit. In Cher Connard geht es nun, zumindest, wenn man dem Klappentext Glauben schenken darf, wieder um die ganz großen Themen unserer Zeit: #metoo, Social Media, Drogen, Feminismus. Und das alles verfasst als Brief- bzw. E-Mail-Roman, in dem die Stimmen der gealterten Schauspielerin Rebecca, des schreibkrisengebeutelten Schriftstellers Oscar und der radikalen Netzfeministin Zoé aufeinander treffen. Wir haben uns von der Form des Romans inspirieren lassen und uns über Cher Connard nun ebenso wie die drei Hauptfiguren des Romans per E-Mail ausgetauscht. Unseren Mailwechsel können Sie nun hier nachlesen.
Ihr Lieben,
wie Ihr wisst, habe ich mir den neuen Roman von Virginie Despentes mit dem schillernden Titel Cher connard gleich nach seinem Erscheinen im Spätsommer in Frankreich gekauft. Er wurde ja als großer „MeToo“-Roman angekündigt und in den französischen Medien überwiegend hymnisch besprochen. Selbst in der F.A.S. erschien am 25. September eine rundum positive Kritik, was bei einem Roman eher unüblich ist, der noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde – Liebes Arschloch ist erst für den 9. Februar dieses Jahres angekündigt. Die Vorab-Rezension des französischen Originals zeigt nicht zuletzt den gestiegenen Stellenwert von Despentes auch hierzulande, der sich wohl vor allem dem immensen Erfolg ihrer „Vernon Subutex“-Trilogie (2015–2017) verdankt. An ihren Vorgänger-Werken kann es kaum liegen, da diese nach wie vor allesamt vergriffen und nur antiquarisch zu haben sind.
Vernon Subutex war für mich wohl auch der Grund, warum ich seinen Nachfolger erst mal für einige Wochen ungelesen in meinem Bücherregal habe stehen lassen. Dieser wirklich große Roman um den heruntergegekommenen Plattenverkäufer und seine kunterbunte Entourage gehört zu meinen absoluten Lieblingsromanen der letzten Jahre, und mir war nach allem, was ich bislang über Cher connard gelesen hatte, eigentlich schon klar, dass er wohl niemals an Despentes’ Chef-d’Œuvre heranreichen würde. Daran konnte auch der Klappentext nichts ändern, der Despentes’ jüngsten Wurf immerhin als „Liaisons dangereuses ultra-contemporaines“ vermarktet. Das Problem: Auch der Briefroman von Choderlos de Laclos aus dem Jahr 1782 rangiert schon seit Jahren in der Top Ten meiner All Time Favourites – die Messlatte lag damit einfach schon im Vorhinein viel zu hoch. Man könnte meine verspätete Lektüre im Dezember folglich mit so etwas wie „Angstspannung“ begründen, mit der Angst vor der großen Enttäuschung.
Wie ist es euch ergangen?
Liebe Grüße,
Gregor
Bonjour,
es ist Sonntag, ich hätte eigentlich Zeit, Cher connard noch einmal aus meinem Bücherregal zu fischen, denn ich muss gestehen, dass mir noch etwas mehr als 100 Seiten fehlen. Allerdings war das auch schon vor den Weihnachtsferien so. Selbst in der Weihnachtspause konnte ich mich nicht durchringen, den Briefroman zu Ende zu lesen. Stattdessen hab ich Dostojewskij bevorzugt. Es geht doch nichts über die Abgründe der menschlichen Seele! Von ihm fühlte ich mich im Unterschied zu Despentes gut unterhalten.
Nach dem gemeinsamen Seminar, das Lea und ich im vergangenen Sommer zum ersten Subutex-Band angeboten hatten, habe ich mich eigentlich auf einen provozierenden Hochgenuss gefreut. Politisch unkorrekt über #MeToo schreiben, damit hatte ich ehrlich gesagt gerechnet. Falsch gedacht, sag ich dazu nur. Ich muss ehrlich gestehen: An diesem Roman packt mich wirklich gar nichts. Von ihrem neuen Roman wird mir wohl nicht viel mehr als mein müdes Gähnen in Erinnerung bleiben. Dass ich es nicht schon früher gelangweilt in mein Bücherregal gestellt habe, verdankt sich wohl allein der Tatsache, dass Du es mir zum Geburtstag geschenkt hast, haha! Lea, Du wurdest doch von Gregor auch mit Despentes’ jüngstem Roman beschenkt, wie sieht es bei Dir aus?
Macht Euch einen schönen Sonntag! In Landau scheint gerade die Sonne, ich geh' jetzt nach draußen,
Lars
Ihr Lieben,
mir ging es vor der Lektüre ähnlich wie dir, Gregor, und auch ich habe die ‚Angstspannung‘ zwischen großer Erwartung und befürchteter Enttäuschung gespürt, sodass ich mich erst jetzt dazu durchringen konnte, den Roman tatsächlich zu lesen. Die Subutex-Bücher gehören zu meinen Lieblingsbüchern des vergangenen Jahrzehnts, alle, wirklich alle Figuren aus der Trilogie sind mir mittlerweile so sehr ans Herz gewachsen, dass ich manchmal wirklich glaube, sie seien alte Bekannte, die ich jeden Moment auf der Straße treffen könnte, wenn ich nochmal ein paar Tage in Paris verbringe.
Das kann man von Rebecca, der gealterten Filmdiva, und Oscar, dem Autoren und #MeToo-Opfer, die in Cher connard aufeinandertreffen, nun wahrlich nicht behaupten. Ebenso wie die junge Feministin Zoé, die kaum zu Wort kommt, obwohl sie ja den im Klappentext angekündigten #MeToo-Skandal erst in die Öffentlichkeit bringt – oder sollte ich schreiben: anzettelt? Abgesehen davon, dass dieser Vorfall zwischen Oscar und Zoé kaum eine Rolle spielt, und in der Vermarktung des Romans, gelinde gesagt, etwas überstrapaziert wird, bleibt nach dem Ende der Lektüre gar der unangenehme Beigeschmack, dass Zoé vielleicht doch ein bisschen übertrieben hat mit ihrer Darstellung des sexuellen Übergriffs. Ist doch Oscar eigentlich ein ganz netter Kerl und am Ende ja auch einsichtig. Und Rebecca berichtet ja auch davon, dass sie sich selbst als Frau eigentlich immer ganz gut durchschlagen konnte in der Filmwelt aka eine der sexistischsten Branchen überhaupt.
Dieser Eindruck ist von Despentes – eigentlich ja eine Feministin, die sich lautstark für die Opfer von sexualisierter Gewalt einsetzt, wie beispielsweise in ihrem berühmten Kommentar nach der Verleihung Césars an Roman Polanski im Jahr 2020 – sicherlich nicht so intendiert. Bleiben tut er trotzdem. Dabei ist das Kreieren von vielschichtigen Figuren mit durchaus kontroversen Ansichten doch gerade Despentes' Stärke. Man denke beispielsweise an Xavier, den gutbürgerlichen ’Normalo’ mit den rechtsradikal-homophoben Meinungen und ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexen aus den Subutex-Büchern. Diese schillernde Figurendarstellung fehlt mir hier vollkommen, sodass Rebecca und Oscar mir leider seltsam fern blieben.
Wie ist es euch da ergangen? Habt ihr mit den beiden Protagonisten aus Cher connard mitfühlen können? Und was glaubst du, Lars, hat zu dieser Langeweile geführt, die du beim Lesen gespürt hast? Ein öffentlicher #MeToo-Skandal ist doch erst einmal ein spannender Aufhänger für eine Geschichte, wie du ja auch selbst gesagt hast.
Hier in Leipzig scheint nun auch die Sonne, ich grüße euch lieb,
Lea
Guten Morgen,
also ich finde ja schon, dass man Bücher nur besprechen sollte, wenn man sie auch ganz gelesen hat. Da mich der letzte Houellebecq so sehr gelangweilt hat, habe ich ihn auch nicht bis zum Ende gelesen. Also Lars, courage!
Mich haben die drei Hauptfiguren in Cher Connard auch nicht berührt – da bin ich ganz bei dir, Lea. Die alternde Filmdiva und der Erfolgsschriftsteller in der Krise, beide auf Drogenentzug. Das ist natürlich im Vergleich zu Vernon Subutex ein mehr als eingeschränktes Personaltableau. Dagegen wäre ja nichts zu sagen, wenn Oscar nur nicht so wehleidig und Rebecca nicht so schablonenhaft wäre. Am schlimmsten finde ich jedoch Zoé, die das #MeToo-Skandälchen um Oscar erst ins Rollen bringt: Sie meldet sich zum Glück nicht allzu häufig zu Wort, aber wenn sie es tut, produziert sie eigentlich nur Thesen, von denen man einige schon aus Despentes’ King Kong Théorie kannte. Meine Lieblingsfigur war Corinne, die lesbische Schwester von Oscar. Leider hat sie keine eigenen Wortbeiträge, aber von ihr hätte ich gerne mehr gelesen. Überhaupt hätte dem Roman etwas mehr Vielstimmigkeit gutgetan. Man hätte auch Oscars Ex-Frau oder seiner Tochter eine Stimme geben können. Auf diese Weise wäre der Roman vielleicht etwas dynamischer ausgefallen und hätte vielleicht tatsächlich eine interessante Neuauflage der Liaisons dangereuses werden können. So ist er mir zu statisch, zu thesenhaft und zu vorhersehbar. Das mangelnde Tempo entspricht auf der anderen Seite gut dem historischen Background der Corona-Lockdowns, die der Roman thematisiert.
Was mich gleich zu Beginn gestört hat, ist die Ausgangssituation des Plots: Oscar hat einen #MeToo-Skandal an der Backe, und als Reaktion beleidigt er auf seinem Social-Media-Kanal eine Schauspielerin, die er zum einen persönlich kennt und zum anderen sehr verehrt – sorry, das finde ich nach wie vor nicht besonders überzeugend.
Ich meckere und meckere – konntet Ihr dem Roman auch positive Seiten abgewinnen?
Frostige Grüße aus Frankfurt,
Euer Gregor
Hallo ihr Lieben,
wie weit bist du mit der Lektüre, Lars? Oder hast du schon aufgegeben?
Ich gebe dir vollkommen Recht, Gregor, etwas mehr Vielstimmigkeit hätte dem Roman sehr gut getan. Vielleicht war diese Lethargie, die durch die Reduktion der Erzählung auf Oscars und Rebeccas Briefaustausch (gut, und die wenigen Stellen, an denen Zoé zu Wort kommt), auch beabsichtigt, wie du schon richtig anmerkst. Das spiegelt, so finde auch ich, dann letztlich doch ganz gut die Corona-Stimmung wider, bei der Tage, Monate, schließlich Jahre breiig ineinanderflossen. Einheitsbrei.
Ich fand auch das eigentliche Thema des Romans sehr interessant. Der Klappentext und die Ausgangssituation sind ja total irreführend. Eigentlich geht es ja um Drogensucht, unter der sie beide, Filmdiva und Schreiberling, leiden. Und das muss man Despentes lassen: Über Sucht schreiben, das kann sie! Schon in Vernon Subutex war ich schockiert und berührt gleichermaßen von der Genauigkeit, mit der sie Suchtdruck und Verzweiflung aufs Papier bringt. Mir gefallen dementsprechend auch in Cher Connard die Stellen am besten, in denen die beiden über die Krankheit und die virtuellen Besuche bei den NA (Narcotics Anonymous) berichten. Zugegeben, ich habe auch mit dreizehn schon Christiane F. verschlungen und hege eine gewisse, nun ja, fragwürdig voyeuristische Faszination für Suchtberichte. Für mich wäre diese psychologische Innenschau schon vollkommen ausreichend gewesen bzw. ich hätte gerne noch mehr darüber erfahren: Wie wirkte sich die Sucht genau auf die Familien der beiden aus? Wie fing es genau an? Wie war der erste Rausch genau? Das wird leider alles nur angeteasert und mit dieser wirklich vollkommen unlogischen, weil unglaubwürdigen #MeToo-Story verknüpft.
Als Zoé schließlich wegen der ganzen Chose - Achtung Spoiler! - in der Psychiatrie landet, hört es bei mir echt auf. Unfreiwillig rutscht es da schon fast ins Misogyne ab. Ich glaube, Despentes wollte zeigen, wie traumatisch ein Backlash sein kann, wenn man sich öffentlich als Opfer outet und sicherlich ist es das auch. Dass die Hardcore-Feministin Zoé sich allerdings von ein paar Internettrollen in die Klapse mobben lässt, ist dann doch etwas zu viel, um wirklich nachvollziehbar zu sein. Damit möchte ich nicht sagen, dass solche Erlebnisse nicht tatsächlich traumatisch sind, im Gegenteil, man denke an die ganzen Shitstorms, die auch hierzulande beispielsweise Gina Lisa Lohfink oder Ines Anioli erleben mussten, nachdem sie sich gegen die Täter öffentlich zur Wehr gesetzt haben. Das Problem liegt nicht daran, dass ich nicht glaube, dass so etwas im wahren Leben so passieren könnte, sondern dass ich es innerhalb der Romanwelt nicht nachvollziehbar finde. Und das liegt, meinem Eindruck nach, daran, dass Zoés Seite nicht detailliert genug erzählt wurde, ihre emotionale Welt damit gegenüber derjenigen des Täters blass erscheint.
Und gerade das ist das, was ich Despentes als (sicherlich nicht von ihr intendierte) Reproduktion misogyner Berichterstattung im Kontext von #MeToo vorwerfen würde: Hier wird dem Täter mehr Aufmerksamkeit, mehr Redeanteil geschenkt als der Betroffenen. Was schade ist, denn ein solcher Roman ist tatsächlich längst überfällig. Wie seht ihr das?
Puh, jetzt habe ich mich richtig in Rage geschrieben. Despentes ist immer noch eine meiner Herzensautorinnen, Vernon Subutex gehört schon jetzt zu meinen all time favourites, die ich nahezu jedes Jahr noch einmal lese. Deswegen verbuche ich diesen Roman einfach als einen Schnellschuss und warte auf das, was als nächstes kommt. Und ihr?
Liebe Grüße
Lea
Ihr Lieben,
gestern ist der neue Roman von Juli Zeh erschienen, den sie zusammen mit Simon Urban geschrieben hat. Er heißt Zwischen Welten, aber was hat das Ganze mit unserem Thema zu tun? Zwischen Welten ist ebenfalls ein Mail-Roman – die Franzosen sprechen da offenbar von „épistomail“ – und von seiner Anlage her Despentes sehr ähnlich. Die Bio-Landwirtin Theresa und der Kulturjournalist Stefan kennen sich noch aus Studienzeiten und laufen sich nach über 20 Jahren Funkstille zufällig in Hamburg über den Weg. Die beiden nehmen dieses Treffen, das wohl nicht besonders freundlich verlaufen ist, zum Anlass für einen Mailwechsel, aus dem dann langsam eine Art Brieffreundschaft wird. Ich habe bislang erst die Hälfte des Romans gelesen, aber die beiden scheinen die einzigen Stimmen in dem Roman zu bleiben. Hauptthema ist die Schwierigkeit, angesichts der heutigen „Blasen-Kultur“ miteinander ins Reden und Debattieren zu kommen. Stefan ist der hyper-woke Kulturfutzi, der alles und jeden gendert, der nicht bei 3 auf den Bäumen ist, dessen Lebensaufgabe im Kampf gegen toxische Männlichkeit und den Klimawandel besteht und für den das Tragen von Rasta-Frisuren bei Non-POCs das größtmögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Theresa kämpft indes um das Überleben ihres Brandenburger Bio-Bauernhofs, melkt morgens um 3 ihre Kühe und vernachlässigt dabei ihren Mann und die beiden Söhne. Natürlich sind die beiden Figuren Klischees für bestimmte Geselschaftskreise, aber ich fühle mich trotz der überzeichneten Schablonenhaftigkeit deutlich besser unterhalten als bei Despentes. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass Zeh und Urban die Medialität der digitalen Kommunikation weitaus besser nutzen als die Französin. Hier wird auch mal zwischendurch eine WhatsApp-Nachricht geschrieben, man wartet auf Antworten des anderen, es gibt – ganz banal – Zeit- und Datumsangaben, die eben auch für die Narration wichtig sind. All das fehlt bei Despentes. Nur selten nehmen die Schreibenden Bezug auf frühere Nachrichten, was das Potential eines Briefromans letztlich vollkommen verschenkt. Grundsätzlich gefallen mir zwar die Gesellschaftsromane von Despentes immer noch deutlich besser als die von Juli Zeh, aber in diesem speziellen Fall würde ich ausnahmsweise der Deutschen den Vorzug geben.
Und Lea, was du über Despentes’ (mal wieder) äußerst gelungene Darstellung der Sucht-Problematik schreibst, finde ich richtig. Das ist tatsächlich etwas, was ihr liegt und was einen auch berührt. Das ist unbestritten einer der Pluspunkte von Cher connard. Und lustig finde ich zudem – Funfact am Rande –, das auch mich die Lektüre von Christiane F.’s Wir Kinder vom Bahnhof Zoo schon als sehr junger Jugendlicher so stark geprägt hat, dass ich zeitlebens niemals harte Drogen ausprobieren wollte – hier hat Literatur wirklich mal ihren erzieherischen Auftrag voll und ganz erfüllt ;-) Um aber auf Despentes zurückzukommen: Leider finde ich dann aber unterm Strich das Drogen-Thema nicht interessant genug, dass es etwas an meinem eher zwiespältigen Urteil über den Roman ändern würde. Sehr schade!
Morgen Abend wird übrigens die deutsche Übersetzung von Cher connard im Literarischen Quartett besprochen. Ich bin sehr gespannt!
In diesem Sinne, liebe Grüße,
Gregor
Bonjour mes chers collègues,
also Gregor, Du machst mich neugierig auf Juli Zeh: Sie liefert, das nehme ich aus deiner Darstellung mit, schon formal das, was von einem digitalen Briefroman erwartet wird, der in unsere Zeit passen möchte: WhatsApp-Kommunikation, Angaben aus- und eingehender Nachrichten! Wie ist es mit der Orthographie? Kleine Tippfehler? Das würde ich super finden!
Auch inhaltlich finde ich mich in den Themenkreisen im Unterschied zu Despentes wieder. Weißt Du noch, Lea, wie wir über kulturelle Aneignung hinsichtlich der ausgeladenen Künstlerin mit der 'falschen' Frisur diskutiert haben? Ein Streitthema, zweifellos, das viel darüber verrät, wie Diskussionen heute funktionieren.
Mais bon, ich schweife ab, also back to the Despentes-Topic: Leute, wieso findet Ihr diese Sucht-Beschreibungen so gelungen? Ich gestehe mal etwas, was wohl nicht sehr überraschend ist: Habe ich etwas verpasst, weil ich keine Erfahrungen mit illegalen Drogen habe??
Ich finde gerade diesen Erzählstrang so unglaubwürdig, so wenig durchdacht: Eine ihr ganzes Leben Drogen konsumierende Diva der Filmszene, die von heute auf morgen beschließt, ohne Drogen zu leben, obwohl sie das halbe Buch lang proklamiert, wie toll sie das findet, wie wenig Probleme ihr der Konsum bereitet hat, seriously?! Wieso sollte sie das tun? Gibt es da irgendeinen handfesten Grund? Oder habe ich da etwas falsch verstanden? Dann ziehe ich selbstverständlich meinen Einwand zurück.
Und dann schleicht sie sich in das digitale Treffen, unter falschem Namen, um den #MeToo-gebeutelten Schriftsteller zu beobachten. Wo ist denn da die Anonymität? Von dem Sinn dieses Prozederes mal ganz zu schweigen. Also das Ganze lässt mich ehrlich gesagt völlig ratlos zurück. Da treffe ich mich generell mit Deiner Leseerfahrung, Lea, dass die Schilderungen in der Erzählung nicht nachvollziehbar sind, auch wenn wir hinsichtlich der Drogen uneins sind.
Du coup, was mich auch gestört hat, waren Phrasen wie: „Wer Sex haben will, muss bereit sein zu sterben“. Puhhhhh, wie hohl ist das denn?! Sicherlich kann man das Phänomen der Erotik philosophisch-literarisch durchdringen, aber das sehe ich bei Despentes überhaupt nicht. Aber nun ja, ich sehe Euren berechtigten Einwand, es ist keine Philosophie, sondern Literatur. Vous avez raison!
Es scheint mir ein literarischer Schnellschuss gewesen zu sein, der noch ein wenig in den Windungen ihres Gehirns hätte reifen müssen, um wirklich Frucht zu bringen.
Ich wünsche Euch einen guten Start in den Tag und – später – ins Wochenende,
Lars
Gregor Schuhen, 6. Februar 2023, 10.43 Uhr, Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Cher Connard
Ihr Lieben,
Despentes erscheint diese Woche in deutscher Übersetzung und ist jetzt schon sehr präsent in den Medien. Erst die Besprechung im „Literarischen Quartett“. Da war die Reaktion ähnlich durchwachsen wie bei uns: Augstein fand ihn super, Mangold fand ihn richtig schlecht, was ihm sichtbar wehtat, da er Despentes – wie wir – doch eigentlich so sehr mag. Am Wochenende dann ein Interview mit Despentes in der FAS und gestern Abend noch ein Beitrag in „Titel Thesen Temperamente“, wo der Roman als „manchmal flach, manchmal genial“ zusammengefasst wurde. Ich finde es großartig, wie relevant Despentes inzwischen in Deutschland ist, wenngleich ich nach wie vor nicht überzeugt von Cher connard bin. Ich hätte einen Vorschlag zur Güte:
Liebe Verlage: Bringt doch endlich nochmal die alten Romane von Despentes in Neuausgaben auf den Markt! Bis auf Vernon Subutex, King Kong Theorie und ab morgen Liebes Arschloch sind nämlich alle Romane in Deutschland vergriffen! Wie sehr habe ich Apokalypse Baby und Bye Bye Blondie geliebt! Der Zeitpunkt könnte doch günstiger nicht sein! Bei Ernaux hat es doch auch geklappt – also come on, give it a try!
So, das war mein vorgezogener Wunsch zum Valentinstag und damit verabschiede ich mich aus unserem Literarischen Trio. Keine Sorge: Der nächste Despentes wird wieder großartig – ich habe da ein sehr gutes Gefühl! Bis dahin werden wir weiter im Buttes-Chaumont-Park spazierengehen, einen Aperol Spritz im „Rosa Bonheur“ trinken und hoffen, dass Virginie sich blicken lässt, um während einer Schreibpause eine Zigarette zu rauchen und ein Bier zu trinken… Bis dahin werden sich unsere Leser und Leserinnen ihr eigenes Urteil über Cher connard bilden.
Guten Wochenstart,
Euer Gregor
Lea Sauer, 7. Februar 2023, 20.53 Uhr, Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Cher Connard
Hallo ihr zwei,
ich schreibe euch aus dem Zug von Landau zurück nach Leipzig und habe mich doch tatsächlich gerade noch einmal an die Spotify-Playlist der Subutex-Romane erinnert. Ich höre also passenderweise gerade Britney Spears "Work B*tch", während ich euch das hier schreibe.
Ich habe das Literarische Quartett auch gesehen und mir nach der Lektüre des FAS-Interviews Despentes' Vortrag „Revolution de la douceur“, den sie 2020 im Centre Pompidou gehalten hat, angeschaut – wow! DAS ist für mich Despentes, wie man sie kennt und liebt: poetisch, kämpferisch, sanft, kritisch zu sich und anderen. Und so schön utopisch. Genau diese Energie hätte ich auch gerne im Roman gespürt, denn ich liebe auch gerade dieses Hoffnungsvolle an ihren Büchern, wo oft selbst in der größten Misere noch eine Kraft steckt, und sei es auch nur eine zerstörerische. Ich bin mir allerdings, ebenso wie du, Gregor, sicher, dass es immer noch in ihr steckt. Es war sowieso schwierig, nach dem Superhit Vernon Subutex etwas neues zu veröffentlichen. Die Erwartungen waren ja bei allen, nicht nur bei uns, extrem hoch. Da kann man nur enttäuschen. Deswegen abwarten und auf das nächste Buch hoffen.
Und ja, auch ich finde, es wäre an der Zeit, ihre früheren Romane neu aufzulegen. Derweil kann man sich ja mit dem Hörspiel Apokalypse Baby über Wasser halten. Gibt es umsonst und frei verfügbar im BR-Hörspielpool und ist wirklich toll!
Bis bald, ihr Lieben,
eure Lea
Lars Henk, 8. Februar 2023, 8.16 Uhr, Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Cher Connard
Guten Morgen wünsche ich allerseits,
meine Kaffeetasse ist noch lauwarm und ich schaue aus dem Fenster in den heller werdenden Morgenhimmel, es war eine kalte Nacht in Landau. Nichtsdestotrotz: Der Frühling flüstert, kaum vernehmbar!
Frühlingsgefühle kann mir Despentes mit ihrem neuen Roman, wie gesagt, nicht schenken, aber ich muss sagen, dass mir der Kurzbericht bei „ttt“ positive Eindrücke vermittelt hat. Insbesondere das Sucht-Thema sehe ich nun mit etwas anderen Augen. Die Sucht nach Arbeit passt doch auch zu intrinsisch motivierten Literaturwissenschaftler:innen, oder? ;-)
Am besten hat mir die subtile Kritik im letzten Satz gefallen, die ihr schon angesprochen habt.
Es steht zumindest fest, dass man an Despentes nicht vorbeikommt. An ihr darf, kann und muss man sich reiben. Und die Hoffnung auf ein besseres Buch, ja, die ist lebendig! Vielleicht baut sie das Thema der Freundschaft oder der Familie ja noch einmal aus, ein Roman über das wirklich Verbindende in Zeiten der Trennung. Das kann unsere Welt definitiv gebrauchen.
In diesem Sinne wünsche ich Euch einen guten Start in den Tag,
Lars
P.S. Die Kaffeetasse ist wieder voll!
Gregor Schuhen, 8. Februar 2023, 8.58 Uhr, Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Cher Connard
…ich lege es zwar nicht darauf an, das letzte Wort zu haben, aber hier muss ich doch wirklich nochmal widersprechen: Das Ende von Cher connard ist doch an Versöhnlichkeit kaum noch zu überbieten! Es ist zwar immer noch meilenweit von einem Hollywood-Julia-Roberts-Richard-Gere-Finale entfernt, aber für Despentes-Verhältnisse ist das doch schon verdammt nah dran… gerade im Vergleich zum tarantinoesken Metzel-Ende von Vernon Subutex! Also, lieber Lars, vielleicht solltest du dir am Valentinstag doch noch die letzten Seiten gönnen, und schon wird dein Herz vielleicht genau so warm wie dein zweiter Kaffee bei minus vier Grad Außentemperatur…
Bis demnächst,
Euer Gregor
Lars Henk, 8. Februar 2023, 9.31 Uhr, Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Cher Connard
Ich habe doch gar nicht bestritten, dass das Thema der Freundschaft nicht schon im Roman behandelt wird. Sonst hätte ich doch nicht „noch einmal ausbauen“ geschrieben. Also bestreite ich auch gar nicht das versöhnliche Ende. Und ich habe von Verbundenheit gesprochen, nicht Versöhnung. Das sind keine austauschbaren Begriffe. Versöhnung entsteht, denke ich, nur mittels der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Bevor Oscar und Rebecca sich miteinander versöhnen, müssen sie sich ihrer Vergangenheit stellen und mit sich selbst versöhnen (lassen), indem sie Fehler eingestehen. Die Versöhnung ist für Despentes die Grundlage für die Verbindung ihrer Protagonisten in der Gegenwart, also ihre keimende Freundschaft. Mit ihrer Freundschaft kommt etwas NEUES in die Welt, gerade weil sie auf Kriegsfuß miteinander standen. Das bedeutet aber nicht, dass Verbindung und Freundschaft nur dank (Selbst-)Versöhnung (unter anderem mit der Drogen-Sucht) entstehen können. Die verschiedenen Modi der freundschaftlichen und familiären Verbindung für unsere Zeit zu durchdenken, das wünsche ich mir für den nächsten Roman.
A +
Lars
Der Roman Cher Connard ist bereits im vergangenen Jahr bei Grasset erschienen, 352 Seiten. Die deutsche Übersetzung von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis erschien vor Kurzem bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel Liebes Arschloch, 336 Seiten.
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