Runde Geburtstage
Der 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens sollte im Jahr 2020 in Form eines weltweiten Mega-Events begangen werden: Symphonie-Zyklen, Ausstellungen, Performances, prominent besetzte Biopics, Gesamteinspielungen der Klaviersonaten, mehrere neue Biografien und Fidelio, wohin das Opernprogramm-Auge blickte – Beethoven around the World. In Beethovens Geburtsstadt Bonn wurde schon im Sommer 2016 die Beethoven Jubiläums GmbH gegründet, um den runden Geburtstag des Meisters adäquat zu würdigen und möglichst gewinnbringend ein ganzes Jahr lang auszukosten. Eine großformatige Ausstellungin der Bonner Kunsthalle unter dem Motto Beethoven Welt.Bürger.Musik bildete Ende Dezember 2019 den Auftakt zum Beethoven-Jahr. Mitte März zwang dann plötzlich ein bis dato unbekanntes, neuartiges Corona-Virus namens SARS-CoV-2 sämtliche Kultureinrichtungen zur Schließung und bereitete den groß angelegten Feierlichkeiten ein jähes Ende.
2021 steht mit Gustave Flaubert, der vor zweihundert Jahren, genau gesagt am 12. Dezember 1821, in Rouen das Licht der Welt erblickte, ein weiterer runder Geburtstag an. Auch das französische Kulturministerium hat in Kooperation mit der Région Normandie unter der Domain flaubert21.fr allerhand Feierlichkeiten und kulturelle Veranstaltungen angekündigt, die ab April vor allem in Flauberts Heimatgegend stattfinden.
Auch wenn der Normanne Flaubert mit seinem Freund Maxime du Camp den Vorderen Orient bereiste und im kosmopolitischen Paris Zugang zu den elitärsten Salons des Second Empire hatte, würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, in Flaubert einen ausgesprochenen „Weltbürger“ zu sehen. Auch kann es der Franzose mit gerade mal drei vollendeten Romanen und drei Erzählungen in Sachen Produktivität kaum mit dem enormen Œuvre seines deutschen Komponistenkollegen aufnehmen. Zuletzt dürfte es eher unwahrscheinlich sein, dass Flauberts bicentenaire außerhalb des Hexagons mit einer vergleichbaren Aufmerksamkeit bedacht wird, wie sie Beethoven zuteilwurde – und das nicht nur anlässlich von runden Geburtstagen.
Gleichwohl zeichnet sich auch hierzulande eine Würdigung Flauberts wenigstens in Form von Buchpublikationen ab. So erschien bereits im September 2020 im Hanser-Verlag unter dem viel diskutierten Titel Lehrjahre der Männlichkeit die Neuübersetzung der Éducation sentimentale von Elisabeth Edl, die schon zuvor die Trois Contes (2017) sowie Madame Bovary (2012) neu übersetzt hatte. Im Mai dieses Jahres erschien ebenfalls bei Hanser die Übersetzung von Michel Winocks viel beachteter Flaubert-Biografie aus dem Jahr 2013. Wenn nun auch der Band "Madame Bovary, c'est nous! Lektüren eines Jahrhundertromans" im ‚Flaubert-Jahr‘ auf den Markt kommt, so handelt es sich bei dieser Koinzidenz eher um eine glückliche Fügung als um editorisches Kalkül. Die meisten der Beiträge gehen zurück auf das gleichnamige Kolloquium, das im Herbst 2019 zu Ehren der Siegener Romanistin Walburga Hülk stattfand. Jede/r der Teilnehmer/innen war dazu angehalten, im Rahmen dieser Veranstaltung seine/ihre ganz eigene Lektüre von Flauberts Opus magnum Madame Bovary. Mœurs de province (1857) vorzustellen.
Schon im Jahr 1971 würdigte der österreichische Schriftsteller Jean Améry anlässlich des 150. Geburtstags den Franzosen als „Meister der Bovary“, als der Flaubert auch jenseits rein akademischer Milieus immer noch gilt. Madame Bovary gehört, so scheint es, zu Flaubert wie die blonden Haare zu Marylin Monroe oder der Eiffelturm zu Paris. Mit keinem seiner anderen Werke wird Flaubert so oft in einem Atemzug genannt wie mit seinem Erstling. Dabei schien es lange so, als ob der berühmteste aller Ehebruchsromane der Weltliteratur niemals fertig werden sollte. Der mühsame, rund fünf Jahre andauernde Entstehungsprozess ist dank Flauberts freizügiger Korrespondenz bestens dokumentiert und ebenso legendär. Auch die Rezeptionsgeschichte verläuft nicht ohne dramatische Begleittöne, beginnt sie doch mit einem juristischen Paukenschlag, einer Anklage wegen Verstoßes gegen die guten Sitten, die den Roman und seinen Schöpfer ad hoc berühmt machte.
Dreizehn Mal Bovary
Der Band versammelt insgesamt dreizehn Lektürevorschläge, die sich ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit in einem gemeinsamen Spannungsfeld bewegen: zwischen der von allen geteilten Lektüre von Flauberts Roman und dem Bezug auf die je eigenen Forschungsinteressen und zwischen einem Verständnis des Titels, das entweder stärker auf die Hauptfigur Madame Bovary oder eher auf das Werk Madame Bovary insgesamt abzielt. So ergeben sich auf zwanglose Weise verschiedene Schwerpunkte.
Den Auftakt macht Walburga Hülk. Unter dem Titel „#dichterdran. Flaubert im Rausch der Jahre“, dessen erster Teil einen erfolgreichen Hashtag zitiert, beschäftigt sich Hülk mit verschiedenen Formen der Inszenierungen von Schriftstellerexistenzen im Literaturbetrieb und dem öffentlichen Interesse an der Figur des Schriftstellers einst und heute. Nach Zwischenstationen in den 1950er Jahren (Roland Barthes, Mythologies, 1957) und der Gegenwart (Sally Rooney, Conversations With Friends, 2017), begibt sie sich über die ‚literarische Hintertreppe‘ auf Hausbesuch bei den Titanen des Zweiten Kaiserreichs Victor Hugo und Gustave Flaubert.
Mit Barbara Vinkens Überlegungen zur „Bovarymania“, die sich am Leitgedanken der Imitatio orientieren, beginnt eine Serie von Beiträgen, die sich auf die Titelfigur konzentrieren. Ausgehend von der schockierenden Beschreibung von Emma Bovarys Leichnam charakterisiert Vinken Flauberts Heldin als unerlöstes Opfer einer pervertierten imitatio Christi, deren Tod als tragische Konsequenz ihres falschen Selbstbildes („Bovarysmus“) erscheint. Anhand verschiedener Beispiele aus der jüngeren Rezeptionsgeschichte – Roger Greniers Erzählung „Normandie“ (1988), Mieke Bals/Michelle Gamakers Film Madame B (2013), Posy Simmonds Comic Gemma Bovery (1999) und dessen Verfilmung durch Anne Fontaine (2014) – belegt sie, dass der Roman noch in der Gegenwart zu einer „imitatio Emmae“ anregt.
Karl Heinz Götze denkt, wie er schon im Titel seines Beitrags ankündigt, „Nochmals über die Liebe von Madame Bovary“ nach. Noch einmal stellt er die ganz grundsätzlichen Fragen, ob man Emma Bovary lieben kann, was sie in der Liebe sucht und woran sie scheitert. Dabei ergeben sich Seitenblicke auf Goethe, Fontane und Houellebecq. Argumentative Schützenhilfe kommt von der Psychoanalyse (Sigmund Freud), der Sozialphilosophie (Axel Honneth) und der Soziologie (Eva Illouz). Am Ende steht das Gedankenspiel, wie Emmas Schicksal wohl unter heutigen Bedingungen aussehen würde.
In „Sind wir nicht alle ein bisschen Emma? Vom Bazillus der Bovarysierung“ zeichnet Tanja Schwan die für die Hauptfigur typische und bald geradezu sprichwörtlich gewordene Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit nach. Wie Schwan schrittweise verdeutlicht, prägt dieser Prozess jedoch nicht nur die Wahrnehmung Emma Bovarys und anderer Romanfiguren, sondern macht diese, und allen voran die Protagonistin, in den Augen der Rezipienten auch selbst als „Papierwesen“ und Produkte der Schrift lesbar – jenseits einer rein mimetischen Lektüre des Textes.
Volker Roloff knüpft ebenfalls an das Lektüreverhalten Madame Bovarys an. Allerdings legt er in „Lektüre und Theatralität. Anmerkungen zu Madame Bovary“ den Akzent nicht so sehr auf Madame Bovary als Lektüreroman und auch nicht auf die dunklen, gefährlichen Seiten des Lesens. Stattdessen hebt er die kreativen, theatralischen Aspekte der Lektüre hervor, die Emma in die – gleichwohl immer ironisch gebrochene – Nähe zu ihrem Autor Flaubert rücken. An einer Reihe von Schlüsselszenen des Romans arbeitet Roloff heraus, wie Emma zur selbstbestimmten Regisseurin ihres eigenen Lebens wird, die lustvoll ihre Phantasien und Wünsche inszeniert.
Nach den Anmerkungen Volker Roloffs zu Madame Bovary wendet sich Gregor Schuhen ihrem Ehemann zu. In „Cockhead / Cuckold. Anmerkungen zu Monsieur Bovary“ wird die männliche Hauptfigur aus der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Masculinity Studies in den Blick genommen. Mithilfe – unter anderem – des österreichischen Schriftstellers Jean Améry und dessen Romanexperiment Charles Bovary, Landarzt: Porträt eines einfachen Mannes (1978) wird hier gewissermaßen die Rehabilitation des schlichten Mediziners versucht. Immerhin trägt der Roman Madame Bovary seinen Namen, beginnt mit ihm, erreicht seinen Höhepunkt mit ihm und endet auch mit ihm. Es ist mithin vor allem seine Passionsgeschichte, die der ausgeklügelten Gesamtkomposition die wesentlichen Strukturelemente hinzufügt.
Die nächsten beiden Aufsätze bringen auf unterschiedliche Weise den Film ins Spiel. Christian von Tschilschke setzt sich in „Inside Out: die ‚Kutschenszene‘ aus (inter-)medialer Perspektive“ mit einer der emblematischsten und meist kommentierten Passagen des Romans auseinander, die auch einen der Hauptgründe für die juristische Verfolgung Flauberts lieferte. Die sogenannte ‚Kutschenszene‘ wird in dreifacher Hinsicht beleuchtet: als exemplarischer Beleg für Flauberts visuelle Poetik, als Prüfstein für die seinen Romanen vielfach nachgesagte ‚filmische Schreibweise‘ und als besondere Herausforderung für die zahlreichen Verfilmungen des Romans, von denen die drei bekanntesten (Jean Renoir, Vincente Minnelli und Claude Chabrol) genauer in Augenschein genommen werden.
Marijana Erstić analysiert in ihrem Aufsatz „Livia als Emma. Luchino Viscontis Film Senso“ den genannten Film als italienischen Beitrag zu den großen Gesellschafts- und Ehebruchsnarrativen des 19. Jahrhunderts. Gerade die Texte Gustave Flauberts werden in diversen Filmen Viscontis immer wieder zitiert – das lässt sich ebenso an der ironischen Distanziertheit zum Geschehen und den Figuren beobachten wie auch anhand der Bemühung um einen Realismus des Details. So wird im Film Senso die gleichnamige Novelle des italienischen Dichters Camillo Boito nicht nur erweitert, sondern auch in einen Dialog mit dem Roman Madame Bovary und der Theater-, Kunst- und Musikgeschichte des italienischen Risorgimento gebracht.
Die vier folgenden Beiträge sind den Spuren und Spiegelungen Flauberts in der französischen, deutschen und rumänischen Literatur gewidmet.
Anne Geisler-Szmulewicz zeichnet in „Zwischen Feuillet-Pastiche und Flaubert-Hommage. Yvettevon Guy de Maupassant, ein Werk voll literarischer Anklänge“ das literarische Nachleben von Flauberts Madame Bovary im Werk seines Schülers Guy de Maupassant nach. Minutiös deckt sie die intertextuellen Spuren in der Novelle Yvette (1884) auf, in der sie ein raffiniert komponiertes Mosaik aus Flaubert-Anleihen und Pastiches des längst vergessenen Erfolgsautors Octave Feuillet erkennt, dessen Werk der kurzlebigen Strömung des Idealismus zugeordnet wird.
In ihren Ausführungen zu „Madame Bovary im Echoraum deutschsprachiger Publizistik. Vier unbeobachtete Texte (1870–1914)“ erläutert Ursula Renner an ausgewählten, wenig bekannten Beispielen aus der Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, wie Flauberts Roman, dessen erste Übersetzung ins Deutsche bereits im Jahr 1858 erschien, von der deutschsprachigen Literaturkritik rezipiert wurde. Im Einzelnen präsentiert und anschließend im Wortlaut dokumentiert werden Artikel von Julian Schmidt (1871), Ferry Bératons (1896), Max Brod (1910) und Raoul Auernheimer (1914). Im Mittelpunkt steht dabei jeweils die zeitgeschichtlich aufschlussreiche Frage nach der Bewertung des Verhältnisses von Ästhetik und Moral.
Mit einer originellen Form der Rezeptionsgeschichte von Madame Bovary in Deutschland beschäftigt sich Georg Stanitzek in seinem Beitrag „Die Republik vom 8. Mai 1980: ‚Gustave Flaubert: 12. Dezember 1821–8. Mai 1880‘“. Sein Interesse gilt den ästhetischen und kulturbetriebskritischen Implikationen der Zitat-, Kopier- und Montagetechniken, die in dem zum hundertsten Todestag Flauberts erschienenen Band „Gustave Flaubert“ der Zeitschrift Die Republik (1976–2008) zur Anwendung kommen. Der Herausgeber Uwe Nettelbeck arrangiert darin in der für ihn charakteristischen Arbeitsweise weitgehend unkommentiert ausgewählte Passagen aus Flauberts Werken, darunter auch verschiedene Übersetzungen Madame Bovarys, und Auszüge aus der Literatur über Flaubert.
Ungewöhnlich, ja „kurios“ ist auch der Gegenstand, den Dietmar Frenz gewählt hat. In seinem Aufsatz „Galaktischer ennui. Ovid S.Crohmălniceanus Doamna Bovary în secolulXXX“ stellt er eine Science-Fiction-Version von Madame Bovary vor, die der rumänische Kritiker, Literaturhistoriker und Schriftsteller Ovid S. Crohmălniceanus unter dem Titel Doamna Bovary în secolul XXX in einem 1980 veröffentlichten Band mit Erzählungen herausbrachte. Der Text, der vorgibt, ein Auszug oder eine Leseprobezu sein, bezieht sich auf das neunte und letzte Kapitel des ersten Teils von Madame Bovary. In seiner satirisch-parodistischen Machart erlaubt er unterschiedliche Lektüren: von der literarischen Spielerei bis zu philosophischen und politischen Interpretationsversuchen.
Der Band schließt mit einer historischen Überblicksdarstellung aus der Perspektive der Fachdidaktik: „Auf der Suche nach Madame Bovary im Französischunterricht. Zur Rolle literarischer Texte für den Erwerb von Fremdsprachen“. Adelheid Schumann schlägt darin einen Bogen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart und zeigt an zahlreichen Beispielen, wie sich der Umgang mit Flauberts Roman im Französischunterricht in Deutschland unter dem Einfluss wechselnder Lehrmethoden und Lernziele kontinuierlich veränderte.
Marijana Erstić / Gregor Schuhen / Christian von Tschilschke (Hrsg.): 'Madame Bovary, c'est nous!' Lektüren eines Jahrhundertromans. Bielefeld: transcript 2021, 246 S.
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