Réinventer l’amour. Comment le patriarcat sabote les relations hétérosexuelles (2021) lautet der Titel des Buches, das in Frankreich längst zum Kassenschlager avancierte und seit Kurzem unter dem Titel Wir müssen die Liebe neu erfinden. Wie das Patriarchat heterosexuelle Beziehungen sabotiert (2023) auch in deutscher Übersetzung (von Norma Cassau) erhältlich ist. Es ist das zweite Sachbuch der Schweizer Autorin Mona Chollet, die schon mit Sorcières: La puissance invaincue des femmes (2018; dt. Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen 2020) einen absoluten Hit landete. In Letzterem zeigt sie plausibel auf, wie die Diskriminierung unabhängiger und gebildeter Frauen, die in der Zeit der Hexenverfolgung bekanntermaßen, war man erst einmal denunziert, in nahezu allen Fällen bis zum Tod führte, bis Heute fortwirkt. Zum Beispiel wenn es um Schwangerschaftsabbrüche geht und Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, innerhalbb des Diskurses nicht selten als bösartige Mörderinnen gebrandmarkt werden. In Sorcières zeigt Chollet nicht nur die problematischen Zuschreibungen auf, mit denen Frauen, die gegen die Gesetze (auch die ungeschriebenen) des Patriarchats handeln, stigmatisiert werden, sondern versucht gar eine positive Umdeutung: „Die Hexe verkörpert die von jeglicher Dominanz, von jeglichen Begrenzungen befreite Frau; sie ist ein anzustrebendes Ideal, sie weist den Weg.“
Mona Chollet ist, so zeigt sich bereits an diesem Vorgänger, also eine dezidiert feministische Autorin und auch Réinventer l’amour lässt sich in einer Reihe neben Zeitgenossinnen wie Manon Garcia, Virginie Despentes oder auch – diesseits des Rheins – Emilia Roig stellen, deren Buch Das Ende der Ehe (2023) erst kürzlich zusammen mit Réinventer l’amour in einer Doppelrezension der FAZ besprochen wurde. Dort hieß es, Feminismus werde mit Büchern wie denen von Roig und Chollet „auf dem Feld des Persönlichen debattiert“, doch stimmt das im Fall von Chollet nur teilweise. In Réinventer l’amour steht zwar, wie der Titel schon verrät, ein durch und durch persönliches Thema im Zentrum – was ist schließlich intimer als die Liebe? –, doch ist die heterosexuelle Paarbeziehung lediglich der Ausgangspunkt, von dem aus Chollet abhebt, um das Thema der systemischen Unterdrückung der oder des Einzelnen im Patriarchat insgesamt zu untersuchen. Ihr in der Einleitung eingefügter Disclaimer, dass sie das Buch immer aus einer Position „très personnelle“ schreibe, d.h. der Position einer heterosexuellen Frau mittleren Alters, die durchweg positive Erfahrungen in ihren Paarbeziehungen gemacht und bisher noch keine sexuelle Gewalt erlebt hat, wirkt da eher vorgeschoben. Und es hätte ihn vielleicht sogar gar nicht gebraucht, er leitet vielleicht sogar auf eine falsche Fährte. Denn wirklich persönlich oder gar autobiografisch wird es in Réinventer nun wirklich nicht, im Gegenteil. Und das ist eine außerordentliche Stärke des Buches. Denn so wird nach und nach immer deutlicher, dass es sich bei den unterdrückenden Mechanismen, die selbst in unsere intimsten Beziehungen eingreifen, ganz und gar nicht um ein subjektives Problem handelt – sie sind erschreckend universell. Und das auch dann, wenn man bisher von der patriarchalen Ungleichheit noch verschont geblieben ist, wie Chollet ja eben auch. Denn entscheidend ist nicht, dass man die Diskriminierung durch die heterosexuelle Struktur unserer Gesellschaft tatsächlich immer in jedem Moment auf gleich schlimme Weise zu spüren bekommt, sondern dass es da eine Struktur gibt, eine unsichtbare, die bestimmte Lebensformen oder Menschen privilegiert – während alle anderen immer der Gefahr ausgesetzt sind, den Kürzeren zu ziehen. Laut Chollet gibt es im System ‚heterosexuelle Paarbeziehung‘ vor allem eine Verliererin: die Frau. Und damit hat sie natürlich einen validen Punkt, denn auch in Deutschland ist schließlich eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen ihre Paarbeziehung
Nach und nach, entlang verschiedenster Themen, die teilweise auch nur marginal etwas mit Paarbeziehungen zu tun haben, fächert sie die Grausamkeiten auf, unter denen alles, was nicht cis-männlich ist, in unserer heutigen Gesellschaft immer noch leiden muss. So schreibt sie beispielsweise neben der Aufteilung von Care-Arbeit und der ungleichen Sozialisation des erotischen Begehrens auch über partnerschaftliche Gewalt, und streift dabei auch die Diskurse um Femizide oder sexuellen Missbrauch, die natürlich häufig auch im Kontext von Liebesbeziehungen stattfinden, aber eben nicht ausschließlich. Eine absolute Stärke ist dabei der scharfe und kritische Blick, den Chollet auf mediale Ereignisse und öffentliche Diskurse aus Pop, Politik, Literatur und Musik wirft. Gespickt mit einer Fülle an anschaulichen, und teils skurrilen Beispielen, arbeitet sie sehr deutlich heraus, wie heterosexuelle Beziehungen die Unterdrückung des Weiblichen perpetuieren. Und in den besten Momenten fühlt man sich gar von ihr ertappt.
Beispielsweise dann, wenn sie über den Kultstatus schreibt, der selbst die brutalsten Massenmörder umwebt. So war der Serienmörder Ted Bundy nach dem Anlaufen der Ted Bundy Tapes bei Netflix so beliebt, dass der Streaming-Dienst selbst die Zuschauenden dazu aufforderte, bitte doch keine ‚hot Memes‘ mehr mit dem Killer zu erstellen. Erst kürzlich löste zudem die Serie You (ebenfalls Netflix) eine Kontroverse aus, weil man dort in die Haut eines Stalkers schlüpft und dabei durchaus mit ihm sympathisiert. Für Männer bieten die Bösewichte zweifelhafte Idole einer brutalen, psychohaften Männlichkeit, für Frauen wiederum, sind sie die Lustobjekte, die für alles stehen, was der Feminismus lange zu überwinden glaubte: sexuelle Dominanz und Unterwerfung. Ob nun hot or not, es ist zumindest unbestreitbar, dass Täter und Täterinnen immer noch einen unterschiedlichen Status in unserer Gesellschaft genießen und Frauen dabei durchaus auch eine aktive Rolle spielen. Auch sie tragen dazu bei, dass sich solche Mythen halten, wie nicht zuletzt im vergangenen Jahr noch einmal in der öffentlichen Diskussion um den Prozess Johnny Depp vs. Amber Heard deutlich wurde. Chollets Buch erschien vor der öffentlichen Gerichtsverhandlung zwischen dem bekannten Fluch der Karibik-Schauspieler und seiner Exfrau, die wesentlich jünger und unbekannter ist. Als mediales Großereignis wurde jeder einzelne Prozesstag mehrere Wochen lang auf YouTube übertragen. Es ging um die toxische Beziehung, in der von beiden Seiten Gewalt ausgeübt worden sein soll. Von mehreren Medien (u.a. New York Times, taz) wurde allerdings schon damals eine eklatante, öffentliche Ungleichbehandlung moniert. Während Depp von vielen als der bemitleidenswerte, talentierte und irgendwie auch ‚coole‘ Typ gesehen wurde, der sich endlich getraut hat, auch mal als Mann von der Gewalt zu erzählen, wurde Amber Heard schon vor der Urteilsverkündung von vielen als hysterische Borderlinerin, aus deren Mund nur Lügen kamen, abgestempelt.
Wenn Sie sich jetzt fragen, was das genau mit Paarbeziehungen und der Frage danach, warum das Patriarchat unsere Beziehungen sabotiert, zu tun hat, dann spiegelt das sehr gut die Struktur von Réinventer l’amour. Chollet holt mehr als weit aus, kommt auch mal gerne von Hölzchen auf Stöckchen, was durchaus ein Gewinn ist, wenn man sich immer wieder darauf zurückbesinnt, worum es eigentlich geht: Die gesellschaftlichen Strukturen schreiben sich in die Paarbeziehung ein. Und das heißt in erster Linie: Machtstrukturen, bei denen das weibliche Geschlecht unterlegen ist. Vielleicht nicht immer in jede heterosexuelle Liebschaft gleichermaßen, aber die Möglichkeit besteht – und das ist das Problematische. Manon Garcia, die Chollet auch an mehreren Stellen zitiert, brachte es vor nicht allzu langer Zeit treffend auf den Punkt: Im Jahr 2018 erschien ihre Beauvoir-Neuinterpretation mit dem Titel On ne naît pas soumise, on le devient (dt. Wir werden nicht unterwürfig geboren, 2021). Wobei sich ergänzen ließe: aber wir – die Frauen – werden unterwürfig gemacht.
Positiv hervorzuheben ist auch, dass Chollet manches Mal auch Ausflüge ins Anekdotenhafte macht, denn sie ist dabei niemals geschwätzig, sondern schafft es, durchaus unterhaltend zu sein, ein bisschen Gossip hat schließlich noch niemandem geschadet. Oder wussten Sie schon, dass der französische Schauspieler Vincent Cassel schon mehrmals öffentlich stolz verkündete, dass er am 'jungle fever' leide und damit natürlich immer seine nicht-weißen Liebschaften meinte? Aber das ist natürlich nur die harmlose Koketterie eines Charmeurs der alten Schule und kein Auswuchs einer jahrhundertealten Tradition der Exotisierung von allem, was nicht weiß, bzw. präziser noch: europäisch, ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – dafür ist Cassel ja auch ohnehin viel zu sexy, oder nicht?
Dass Chollet mit dem Buch zur ‚Ehebrecherin‘ wurde, verwundert vor diesem Hintergrund keineswegs. Man wundert sich eher, dass es überhaupt noch Frauen geben kann, die sich das freiwillig antun und sich nicht mehr, wie beispielsweise Virginie Despentes, bewusst für die Homosexualität entscheiden. Das selbstgewählte Lesbentum wirkt nach der Lektüre eigentlich fast schon wie die vernünftigere Alternative. Und erinnert dabei stark an die lesbischen Kommunen, in denen sich die niederländische Schriftstellerin Anja Meulenbelt in den 1970ern herumtrieb. Dass es da auch nicht nur rosig zuging, beschreibt Meulenbelt auf vorzügliche Weise in ihrer feministischen Autobiografie Die Scham ist vorbei (1978). Deutlich wird aber, dass der Wunsch nach einer Befreiung von patriachalen Strukturen innerhalb der Paarbeziehung nicht erst seit Réinventer l’amour existiert.
Das wäre dann auch der Hauptkritikpunkt am Buch: Wer schon tief drin steckt in feministischen Diskursen, wer beispielsweise Beauvoir oder Garcia gelesen hat, wer Despentes kennt oder auch mediale Diskurse aufmerksam verfolgt, wird in Réinventer l’amour nicht unbedingt viel Neues finden. Die angekündigte 'Neuerfindung der Liebe' bleibt außerdem aus, was auch daran liegen mag, dass Chollet sich eher darauf konzentriert die Verhältnisse aufzuzeigen, statt anderen Vorschriften machen zu wollen. Das ist verständlich, für mich persönlich an manchen Stellen aber etwas zu harmlos und auch eine vertane Chance, wie ich finde. Ein bisschen Radikalität und Polemik wären hier durchaus nicht von Nachteil gewesen. Und sie ist mir bei allem Scharfsinn auch immer auch selbst ein bisschen zu heterosexuell, zu sehr auf die Binarität zwischen Mann vs. Frau verhaftet, und verbleibt so für meinen Geschmack immer ein bisschen zu sehr in einem feministischen Diskurs, der queere Positionen nicht hundertprozentig mitdenkt.
Denn – Achtung, Polemik! – eine Frage bleibt letzten Endes offen: Warum eigentlich unbedingt die Liebe in der heterosexuellen Paarbeziehung neu erfinden, wenn es doch auch ohne geht? Wofür ein zum Scheitern verurteiltes Lebenskonzept retten wollen? Was ist zum Beispiel mit alternativen Lebenskonzepten, wie beispielsweise einer regelrechten Care Revolution, nach der nicht mehr die Paarbeziehung (und damit natürlich immer das Endziel Kleinfamilie) das Zentrum unserer Gesellschaft bilden würde, sondern Fürsorgenetzwerke? Mehrgenerationenwohnen? Was ist mit freundschaftszentrierten Lebensweisen, wie sie unlängst beispielsweise Geoffroy de Lagasnerie in seinem philosophischen Essay 3. Une aspiration au dehors beschrieb? Diese Fragen bzw. die konkrete Umsetzung, ja, die Neuerfindung der Liebe gibt Chollet an die Leser:innen ab. Möge sie mit ihrem Buch für viele einen Anlass zur Umwälzung unserer patriarchalen Machtstrukturen in unseren Paarbeziehungen geben. Wenn das dann zur Scheidung führt, gut, dann, wie meine Mutter sagen würde, war’s wahrscheinlich eh nicht der Richtige für dich, mein Schatz.
Mona Chollet: Réinventer l'amour. Comment le patriarcat sabote les relations hétérosexuelles, Paris, 2021, 255 S. Auf Deutsch in der Übersetzung von Norma Cassau erschienen bei DuMont 2023.
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