Nachdem Annie Ernaux im Oktober mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, herrschte in den Feuilletons eine kurze Zeit lang einmütige Freude, überall begrüßte man die kluge Auswahl der Stockholmer Jury – auch auf diesem Portal. Nach den Debatten um die Verleihung des Preises an Peter Handke, nach zwei Auszeichnungen für die nahezu unbekannten Louise Glück und Abdulrazak Gurnah, die dem Buchhandel keinen großen Run eingebracht hatten, schien nun endlich die literarische Welt wieder in Ordnung. Annie Ernaux war mittlerweile auch außerhalb Frankreichs bekannt genug, hatte sich mit ihren klugen Texten verdient gemacht um die Sichtbarkeit der ‚kleinen Leute‘ und war auch kommerziell längst erfolgreich – in Deutschland vor allem dank der Neuübersetzungen ihrer Werke von Sonja Finck, die seit 2017 im Suhrkamp-Verlag erscheinen.
Es dauerte nur einen Tag, bis zuallererst die BILD-Zeitung über die „dunkle Seite“ der frischgebackenen Preisträgerin berichtete, dann die FAZ und schließlich auch die anderen Zeitungen. Es wurde unter anderem bekannt, dass Ernaux in der Vergangenheit immer wieder öffentlich israelkritisch in Erscheinung getreten war, sich etwa gegen die Ausrichtung des Eurovision Song Contest in Israel ausgesprochen hatte sowie gegen jegliche Form der französisch-israelischen Kulturkooperation und dass sie unverhohlen mit der BDS-Bewegung sympathisiert, die hierzulande als antisemitisch eingestuft ist. Innerhalb von nur wenigen Tagen wurde aus der hochgelobten Preisträgerin eine umstrittene Autorin, in der man nun ein weiteres Paradebeispiel für den blinden Fleck des Antisemitismus auf Seiten der linken Intellektuellen erkannte. Maxim Biller forderte Ernaux gar in einer ZEIT-Kolumne dazu auf, den Preis abzulehnen, um ihn stattdessen an Salman Rushdie weiterzureichen. In gewohnt polemischer Manier lässt sich Biller über die „sture Klassenkampf-Prosa“ der Französin aus, über die „wehleidige, hölzern geschriebene Neidbürger Klage einer Erzählerin aus einer niedrigeren Schicht als ihre Klassenkameradinnen“, und erkennt darin lediglich einen „identitären Budenzauber“. Man muss nicht so weit gehen wie Biller und gleich das gesamte literarische Werk Ernaux’ zu diskreditieren, wovon freilich auch in den Feuilletons noch keine Rede sein kann. Wie in vergleichbaren Fällen um so genannte Skandalautoren stellt sich vielmehr die Frage, ob man Autor und Werk getrennt beurteilen sollte, eine Frage, die weniger mit Qualität als mit Moral zu tun hat. Die Frage ist unbequem, und sie betrifft alle politischen Lager – wichtig ist, dass man sie auch als Literaturkritiker oder -wissenschaftler nicht aus den Augen verliert.
Man darf gespannt darauf sein, ob und wie Ernaux in ihrer Dankesrede am 10. Dezember auf den Vorwurf des Antisemitismus reagieren wird. Es wird auch sicher nicht lange dauern, bis die Spurensuche in ihren Texten nach vermeintlichen Hinweisen auf antisemitische Propaganda beginnt. Es würde mich überraschen, wenn diese Suche substanzielle Ergebnisse zutage förderte. Wie die Stockholmer Jury im Fall von Handke bereits unter Beweis gestellt hat, scheint im Rahmen der Auswahl eine strikte Trennung von Autor und Werk zu herrschen. Das zu kritisieren ist legitim, aber das zu akzeptieren eben auch. Die „dunkle Seite“ von Annie Ernaux ist ihrem Werk, soweit ich es überblicke, nicht eingeschrieben. Dennoch schreibt hier ein Entzauberter.
Mitten im Trubel um die Nobelpreisverleihung hat der Suhrkamp-Verlag eine weitere Ernaux-Neuübersetzung auf den Markt gebracht. Hierbei handelt es sich um das 2011 in Frankreich erschienene Werk L’autre fille, übersetzt mit Das andere Mädchen. Der Hype um den Nobelpreis sorgte dafür, dass das gewohnt schmale Buch erst einmal für einige Zeit vergriffen war und erst nach der Frankfurter Buchmesse wieder überall erhältlich ist. Ernaux schreibt in L’autre fille einen rund 80-seitigen Brief an ihre ältere Schwester. Aus früheren Texten ist bekannt, dass Ernaux’ Schwester Ginette 1938 im Alter von sechs Jahren an Diphterie gestorben ist und damit zwei Jahre vor ihrer eigenen Geburt. Wir wissen auch, dass der frühe Tod Ginettes gewissermaßen erst die Geburt der Schriftstellerin ermöglicht hat, da Ernaux’ Eltern aufgrund ihrer prekären wirtschaftlichen Lage nur ein Kind großziehen wollten. Eine Bürde also und ein echtes Thema für einen Roman. Auch wenn Ernaux hier die Briefform wählt und damit ihre Schwester durchgängig adressiert, erkennt man schnell, dass sich durch dieses Kompositionsprinzip nichts am lakonisch-präzisen Stil ändert. L’autre fille ist keine pathetische Trauerrede, auch kein von Mitleid erfülltes Zeugnis der Dankbarkeit. Dieser Verzicht auf große Gefühle ist nicht nur allgemein das hervorgehobene Merkmal der Ernaux’schen Prosa, sondern in diesem speziellen Fall der wohl einzig denkbare Weg, sich an einem moralisch-emotionalen Dilemma abzuarbeiten: Einerseits steht natürlich die Betroffenheit darüber im Raum, dass ein kleines Mädchen an einer Krankheit sterben musste, für die es bereits einen Impfstoff gab, der aber erst sieben Monate nach ihrem Tod flächendeckend zum Einsatz kam. Andererseits die Tatsache, dass das eigene Leben ohne diesen frühen Tod wohl niemals begonnen hätte: „Il fallait donc que tu meures à six ans pour que je vienne au monde et que je sois sauvée“ (Du musstest also mit sechs Jahren sterben, damit ich geboren und errettet werden konnte). Das aus diesem Dilemma erwachsende Gefühl ist eine Form von Scham, die jedoch mit der sozialen Scham, die Ernaux immer wieder in ihren anderen Werken beschrieben hat, nicht vergleichbar ist. Wenngleich Scham immer eine soziale Komponente hat, da sie eigentlich stets aus einem Konflikt mit dem Umfeld erwächst, resultiert das hier geschilderte Unbehagen nicht – oder zumindest nicht unmittelbar – aus klassenspezifischen Problemlagen, wie wir es aus anderen Werken Ernaux’ kennen. Es geht hier sehr viel eher um eine existenzielle Form der Scham, die ebenfalls – wie die soziale Scham in La honte (1997) – durch ein Schlüsselerlebnis, eine scène, ausgelöst wird. Die zehnjährige Annie spielt mit einer Freundin auf der Straße, als sie ein Gespräch ihrer Mutter mit einer Kundin belauscht. Auf diese Weise erfährt sie zum ersten Mal von ihrer verstorbenen Schwester. Aber es ist nicht nur diese Nachricht, die das junge Mädchen erschüttert, es ist die Art und Weise, wie die Mutter davon erzählt.
Elle raconte qu’ils ont eu une autre fille que moi et qu’elle est morte de la diphtérie à six ans, avant la guerre, à Lillebonne. Elle décrit les peaux dans la gorge, l’étouffement. Elle dit : elle est morte comme une petite sainte
elle rapporte les paroles que tu lui as dites avant de mourir: je vais aller voir la Sainte Vierge et le bon Jésus
elle dit mon mari était fou quand il t’a trouvée morte en rentrant de son travail aux raffineries de Port-Jérôme
elle dit c’est pas pareil de perdre son compagnon
elle dit de moi elle ne sait rien, on n’a pas voulu l’attrister
A la fin, elle dit de toi elle était plus gentille que celle-là
Celle-là, c’est moi.
Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. Sie beschreibt die Beläge in Hals und Rachen, die Atemnot. Sie sagt: bei ihrem Tod sah sie aus wie eine kleine Heilige
sie gibt deine letzten Worte wieder: bald bin ich im Himmel bei der Jungfrau Maria und beim Jesuskind
sie sagt, mein Mann ist durchgedreht, als er von der Arbeit in der Raffinerie in Port-Jérôme nach Hause kam und du warst tot
sie sagt, es ist etwas anderes, wenn man den Lebensgefährten verliert
über mich sagt sie, sie weiß von nichts, wir wollten sie nicht belasten
am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die da
Die da, das bin ich.
Diese Ur-Szene ist weniger eine Quelle der Scham, sondern die Manifestation einer kindlichen Kränkung, die die Autorin ein Leben lang verfolgen wird, was die Reflexionen über das Wort „gentille / lieb“ zum Ausdruck bringen. Ernaux schreibt, dass die Beurteilung ihrer Schwester als „viel lieber“ dazu geführt habe, dass sie selbst sich niemals als „lieb“ empfunden habe, dass vielmehr die „Schlechtigkeit“ zu ihrem Wesen geworden und diese wiederum zur wichtigen Grundlage ihres Schreibens geworden sei, auch wenn die immer anwesende Abwesenheit der Schwester die Grenzen dieses Schreibens aufzeigt:
T’écrire, ce n’est rien d’autre que faire le tour de ton absence. Tu es une forme vide impossible à remplir d’écriture.
Über dich zu schreiben, ist nichts als eine Erforschung deiner Abwesenheit. Eine Beschreibung des Erbes deiner Abwesenheit. Du bist eine leere Form, die nicht durch Schreiben zu füllen ist.
Ernaux schreibt in L’autre fille mehr über ihre Eltern als über Ginette, über das Schweigegelübde, das ihre Eltern sich offenbar nach dem Tod ihrer ersten Tochter auferlegt haben. Niemals wurde im Hause Duchesne über den Verlust gesprochen, zumindest nicht mit Annie. Insofern konnte die unabsichtliche Kränkung, die „wie eine kalte, lautlose Flamme“ über Annies Kinderleben hinwegfuhr, auch niemals wieder geheilt werden. Ernaux probiert es am Ende des Buchs mit einer Form Selbstexorzismus. Sie reist nach Lillebonne, um noch einmal das Haus zu besichtigen, in dem ihre Schwester gestorben ist und in dem Annie ihre ersten Lebensjahre verbracht hat. Die neuen Besitzer gewähren ihr einen kurzen Besuch. Im Inneren des Hauses, das gewissermaßen das einzige Bindeglied der beiden Schwestern darstellt, kommt es im ehemaligen Schlafzimmer der Eltern zu einer Art postumen Begegnung der beiden Mädchen.
J’éprouvais une sorte de sensation plénière, faite d’étonnement et de contentement obscur de me trouver là, dans ce lieu précis du monde, entre ces murs, près de cette fenêtre, d’être ce regard qui contemple la chambre où tout a commencé pour l’une et pour l’autre, l’une après l’autre.
Ich empfand ein erfüllendes Gefühl, bestehend aus Verwunderung und einer dunklen Zufriedenheit darüber, dass ich mich jetzt hier befand, an genau diesem Ort auf der Welt, zwischen diesen Mauern, neben diesem Fenster, dass ich dieser Blick war, der das Zimmer betrachtete, in dem alles begonnen hatte, für die eine und die andere, für die eine nach der anderen.
So endet das Buch auch folgerichtig mit der Einsicht, dass nicht Ginette das titelgebende „andere Mädchen“ ist, sondern Ernaux selbst, die weggegangen ist, um aus dem Labyrinth der Schuld zu entfliehen, das sich nach der Nachricht über die verstorbene Schwester langsam um ihr eigenes Heranwachsen gebildet hat. Diese Schuld zumindest habe sie nun endlich beglichen, indem sie ihrer hassgeliebten Schwester schreibend eine Existenz gegeben habe, nachdem jene ihr selbst durch ihren frühen Tod die ihre ermöglicht habe. Ähnliche Gedanken über das Schreiben als Geisterbeschwörung und Zeugungsakt kennen wir bereits aus den beiden Elternbüchern. Mit L’autre fille erst wird Ernaux’ Familienaufstellung nun vollständig.
Annie Ernaux: L'autre fille, Paris: interforum editis 2011, 77 S. Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck erschien die deutsche Übersetzung 2022 bei Suhrkamp.
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