Comics werden in Deutschland von der Literaturkritik immer noch vergleichsweise stiefmütterlich behandelt und oft in die Nerd-Ecke gestellt. Zu jugendlich die Illustrationen, zu poppig die Inhalte. In Frankreich hingegen sind sie außerordentlich beliebt – und das nicht nur bei Jugendlichen. Dies mag auch mit dem Bekanntheitsgrad französischer Satirezeitschriften zusammenhängen, wie etwa Charlie Hebdo, die spätestens seit 2015 auch diesseits des Rheins jedem ein Begriff sein dürfte und deren Karikaturisten durchaus politische Diskurse prägen; oder auch mit der Beliebtheit von traditionsreichen BD, so die Abkürzung des französischen Ausdrucks für Comic bande dessinée, wie etwa die Reihen Asterix & Obelix oder Tim & Struppi. In Anbetracht dieser Traditionslinie kommt einem wohl nicht als erstes der armenische Genozid als mögliches Thema zur Text-Bild-Verarbeitung in den Sinn. Doch genau diesen behandelt Autor und Illustrator Clément C. Fabre in seinem ersten selbst verfassten autobiografischen Comic Carole. Ce que nous laissons derrière nous (2023).
Ausgangspunkt ist die Suche nach dem verschollenen Grab der titelgebenden Carole, Tante von Clément und Robin, die nur wenige Tage nach ihrer Geburt verstarb – angeblich, weil es nicht möglich war, sie zu stillen. Wegen einer allergischen Reaktion gegen die Muttermilch – eine Reaktion, wie es an einer Stelle heißt, die eigentlich medizinisch nicht stimmig ist, denn Säuglinge können, zumindest unter normalen Umständen, keine solche Allergie entwickeln. Ist dies also ein Zeichen dafür, dass damals, im Jahr 1954, immer noch Anfeindungen gegen die armenische Minderheit in der türkischen Gesellschaft schwelten und der Stress die Milch in den Brüsten der Großmutter versauern ließ? Oder ist es doch eher der Beweis dafür, dass sich da die Gräuel des Genozids, die die Urgroßeltern nur knapp überlebten, buchstäblich in die Gene eingeschrieben haben? Vor allem zeigt sich hier bereits auf den ersten Seiten, dass die Geschichte um Carole – und somit der ganzen Familie – auf den verschiedensten Mythen fußt.
„Saviez-vous que certains traumatismes se transmettent entre générations sans même l’usage de la parole…“ („Wussten Sie, dass sich bestimmte Traumata von einer auf die andere Generation übertragen, selbst wenn nicht darüber gesprochen wird…“), fragt sein Therapeut den 28-jährigen Clément jedenfalls, als dieser ihm von seiner Familientragödie erzählt. Genau diese Frage bildet das Zentrum von Carole. Und sie ist Anlass für den gemeinsamen Trip der Brüder Fabre nach Istanbul, bei dem sie sich mit dem Auffinden des Grabes auch Antworten auf ihre persönlichen Identitätsfragen erhoffen.
Genozid ist seit dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Maus, in dem Art Spiegelman die Folgen der Shoa auf seinen Vater, einen KZ-Überlebenden, aufzeichnete, kein grundsätzlich neues Thema für einen Comic. Doch obwohl thematische Ähnlichkeiten bestehen, unterscheidet sich Carole deutlich von ersterem. Vor allem der Ton ist ein anderer. Trägt Maus fabelhafte Züge, sind die Zeichnungen roh und im Underground-Stil gehalten, wirkt Carole mit seinen pastelligen Tönen und den ernsten Reflexionen daneben fast schon etwas brav, Ironie sucht man vergeblich in diesem Buch, Pathos ebenfalls. Das mag auch daran liegen, dass die Traumata hier schon mehr als zwei Generationen zurückliegen und Gespräche mit direkten Überlebenden nicht mehr stattfinden können. Doch sollte man Carole ob seiner dramaturgischen Reduziertheit nicht unterschätzen, denn gerade das Unaufgeregte und Zweifelnde legt immer wieder kluge – und vor allem komplexe – Gedanken zum Thema der transgenerationellen Traumata frei. So fühlt sich Clément, auch wenn er es sich selbst nicht erklären kann, in Istanbul zum ersten Mal in seinem Leben „à sa place“, was, wie er präzisiert, bedeutet: so armenisch wie noch nie zuvor. Und auch der Großvater schwelgt immer wieder in Erinnerungen an seine eigene, glückliche Jugend in Istanbul, wo er einst als Basketballtalent gefeiert wurde. Auch später hat er, wenn auch vielleicht aus Bequemlichkeit, den türkischen Nachnamen Mesropoglu nie wieder in den armenischen Ursprungsnamen Mesropian ändern lassen. Dies mutet insofern paradox an, als die Türkei doch dafür verantwortlich ist, dass seine Großeltern nach Frankreich immigrierten, weil die Atmosphäre dort Mitte der 1950er, etwa anlässlich des Istanbul-Pogroms, der neben der griechischen u.a. auch die armenische betraf Minderheit, gefährlich war. Überlebensstrategie oder geschichtliche Verblendung? Deutlich macht es vor allem eines: dass die armenische Identität von den Nachkommen des Genozids nicht selten mit einer türkischen verbunden wird – und diese nicht nur aus Horror und Schrecken besteht, sondern auch aus Erinnerungen an beschauliche Eselsausritte der frisch verheirateten Mesropoglus auf der einst poshen Istanbuler Insel Büyükada.
Erinnerungserzählungen von Genoziden sind immer von Brüchen und Ungereimtheiten geprägt, schließlich ist damit, neben dem tatsächlichen Mord, immer auch das Auslöschen der kulturellen Wurzeln, der Identität, ja, der Historie von Volksgemeinschaften gemeint. Wie schwierig es ist, eine solche Geschichte zu rekonstruieren, zumal wenn in der Familie lange geschwiegen wurde, um nach vorne blicken zu können oder schlichtweg existieren zu können, zeigt sich insbesondere in der nicht-linearen Erzählweise des Bandes. So springen wir regelrecht durch die verschiedenen Erinnerungen, die immer wieder zur Reise der beiden Brüder zurückkehren und gekonnt mit den Gezi-Protesten 2013, die sie dort live miterleben, verwoben werden. Persönliche und politische Geschichte zeigen sich somit immer als empfindliches Geflecht, das von Zufällen und Absurditäten durchzogen ist, dessen Erzählungen sich manches Mal gar widersprechen. Fabre findet subtile, aber unmissverständliche Bilder dafür. So treffen die Brüder im Gezi-Park auf eine Gruppe armenischer Protestierender, die darauf aufmerksam machen, dass dort ein armenischer Friedhof liegt, der bereits unter Atatürk einem Einkaufszentrum weichen sollte. Ein deutlicheres Symbol für die fehlende Aufarbeitung des armenischen Genozids seitens der türkischen Politik lässt sich wohl kaum ausmachen. Und ja, gleichzeitig ist dies auch ein Symbol dafür, dass es sie immer noch gibt, Armenier:innen in der Türkei, es gibt sie und sie können heute öffentlich demonstrieren und tun es offenbar auch. Insgesamt wird Istanbul im Buch vor allem als modern, vielseitig und faszinierend präsentiert. Ein Eindruck, den schon die Großeltern damals hatten und der auf erfrischende Weise Zwischentöne offenbart, denn natürlich geht immer auch beides: Diskriminierung von Minderheiten und ihr Überleben, rechtsnationale Parolen und real existierende, alltägliche Diversität, Unterdrückung und Modernität. Das zeigt sich heute vielleicht deutlicher als je zuvor.
Sanfte Übergänge trennen – u.a. durch die ineinanderfließende Farbgebung – die einzelnen Geschichtsfetzen voneinander ab und zeigen so, dass eine Familiengeschichte im Schatten eines Genozids vielleicht immer nur das sein kann: eine Reihe von kurzen Episoden, Erinnerungen, stets neu, stets ein bisschen anders erzählt. Es hätte auch ganz anders kommen, ganz anders sein können. Macht es überhaupt einen Unterschied, welche dieser Varianten die echte ist? Was wirklich passiert ist?
„Ce livre, ce sera la tombe qu’on n’a pas trouvée“. Dass dieses Buch das Grab sein wird, das sie nicht gefunden haben, sagt Robin am Ende ihrer Reise. Denn Carole hält zumindest eine mögliche Version der Geschichte der Familie Mesropoglu bzw. Mesropian fest. Sie ist komplex, verläuft an manchen Stellen ins Leere, unterliegt keiner dramaturgischen Stringenz, aber sie ist vor allem eines: existent. Carole wird somit vielleicht weniger zu einem Grab, als zu einer Gedenkstätte, einem Ort, an dem man sich der Toten erinnert, ihrer Geschichte, dessen, was danach folgte, ihrer mahnt. Welcher Ort könnte dafür besser geeignet sein als die Literatur?
Clément C. Fabre: Carole. Ce que nous laissons derrière nous, Paris: DARGAUD 2023, 224 S. Bisher nicht in deutscher Übersetzung erschienen.
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