Seit ihrer Jugend verfolgt Mélanie Claux eigentlich nur einen einzigen Wunsch, nämlich berühmt zu werden. Sie verschlingt in den 2000er Jahren die neuen Reality-Formate im Stil von Big Brother, bewirbt sich mehrfach bei den zuständigen Casting-Agenturen und schafft es sogar einmal, in der Sendung Seuls dans le noir zu landen, wo Singles sich in einem stockfinsteren Raum kennenlernen müssen. Nach einer Folge wird sie jedoch gleich wieder hinausgewählt, da ihr in den Augen des Publikums wohl die Celebrity-Qualitäten fehlen: nicht sexy genug, zu normal, zu langweilig. Anfang der 2010er Jahre heiratet Mélanie den IT-Spezialisten Bruno Diore, den sie auf dem Internetportal Attractive World kennengelernt hat. Es ist vor allem sein Nachname, der sie fasziniert, doch schnell muss sie einsehen, dass man aus Diore nicht so leicht Dior machen kann, und behält ihren Mädchennamen. Das junge Paar bekommt zwei Kinder: zunächst den Jungen Sammy und schließlich die kleine Kimmy. Als Mélanie damit beginnt, Fotos von ihren Kindern auf Instagram zu posten, die immer mehr Likes einbringen, erkennt sie die Gunst der Stunde: Wenn es ihr schon nicht gelungen ist, berühmt zu werden, dann könnte sie diese Aufgabe ja an ihre Kinder abgeben. Die Rechnung geht auf, und aus Fotos werden YouTube-Videos, erst nur sporadisch, dann drei bis vier pro Woche. Sie wird damit so erfolgreich, dass sie dank zahlreicher Sponsoring-Verträge den Kanal Happy Récré gründet und schließlich Einnahmen in Millionenhöhe erzielt. Die Kinder müssen tagein, tagaus Päckchen mit Spielsachen und Süßigkeiten vor laufender Kamera auspacken oder dürfen sich einen Tag lang in Fastfood-Restaurants alles bestellen, worauf sie Lust haben. Millionen von Abonnenten verfolgen regelmäßig das Leben der beiden Kinder, zumindest den Teil davon, den ihre Mutter für besonders interessant hält. Dieses florierende Geschäft geht so lange gut, bis eines Tages die 6-jährige Kimmy spurlos verschwindet.
In ihrem elften Roman Les enfants sont rois (2021, dt.: Die Kinder sind Könige, 2022) erzählt die französische Erfolgsautorin Delphine de Vigan, selbst Mutter von zwei Kindern, eine zeitgenössische Geschichte über Schuld und Unschuld, über die Abgründe der Social-Media-Industrie und den permanenten Sozial-Voyeurismus von uns allen, der stets neues Futter braucht. Schon in einem ihrer Vorgängerromane – Les loyautés (2018, dt.: Loyalitäten, 2018) – standen Kinder im Mittelpunkt, die von den Bürden ihrer Eltern erdrückt werden, und an der daraus resultierenden Überforderung erkranken. In Les enfants sont rois wechselt De Vigan das Genre und erzählt den größten Teil der Handlung in Form eines spannenden Kriminalromans, für den sie allerdings noch eine Gegenspielerin braucht. Die zweite Hauptfigur ist die einzelgängerische Polizeibeamtin Clara Roussel, die während ihrer Fahndungen nach dem verschwundenen Kind mehr und mehr Einblicke in eine Welt des schönen Scheins bekommt, die sie zusehends abstößt. Als nach wenigen Tagen der abgetrennte Fingernagel eines Kindes und schließlich ein Milchzahn per Brief bei der verzweifelten Mutter eintrifft, wird klar, dass Kimmy tatsächlich Opfer einer Entführung wurde. Mehrere überraschende Wendungen und Zeitsprünge sorgen dafür, dass man den Roman mit atemloser Spannung bis zum Ende durchliest.
Delphine de Vigan gehört zweifelsohne neben Karine Tuil zu denjenigen französischen Autorinnen, die ihre Romane am Puls der Zeit erzählen und statt auf erzählerische Finessen auf spannende Plots setzen. Wer Pageturner liebt, ist bei De Vigan – und Tuil – bestens aufgehoben. Da nimmt man das manchmal Kolportagehafte oder auch Plakative gerne in Kauf. Und dennoch sind ihre Romane keineswegs nur gut gemachtes literarisches Junkfood. Dafür sind ihre Stoffe zu unbequem und zielen immer auch auf die blinden Flecke unserer medial übersättigten Gesellschaft ab. Ob es junge Obdachlose, alkoholsüchtige Teenager, demente Frauen oder eben ausgebeutete Kinder sind – De Vigan wirft das Schlaglicht stets auf diejenigen, die im Leben nicht so viel Glück haben und eher Schattenexistenzen führen. Auch wenn Millionen von Followern Sammy und Kimmy tagtäglich beim Älterwerden zuschauen, bleibt doch ihr ‚wahres‘ Leben im Verborgenen. Ihre Mutter, möglicherweise eine zeitgenössische, nach Glamour gierende Madame Bovary, kann diese beiden Welten schon längst nicht mehr auseinanderhalten. Sie will ja nur das Beste für ihre Kinder, denn wer will heutzutage nicht unbedingt berühmt werden? Gefragt hat sie die beiden jedoch nie. Was dem Roman mit großer Sicherheit gelingt, ist unser Bewusstsein zu schärfen und zwar immer dann, wenn uns z.B. auf unserer Instagram-Timeline mal wieder ein kurzes Video mit einem wahnsinnig süßen Kleinkind begegnet. Lieber nicht liken.
Delphine de Vigan: Les enfants sont rois. Paris: Gallimard, 348S.
Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige. Köln: DuMont, 320S.
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