Im Traum ist mir nicht George Clooney mit einer Tasse Kaffee in der Hand begegnet, charmant lächelnd und voller Selbstverständlichkeit „Nespresso, what else?“ murmelnd, sondern Emma Becker, eingehüllt in ein rotes Sommerkleid, mitten im Berliner Sommer, einen Joint in der einen, ihren neuen Roman L’inconduite (2022) in der anderen Hand haltend. „Du coup“, setzt sie an mich adressiert an, „mein Begehren… what else?“. So oder so ähnlich hat mein Unterbewusstsein mit einer Erwartungshaltung auf diesen Roman reagiert, noch bevor ich meine Lektüre begonnen hatte. Ausschlaggebend dafür war sicherlich der Klappentext, den ich am Tag vor und nach dem Buchkauf, übrigens auf französischem Terrain in Wissembourg, mehrfach gelesen hatte:
Cette grande joie sombre du désir qui rapproche les hommes et les femmes, ça me passionne, ça me réjouit, ça m’émeut au plus profond de moi-même. C’est ce désir pulsion de vie que j’aime et que j’ai envie de raconter dans mes livres.
Diese große, düstere Freude des Begehrens, die Männer und Frauen einander näherbringt, begeistert mich, macht mir Freude und bewegt mich in meinem tiefsten Inneren. Es ist dieses pulsierende Verlangen, das ich liebe und von dem ich in meinen Büchern erzählen möchte.
Auch wenn andere Romane in der Erwerbslogik vor Beckers neuem Buch an der Reihe gewesen wären, angelte ich nicht zuletzt dank der Traum- oder der traumatischen Erfahrung dieses in unschuldiges Weiß gehaltene Werk aus dem Regal und begann die Lektüre. Wider Erwarten beginnt der Roman, der zeitlich nach Beckers Autobiografie La Maison zu verorten ist (die Rezension zu La Maison finden Sie hier), gerade nicht mit erotischen Erlebnissen, sondern mit persönlichen Erinnerungen an ihre rebellische Jugendzeit als (fast) volljährige junge Frau. Während ihrer Studienzeit hat sie eine Zeit lang bei ihren Großeltern gelebt, eine für beide Seiten Aneinanderreihung betrüblicher Ereignisse. Dieser Auftakt bietet ihr die Möglichkeit, den Bogen zur Schilderung der Sterbebegleitung ihres Großvaters zu spannen, die allerdings nach ihrem Liebesgeständnis ihm gegenüber relativ abrupt abbricht. Zwischengeschaltet sind ebenfalls Erinnerungen an ihre leidenschaftliche Affäre mit dessen Arztkollegen. Die sich aus der Bitte um Sterbehilfe ergebende erotische Begegnung zwischen der Erzählerin und dem älteren Arzt in dessen Auto verknüpft das Sterben des Großvaters mit dem ,kleinen Tod‘ ein paar Stockwerke tiefer. Wichtig zu betonen ist, dass Becker sich hier keinesfalls prostituiert, sondern sich nicht anders zu helfen weiß, um die scheinbar verlorene Kontrolle über die Situation wieder zu gewinnen (schade, dass ihr nichts anderes einfällt!). Vielleicht muss diese Szene mit den Zeilen zusammengelesen werden, die den Roman beenden. Sie sind eine Art offene Selbstdiagnose, gar ein Credo, zumindest für mich: „Il faudrait que je puisse vivre sans ce constant regard masculin, que je puisse me définir par moi-même, ma liberté, ma capacité d’agir“ („Ich müsste ohne diesen konstanten männlichen Blick leben können, mich selbst definieren können, mich, meine Freiheit, meine Handlungsfähigkeit“). Es bleibt abzuwarten, ob Becker in zukünftigen Romanen diese Befreiung glückt.
Zurück zur erotischen Autoszene: An dieser Stelle des als Prolog fungierenden langen Einstiegs offenbart Becker das ihrem Roman zugrunde liegende Strukturmuster: Auf das Ende (einer Liebe) folgt ein neuer Anfang, folgt der Beginn einer neuen Liebesgeschichte, die allein über sich einander hingebende Körper vermittelt wird. Die offene, schon platonische Beziehung, die sie mit dem Kindsvater Lenny unterhält, wird zugunsten einer sich bloß als Episode entpuppenden Liebesgeschichte mit dem arbeitslosen Jon beendet. Dabei dachte sie, er sei endlich der Mann ihres Lebens. Als der Eros einschläft, flüchtet die Erzählerin, die als Kellnerin in einem Café arbeitet, erst in eine schnelle Affäre mit einem unglücklich verpartnerten, Anzug tragenden Amerikaner und schließlich nach Paris, wo sie sich – vergeblich – die Vitalisierung ihres Liebeslebens von einem Filmemacher erhofft. Sie beide verbindet neben der Liebe zur Kunst auch die zum erotischen Austausch. Ebenso wenig wie John ist der Franzose Vincent der Mann ihres Lebens, wie sie sich aufgrund seines kreativen Berufs fälschlicherweise eingeredet hat. Das Ende des Romans wartet übrigens mit einem überraschenden Liebescomeback auf – mit wem, das wird an dieser Stelle nicht verraten. Angesichts ihrer promiskuitiven Lebens- bzw. Liebesweise ist dies ganz und gar nicht selbstverständlich.
Das ist also in groben Pinselstrichen der Inhalt des Romans. Ihr eigenes Begehren, what else? Dieser Eindruck mag sich trotz des Aufschubs erotischer Schilderungen zu Beginn aufdrängen. Auf jeden Fall lässt sich Beckers neuer Roman so deuten, weil – nun ja, wie soll ich sagen, – sich ein pipe an den nächsten reiht. Man kann L’inconduite tatsächlich als erneuten literarischen Bericht einer Nymphomanin auf der Suche nach sich selbst abtun, deren Erfolg darin besteht, dass es wirklich (mich eingeschlossen) genug Leser gibt, auf die die erotische Obsession der Erzählerin anziehend wirkt, die buchstäblich an ihren Lippen hängen, um zu erfahren wie sie ihre Lust in jeder erdenklichen Art auslebt. Das würde ihrer Art zu erzählen, ihrem Roman jedoch nicht gerecht! Denn immerhin ist es auch möglich, die weibliche Nymphomanie als Abrechnung mit dem bourgeoisen monogamen Paradies zu interpretieren. Diese Lesart liegt nicht wirklich verdeckt an der Oberfläche ihres Erzählens. Darauf deutet auch der Romantitel hin, L’inconduite, eine in-conduite, eine deviante Haltung. In Relation zu welcher Norm? Vielleicht zu dem, wie die Boomer leben. In Emma Beckers Schreiben lese ich aber noch etwas anderes, etwas, das viel wichtiger ist als Nymphomanie und Abweichung vom bourgeoisen Wertekanon, mit dem sie aufgewachsen ist. Ihre Erzählung ist – muss daran wirklich erinnert werden? – ein imaginatives Spiel mit der Erotik. Sie schreibt nicht einfach darüber, wie sie Sex hat, sondern darüber, wie sie schreibt, dass sie sexuell aktiv ist. Sie verfasst Narrationen darüber, was es für eine Erzählerin bedeutet, Sex zu haben. Dies legt nahe, dass Erotik etwas anderes als bloßes Triebgeschehen ist. Es ist ein Zugang zu dem Anderen – und darüber vermittelt zu sich selbst. So enttäuschend für den Leser ihre vergebliche Sexreise nach Paris ist, die sie nur angetreten hat, weil sie sich in die Vorstellung verliebt hat, einen Filmemacher, mit dem sie erotische Mails austauscht, zu lieben, so wichtig scheint mir diese Episode aus erzählerischer Perspektive zu sein: Hier geht es nämlich um eine Metaebene. Die Figur namens Emma möchte sich keineswegs von ihrem sexuellen Drang distanzieren. Darüber hinaus verdeutlicht sie jedoch, wohl auch gegen jede Pornographiekritik, dass Erzählerin und Autorin, Narration und gelebtes Leben nicht eins sind. Dass die Protagonisten Mails über das schreiben, was sie aneinander erotisch interessiert, wird erst dadurch interessant, dass es in Paris gar nicht eintritt. Die Imagination und das reale Leben klaffen in der Erzählung deutlich auseinander. Becker schreibt Emma, nicht Emma Becker. Becker schreibt jemand Anderen, auch wenn es biographische Nähen unweigerlich geben wird. In diesem Schreiben sieht Becker eine Art (Selbst-)Rechtfertigung. Gerechtfertigt werden kann man jedoch nur durch einen Anderen. Die von der Autorin angestrebte Anerkennung ist eine Zuschreibung, die nur von einem Anderen erfolgen kann. Schreiben kann man also nur für den Anderen (eine steile These, ich weiß). Ist Schreiben dann nicht immer ein Akt der Erotik, des Für-den-Anderen-seins? Und vielleicht liegt ja genau darin das Geheimnis der Motivwahl ihrer Romane und damit ihres Erfolgs…
Emma Becker (2022): L’inconduite, Paris: Albin Michel, 366 S. Noch nicht in der deutschen Übersetzung erschienen. Alle deutschen Übersetzungen dieses Artikels von Lars Henk.
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