Eine Geschichte, so verzweigt wie die Wurzeln eines Baums

Gaël Faye erzählt in 'Jacaranda' vom Völkermord in Ruanda

Veröffentlicht am
20.1.2025
Lea Sauer

Lea Sauer

RPTU in Landau
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„La guerre!“, der Krieg, ruft der zwölfjährige Milan zu Beginn des Romans Jacaranda (2024) des französisch-ruandischen Schriftstellers Gaël Faye aus, als er mit seinen schlechten Schulnoten konfrontiert wird. Es ist das Jahr 1994 und gemeint ist der Krieg in Ruanda mit seinen schrecklichen Gräueltaten, die Milan, selbst halb rwandais, bis in den Schlaf verfolgen und ihm jegliche Konzentration rauben. Eine Notlüge, denn es stimmt zwar, dass seine Mutter ursprünglich aus Ruanda stammt, doch lebt sie seit über zwanzig Jahren in Frankreich und ist mittlerweile so assimiliert, dass bis auf wenige Telefonate mit der „erweiterten Familie“ in Brüssel jede Verbindung in die einstige Heimat gekappt ist. Das Kriegsleid kennt Milan deswegen nur aus dem Fernsehen. Bis es dann schließlich doch näher rückt, weil eines Tages Claude auftaucht, ein Cousin, der den Genozid überlebt hat. Hat die Mutter etwa doch Familie im fernen Afrika? Was verschweigt sie ihm?

Das ist der Ausgangspunkt dieser Familiengeschichte, für die Gaël Faye im vergangenen Jahr den Prix Renaudot erhielt. Bereits sein Debütroman Petit Pays (2016; dt. Kleines Land, 2017) brachte ihm gleich mehrere Preise ein und machte ihn zum Nachwuchsstar der französischen Literaturszene. Auch dort ging es bereits um den Bürgerkrieg in der Region in den 1990ern, allerdings vom Nachbarland Burundi aus betrachtet und das sehr viel kondensierter – um nicht zu sagen kürzer. Nun holt Faye weit aus. Der titelgebende Baum, der Jacaranda, deutet bereits darauf hin, dass im Roman die Verästelungen zwischen verschiedenen Generationen und Familiensträngen im Zentrum stehen, die Erkundung der eigenen Wurzeln, die untrennbar mit dem Land verbunden sind, in das sie sich eingraben, um die Verzweigungen der Geschichte, ob der eigenen oder der eines ganzen Landes, der wir nicht selten ausgeliefert sind, egal, was wir tun.

Zunächst einmal befinden wir uns allerdings in Frankreich, genauer in Versailles, wo Milans anfängliche Notlüge nach und nach zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Denn fortan teilt er sein Kinderzimmer mit Claude, der kein Wort Französisch spricht und sich nachts vor Wimmern auf seiner Matratze krümmt. Schnell nimmt Milan den schmächtigen Jungen unter seine Fittiche, schließlich hat er sich schon immer einen kleinen Bruder gewünscht, der die ewige, unerträgliche Stille im Elternhaus vertreiben möge. Nur die tiefsitzende Schnittwunde an seinem Kopf lässt vermuten, was Claude überlebt haben muss. Der Krieg, so wird deutlich, geht Milan anscheinend doch näher, als es seine Mutter ihm zunächst einmal weismachen wollte, verfolgt ihn bis in die Pariser Vororte. Und das wird Milan für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Die Mutter hüllt sich derweil in Schweigen, will weder von ihrer Familie, noch von Ruanda etwas wissen, bis sie schließlich vier Jahre später, 1998, doch in ihr Heimatland zurückkehren muss, wegen Papierkram, wie sie sagt.

Es ist das erste Mal, dass Milan mit der Vergangenheit seiner Mutter konfrontiert wird. In Kigali lernt Milan nicht nur seine Großmutter, sondern auch eine Stadt kennen, in der das Trauma des Völkermords hinter jeder Ecke schlummert. Auf den Straßen tummeln sich die sogenannten mayibobo, also die verwaisten überlebenden Kinder und Jugendlichen, überall stehen provisorisch zusammengezimmerte Holzhütten – und es gibt eine Wiedersehen mit Claude, der damals eines Tages genauso schnell wieder verschwunden war, wie er aufgetaucht war. Für Milan ist das alles genauso fremd wie seine Familie, ja sogar seine eigene Mutter, die bis kurz vor Schluss das große Rätsel des Romans bleibt. Aber es ist auch aufregend, neu und vielfältig. Immer wieder kehrt Milan in den folgenden Jahren zurück und zieht später sogar komplett nach Kigali, wo sich mittlerweile Reihenhäuser im US-amerikanischen Vorstadtstil aneinanderreihen und Großkonzerne die Gentrifizierung vorantreiben. Immer ist er dabei auf der Suche nach den Ursprüngen des Traumas – sowohl des familiären als auch des nationalen.

Kriegstrauma, Landesgeschichte, Identitätskrise, ja sogar Coming-of-Age – all diese Attribute könnte man an Jacaranda anlegen. Das ist ganz schön viel Stoff und könnte leicht in eine Collage aus wikipediaartigen Abhandlungen abrutschen. Der Konflikt zwischen Tutsi und Hutu ist schließlich mindestens bis zur deutschen Kolonialisierung Ende des 19. Jahrhunderts zurückzudatieren, wo die Deutschen bereits ihre Rassenlehre in die Region einführten, inklusive der Kategorisierung von Menschen nach physiognomischen Merkmalen, wie sie später von den Nazis verwendet wurde. Bei Gaël Faye lesen sich solche Fakten allerdings an keiner Stelle langweilig. Denn immer sind es die Figuren, die auf die eine oder andere Weise von der traurigen Realität direkt betroffen sind. Das mag ein poetologischer Kniff sein, mithilfe dessen die historischen Umstände einer leserfreundlichen Ordnung unterworfen werden. Doch es drängt sich noch ein anderer Eindruck auf: Geschichte ist bei Faye nicht abstrakt, sondern buchstäblich das Leben. Es ist eine ausdrückliche Stärke des Romans, dass der Genozid an den Tutsi zwar scharf verurteilt wird, ohne dabei allerdings die Gegenseite zu entmenschlichen. Alle, Täter wie Opfer, sind Spielbälle der Geschichte, ein Zusammenleben scheint nur möglich, wenn der Blick sich auf eine friedliche Zukunft richtet. Und das, ohne das Morden zu vergessen. Ein schwieriges Unterfangen, ob nun in der Realität oder der Fiktion. Faye schafft diesen Spagat zumindest in seinem Roman. Insbesondere auch, weil er eine schnörkellose, unprätentiöse Sprache findet, die den Horror benennt, ohne pornografisch zu sein, womit er den Überlebenden seinen Respekt zollt.

Sicherlich gelingt ihm das auch, weil dem Autor die Fakten auf ganz persönlicher Ebene nicht fremd sind und er somit ein sehr feines Gespür für die Emotionalität von Worten, die Zwischentöne hat. Wie auch sein Protagonist hat Gaël Faye burundischen Background und wohnt mittlerweile in Kigali, wo er neben der Schriftsteller- und Musikkarriere auch im Collectif des parties civiles pour le Rwanda (CPCR) arbeitet, d.h. einer Art ziviler Interessenvertretung, deren Ziel es ist, verdächtige Täter des Genozids, die in Frankreich leben, vor Gericht zu bringen. Es ist natürlich immer etwas wohlfeil, bei einer Romanrezension die Bezüge zur Biografie von Autor oder Autorin zu betonen, um die Qualität des Geschriebenen hervorzuheben. Bei Gaël Faye wäre es allerdings falsch, das alles gänzlich unerwähnt zu lassen. Ist doch die Geschichte so detailreich, so schillernd erzählt, dass man die persönliche Beziehung zu dieser Region Afrikas auf jeder Seite spürt. Generell können der Genozid in Ruanda und das Leben mit dem Trauma als das Kernthema von Fayes künstlerischem Wirken bezeichnet werden, das nicht nur aus Romanen, sondern auch aus mehreren Musikalben besteht. Einige Motive und Bilder treten immer wieder auf, wie beispielsweise die taxiphone, mit denen man im Exil in Kontakt mit der Heimat bleibt, das Gefühl der Einsamkeit nach der Flucht, die Sprachlosigkeit nach dem Grauen, der Hunger nach Leben im Schatten des Todes.

Damit wird Gaël Faye durchaus zu einem politischen Autor, dessen Werke der gegenwärtigen littérature engagée zuzuordnen sind. Dahinter lässt sich der Antrieb vermuten, gegen das Vergessen anzuschreiben. Denn, so traurig es auch ist, der Völkermord in Ruanda wird auch in Frankreich eher ein Nischenthema bleiben. Umso besser, dass Fayes Roman Jacaranda dank der Auszeichnung mit dem Prix Renaudot mehr öffentliche Aufmerksamkeit zuteil werden dürfte. Verwunderlich übrigens, dass die Verwicklungen der deutschen Kolonialherren mit der ruandischen Geschichte bislang auch in Deutschland nahezu totgeschwiegen werden. Als literarisches Thema wird der deutsche Kolonialismus hierzulande ohnehin erst in der jüngsten Gegenwart zur Sprache gebracht – oft von Autor:innen, deren Familien selbst von kolonialer Unterdrückung und den Folgen betroffen waren (wie z.B. Lene Albrechts Weiße Flecken (2024) oder Simoné Goldschmidt-Lechners Messer, Zungen (2022), die beide eine ausdrückliche Empfehlung wert sind). Es wäre auch hier an der Zeit, dies zu ändern. 

Gaël Faye, Jacaranda, Grasset, 281 S.

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