Pfeile in der Brust

Von der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt erzählt die 'transclasse' Kaoutar Harchi in "Comme nous existons" (2021)

Veröffentlicht am
20.9.2023
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Als Pierre Bourdieu auf Anraten von Franz Schultheis in der letzten Sitzung seiner Abschiedsvorlesung am Collège de France seinen eigenen Werdegang einer soziologischen Selbstreflexion unterzogen hat, hat er nicht ahnen können, dass sich das von Annie Ernaux mit dem Begriff der Autosoziobiographie etikettierte Genre im internationalen literarischen Feld eines Tages einer so großen Beliebtheit erfreuen würde.

Neben Ernaux haben vor allem Didier Eribon, Édouard Louis und Rose-Marie Lagrave Bourdieus Ansatz und sein poetologisches Programm in Frankreich weiterentwickelt, um ihre trajectoires an der Schnittstelle von Autobiographie und soziologisch fundierter Analyse zu beschreiben. Nun lässt sich seit einigen Jahren eine Verschiebung hinsichtlich der transclasse-Erzählungen ausmachen: Längst sind es nicht mehr alte oder junge, hetero- oder homosexuelle, weiße Frauen und Männer, die über ihren Aufstieg schreiben, sondern inzwischen legen auch junge Frauen aus immigrierten Familien der Maghreb-Staaten Berichte über ihre soziale Mobilität vor – die Autosoziobiographien sind intersektionaler geworden.

Ein Beispiel dafür ist der 140 Seiten schmale Erzählband Comme nous existons (2021) von der Schriftstellerin und Soziologin Kaoutar Harchi. Die in Frankreich geborene Tochter marokkanischer Einwanderer berichtet darin von ihrer Kindheit und Jugend im Straßburger Vorort Elsau sowie von ihrer Bachelor-Studienzeit an der dortigen Universität. Zu den wichtigsten Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend zählt der Schulbesuch eines privaten katholischen Gymnasiums außerhalb der Vorstadtsiedlung – eine Entscheidung ihrer als Reinigungskräfte arbeitenden Eltern. Ebenso wichtig ist die Lektüre von Abdelmalek Sayads La double absence (1999), einer soziologischen Aufsatzsammlung zu den Sorgen und Nöten prekär lebender Immigranten in Frankreich, die es ihr erlaubt, ihr eigenes Leben und das ihrer Familie zu reflektieren. Die wissenschaftliche Studie, die sie kurz vor ihrem Abitur entdeckt, liefert ihr einen Schlüssel, um sich selbst zu verstehen. Diese Augen öffnende Lektüreerfahrung bestimmt sogar ihre Studienwahl: An der Uni in Straßburg schreibt sie sich für ein Soziologiestudium ein. Des Weiteren ist der eigene Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Klassismus in der Schule und später an der Universität als identitätsstiftendes Erlebnis zu nennen. An der Universität reift in ihr schließlich der Wunsch, literarisch schreiben zu wollen und damit, ihre soziale Herkunft zu rächen, wie sie in direkter Nachfolge zu Annie Ernaux erklärt.

Damit ist nicht nur eine Zusammenfassung von Harchis autobiografischer Erzählung gegeben, sondern es sind darüber hinaus einige der zentralen Schlagworte der erfolgreichen Gattung der Autosoziobiographie angesprochen: Bildungsaufstieg aus den classes populaires, Scham, Verrat, Schreiben. Es stellt sich also die folgende Frage: Fügt Harchi den Autosoziobiographien überhaupt etwas substantiell Neues hinzu, wenn man von der Analyse und Reflexion der Herrschaftskategorie der Ethnie absieht, die Ernaux, Bourdieu, Eribon, Louis, Lagrave nicht aufweisen können?

Mit einem Wort: Jein! Auf einer Linie insbesondere mit dem autosoziobiographischen Modell von Annie Ernaux reflektiert Harchi den Zusammenhang von sozialem Aufstieg, Entfremdung vom Ursprungsmilieu, Scham, Verrat und Schreiblust. Allerdings leidet sie im Unterschied zu Bourdieu und Ernaux nicht unter einem gespaltenen Habitus, einem habitus clivé. Der soziale Aufstieg, der im letzten Kapitel noch eine Erweiterung erfährt, über die an dieser Stelle nichts verraten werden soll, führt nicht zum Bruch mit ihrer Familie. Vielmehr kommt die junge Frau zur Einsicht, dass sie ihre Bildungspläne unabhängig von ihren Eltern verfolgen kann. Die Bindung an ihre Familie – ihr habitus lié – ist gewissermaßen das, was es ihr ermöglicht, einen neuen Weg einzuschlagen, ohne ihre Familie zu verraten. Das konnte man auch bei Rose-Marie Lagrave nachlesen, deren autobiographische Untersuchung ebenfalls 2021 erschienen ist. Trotz ihres Bildungsaufstiegs ging sie in ihrem Elternhaus ohne Scham- und Verratsgefühle ein und aus.

Die Originalität von Harchis transclasse-Bericht besteht vor allem in der Komposition der Selbstermächtigung, ihren eigenen Lebensweg ohne Familienbruch fortzusetzen: Im ersten Kapitel „Une flèche“ (dt.: „Ein Pfeil“) beschreibt Harchi die von ihr gemachte Entdeckung, dass ihre Eltern ein gemeinsames Leben vor ihrer Geburt gelebt haben. Diese sie als Kind wie ein Pfeil getroffene Einsicht ist für ihre eigene Zukunftsplanung von immenser Bedeutung, weil Harchi im letzten Kapitel „Car la flèche“ (dt.: „Denn der Pfeil“) ihre Erkenntnis schildert, dass ihre Familie nicht nur für sie lebt: Hania und Mohamed beziehen ihre Identität nicht allein dadurch, ihre Eltern zu sein. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Kaoutar nicht nur Tochter ist, sondern darüber hinaus eine autonome junge Frau. Gerade die Erinnerung an diesen Pfeil in ihrer Brust wird für sie zur Selbstautorisierung, das elterliche Nest, diese von Harchi als verzauberte Insel bezeichnete Stätte, zu verlassen und ein eigenes Leben zu führen – ohne Scham- und ohne Verratsgefühl. Harchi ist kein Klassenflüchtling, wie sie ihren Eltern gegenüber gesteht. Um im semantischen Bild des Pfeils zu bleiben: Die Sehne des Bogens muss nicht reißen! Unmittelbarer Ausdruck dessen ist das Geschenk, das Hania ihrer Tochter überreicht: der Koran. Diese heilige Schrift ist ein wichtiger Bestandteil muslimischer Familien. Hania und Mohamed geben ihrer Tochter Wurzeln mit, vergessen aber nicht, sie mit Flügeln auszustatten, damit sie ihren eigenen Weg gehen kann. Harchi trägt einen Pfeil in ihrer Brust, der ihr die Selbstermächtigung ermöglicht, sich ihren Platz in der sozialen Welt zu suchen.

Interessant an Comme nous existons ist auch das Spiel mit dem autobiographischen Pakt, auf den sich auch die übrigen Autosoziobiographien nicht immer einlassen: Harchi erinnert sich im ersten Satz ihrer Erzählung an „ce jour-là, j’ignore lequel, mais ce jour qui un jour a existé“ (S. 9, dt.: „dieser Tag, ich weiß nicht welcher, aber der Tag, der eines Tages existiert hat“), als sie heimlich den Hochzeitsfilm ihrer Eltern mitgeschaut hat. Indem sie durch das Passé composé und das Demonstrativpronomen „ce“ dieses punktuelle Ereignis aus dem Zeitlauf hervorhebt, es aber gerade nicht datiert, sondern es gleichsam de-präzisiert, also eine temporale Unschärfe in Szene setzt, legt sie nahe, dass das Ganze so nicht stattgefunden haben könnte. Ein kleiner Bruch mit dem autobiographischen Pakt zu künstlerischen Zwecken? Ja, denn, so scheint Harchi uns sagen zu wollen, die Kunst ist das Wahre, nicht die dokumentarische Abbildung erfahrener Wirklichkeit. Das fällt bei Harchi noch einmal akzentuierter auf als bei Ernaux, Eribon, Louis und Lagrave. Daher stellt Comme nous existons weniger eine ernauxsche Auto-Ethnologie dar als eine coming-of-age-Geschichte, die in großer Zuneigung für ihre Eltern Harchis eigenen Weg in die Weite beschreibt, der sie in zwei weitere Welten geführt hat – die der Wissenschaft und der Literatur.

Es lohnt sich also trotz der vielen Parallelen insbesondere zu Ernaux’ Autosoziobiographien, die feinfühlige Erzählung über das Verbindende (in) einer Familie aufzuschlagen und sich in die persönliche Lebensgeschichte von Kaoutar Harchi hineinziehen zu lassen, eine Aufstiegserzählung ohne Bruch mit den eigenen Ursprüngen.

Kaoutar Harchi (2021): Comme nous existons. Arles: Actes du Sud, 140S. Bislang noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen.

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