„Oscar est mort parce que je l’ai regardé mourir, sans bouger.“ („Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe, ohne mich zu rühren.“) Das ist der steile Auftakt des Erstlings La Chaleur (Flammarion 2019; dt.: Hitze, Kein&Aber 2021) des jungen Autors Victor Jestin.
Derjenige, der dort spricht, ist Léonard, siebzehn Jahre alt und gerade mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern im Familienurlaub auf einem Campingplatz irgendwo an der französischen Küste des Landes. Eigentlich ist er, wie er selbst sagt, ein schüchterner Junge, einer der „les jours gris“ der Sommerhitze vorzieht und noch niemals betrogen, geklaut oder sich geprügelt hat. In der Atmosphäre dieser Campingwelt mit ihren „propres lois“ aus Spaßkultur und Eintönigkeit aber, in denen zwei Wochen sich wie ein ganzes Leben anfühlen, geschieht etwas Schreckliches, das Léos Leben für immer verändern wird. Léo beobachtet in seiner letzten Nacht vor der Abreise, wie sein seltsam unbestimmt bleibender Campingfreund Oscar sich selbst mit den Kordeln einer Schaukel erdrosselt – und schreitet nicht ein. Im Gegenteil, er tut das schier Unglaubliche: Er trägt den Leichnam zum Strand und begräbt ihn dort im Sand, nimmt sogar sein Smartphone an sich. Verrückte Übersprungshandlung oder steckt mehr dahinter? Das ist die Ausgangsfrage des Romans, aus ihr verdichtet sich nach und nach die Geschichte eines Jahrhundertsommers mit allem, was dazugehört: Jugendliche, Weltekel und ja, immer wieder Sex.
Der spielt neben den Schuldgefühlen Léonards die eigentliche Hauptrolle im Roman und wird dabei so jugendlich-unbeholfen beschrieben, dass man bei jeder Zeile vor Fremdscham zusammenzuckt. Eine Bekanntschaft Léonards, Louis, der zunächst eher als eine Art mackriger ‚Aufreißer‘ daherkommt, lässt kein Detail aus, wenn er von seiner Nacht mit Zoë erzählt. Was zunächst als Angeberei erscheint, kippt schnell: „J’essayais de rentrer, j’étais brutal, tellement j’avais peur. Ma bite se pliait en deux contre son ventre, c’était horrible…“ („Dann habe ich versucht, ihn brutal reinzuschieben, so große Angst hatte ich. Er knickte ihr am Bauch ab, es war grauenhaft.“) Das man diese Wendung in Louis’ seitenlangen Bericht zunächst nicht kommen sieht, liegt vor allem an der sprachlichen Präzision, mit der Jestin die Sätze strickt, von der Mündlichkeit mühelos ins Poetische wechselt und dabei einen guten Sinn für Dialoge beweist.
Derweil nähern sich Léo und Luce an. Auch dies ist eine typische Teenager-Affäre, wäre da nicht in der vorangegangenen Nacht der Vorfall mit Oscar gewesen, der Léo noch mehr von der Welt trennt, als es ohnehin schon der Fall war. Ob sein Weltekel es war, der ihn dazu trieb, Oscar einfach zu verscharren und seinen Tod zu verschweigen, bleibt im Unklaren – zum Glück, denn so liegt über dem ganzen Roman eine schwebende Bedrohlichkeit. Man wird die Vermutung nicht los, dass es auch an der titelgebenden ‚Chaleur‘ liegen mag.
Diese ist immer präsent, ob als Kulisse eines Tatorts, in Form wallender Schuldgefühle oder ungesteuerte Lust. Jestins Stärke liegt vor allem darin, die Hitze in nahezu jeder Zeile spürbar zu machen. In lakonischen Sätzen und kleinteilig beschriebenen Szenen wird der Sand in der Badehose spürbar, Schweiß, der sich mit Sonnencreme mischt, Stimmen und Musik, die sich in den Dünen verlieren, die immer gleichen Sommerhits (Des-pa-cito… Quiero desnudarte a besos despacito…; Vamos a la playa), heiße Tischtennisplatten, Aquafitness, die aufgesetzte Fröhlichkeit von solchen Urlaubsparadiesen. Beeindruckend ist vor allem die Darstellung der Zeit, die langsam dahinschmilzt wie Butter in der Sonne und klebrig wie Vanilleeis.
An manchen Stellen rutscht die Erzählung etwas ins Kitschige, etwa, wenn die Wellen des Meeres in direkte Analogie zur Innenwelt Léonards gesetzt werden. Auch ist die Verschränkung von Sextrieb und Suspense etwas einfach gestrickt. An einer Stelle heißt es gar: „C’était en l’absence d’une fille qui m’aime que je m’étais égaré, cette nuit-là, dans les allés…“ („Weil es da kein Mädchen gab, das mich mag, hatte ich mich in jener Nacht verlaufen zwischen den Wegen…“), so als wäre die unerfüllte Leidenschaft eines Teenagers der schicksalshafte Grund dafür gewesen, Oscar nicht zu retten und im Anschluss zu verscharren.
Oscar, der Verstorbene, bleibt bei dem Ganzen eine Leerstelle, wir erfahren nicht viel über ihn. Er ist mit seiner Mutter angereist, die ihn erst zu suchen beginnt, als sie abreisen will; er hat wohl auch einen Annäherungsversuch bei Luce gestartet und wurde abgewiesen; er war auch einer der Außenseiter, eher still, vielleicht sogar ein wenig mysteriös. Hat er sich deswegen umgebracht? Oscar dient größtenteils lediglich als Spiegel für Léonards jugendlichen Weltekel, sodass beide Figuren beinahe miteinander verschwimmen. Ist die Ähnlichkeit beider reine Projektion eines vom Suizid seines Ferienkumpels traumatisierten Jugendlichen? Oder ist das Ganze vielleicht gar nicht wirklich passiert, sondern eine reine Fata Morgana, die langsam am Horizont erscheint; von Léonard erflunkert, um sich interessant zu machen? Durch die starke Ich-Zentrierung der Perspektive schleicht sich diese Vermutung ein, ohne dass man genau festmachen könnte, warum. Das Flirrende, Schwimmende ist eine Stärke des Romans, sie fängt die Atmosphäre solcher Camping-Städte an der Küste Frankreichs perfekt ein, beschwört die endlosen Sommer herauf, die wohl jeder aus seiner Jugend kennt – Sex, Cliquenstress und schlechte Beach-Musik. Den dramatischen Cliffhanger mit Oscars Selbstmord hätte es bei der atmosphärischen Dichte der Erzählung gar nicht gebraucht. Er wirkt eher etwas übergestülpt. Zugegeben, er zeigt Wirkung: La Chaleur liest sich wie das literarische Pendant zu einem poppigen Netflix-Film. Ein perfekter ‚Easy Read‘ für alle, die sich noch nicht vom Sommer verabschieden wollen.
Victor Jestin: La Chaleur, Paris: Flammarion 2019. In der deutschen Übersetzung von Sina de Malafosse (u.a. übersetzte sie auch La petite dernière von Fatima Daas ins Deustche) erschien der Roman 2021 unter dem Titel Hitze bei Kein&Aber.
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