Alle Gewalt geht vom gläsernen Menschen aus

Lilia Hassaines anti-utopischer Blick auf die Zukunft der französischen Demokratie in „Panorama“ entpuppt sich als anthropologische Reflexion

Veröffentlicht am
24.10.2023
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
Hier klicken um den Beitrag runterzuladen

Die schlicht gehaltene Aufmachung der Veröffentlichungen aus dem Verlagshaus Gallimard hat es mir angetan. In Buchhandlungen wird mein Blick von dem beigen Umschlag, auf dem der Name des Autors bzw. der Autorin in schwarzen sowie der Titel in roten Lettern gedruckt ist, magisch angezogen. So entdeckte ich während meines Sommerurlaubs im französischen Süden in einer kleinen, schmucken Buchhandlung Lilia Hassaines eine Woche zuvor erschienenen dritten Roman Panorama. Ihr erster Roman Soleil amer (2021) hatte mich schon vollends überzeugt (die entsprechend begeisterte Rezension finden Sie hier).Dem Klappentext gemäß bewegt sich Panorama zwischen verschiedenen Gattungen, zwischen Anti-Utopie und Kriminalroman. Das machte mich neugierig.

Hassaines Roman spielt in der französischen Zukunftsgesellschaft im Jahr 2050. Die Ich-Erzählerin Hélène, eine von Eheproblemen geplagte, ehemalige Polizistin, berichtet im Prolog nüchtern und kurz vom plötzlichen, spurlosen Verschwinden einer dreiköpfigen Familie ein Jahr zuvor. Das wäre wohl nicht weiter verwunderlich, wenn das zukünftige Frankreich nicht zu einer transparenten Gesellschaft geworden wäre. Die Bevölkerung lebt zu großen Teilen in Glashäusern. Bis in die intimsten Winkel der eigenen vier Wände ist das Leben sichtbar, das heißt kontrollierbar geworden. Das eigene Leben vollzieht sich anders gesagt unter den disziplinierenden Blicken der Nachbarinnen und Nachbarn. Das Panoptikum lässt in Panorama grüßen, genau wie das Überwachungssystem Big Brother. Wie kann also eine Familie so urplötzlich verschwinden?

Geschuldet ist diese Haussmannisation 2.0 übrigens der französischen Revolution im Jahr 2029, die sich, einem binären Schwarz-Weiß-Schema gemäß, in einem Strudel tödlicher Gewalt entlädt. Nachdem der Präsident ins Exil geflohen ist, kann die Verwaltung erst wieder Herr der Lage werden, als sie Straftätern und -täterinnen Amnestie im Ausgleich für den Verzicht auf weitere Gewalt verspricht. Daraufhin wird die Gesellschaft zu einer wahren Demokratie im ursprünglichen Sinne des Wortes umgebaut: Volksentscheide bestimmen fortan das politische Geschehen. Das französische Volk entscheidet sich endlich dafür, vollständig transparent zu werden, damit sich die blutigen Ereignisse nicht wiederholen.

Wer nun an das bekannte Sprichwort, „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, denkt, hat die Ausgangssituation in Hassaines Roman erfasst. Die Bewohner der Glashaussiedlungen halten sich seit der Gründung der transparenten Republik an diese Devise. In Frankreich ist der soziale Friede eingezogen, in den einzelnen Quartiers gibt es keine Verbrechen, vor allem keine häusliche Gewalt gegen Frauen mehr. Als Konsequenz wird die Polizei abgeschafft. Die ehemaligen Beamten und Beamtinnen verdingen sich nun als nahezu arbeitslose Bürgerpatrouille. Friede, Freude, Eierkuchen!

Umso überraschender ist das Verschwinden der Familie Royer-Dumas. Diesen Vorfall kann sich wirklich niemand in der prosperierenden Wohnsiedlung erklären, zumal die Terrasse des Familienanwesens einen Panoramablick auf die gesamte Nachbarschaft erlaubt. Von den Anwohnern will allerdings niemand etwas gesehen haben. Nachdem die Familie verschwunden bleibt, wird in der Verwaltung zähneknirschend der Beschluss gefasst, zu ermitteln. Hélène übernimmt diese Aufgabe. Sie ist die einzige ausgebildete Polizistin, die noch vor der Gründung der transparenten Republik im Staatsdienst gewesen ist. Schließlich wird ein Blutstropfen gefunden, der von Rose Royer-Dumas, der Mutter stammt. Eine freiwillige ‚Flucht‘ aus der gläsernen Gesellschaft der in einer finanziellen Schieflage steckenden Familie gilt damit nun auch offiziell als ausgeschlossen. Was ist an diesem Nachmittag genau geschehen? Gemeinsam mit Hélène begibt sich der Leser auf die Suche nach der scheinbar unauffindbaren Familie …

In ihrem neuen Roman zeigt Hassaine, dass sie das literarische Repertoire des Kriminalromans beherrscht: Gekonnt legt sie falsche Fährten, rekonstruiert Motive zwischen Geldnot, Gier und familiären Verletzungen, zaubert alte und neue Verdächtige aus dem Hut, spielt mit einem Identitätsschwindel und lenkt so von den eigentlichen Spuren ab, die in der Zusammenschau am Ende des Buchs eine logisch einwandfreie Erklärung des Verschwindens bieten. Hassaines Panorama bietet alles, was einen guten Krimi ausmacht. Auf den 236 Seiten führt uns die Autorin vor, dass noch die erfolgreichste Utopie, die die Gewalt vollkommen zurückgedrängt und ein völlig neues Maß an Sicherheit ermöglicht, letzten Endes neue Monster gebären wird.

Der menschlichen Kontrollgesellschaft sind also die Risiken ihres Scheiterns selbst inhärent. Die Utopie droht stets in eine Dystopie umzuschlagen. Dies hängt, wie Hassaine betont, mit der conditio humana zusammen. Hinter ihren Genre-Mischungen verbirgt sich anders gesagt eine anthropologische Erkenntnis, die von der Autorin erst auf der letzten Seite gelüftet wird: Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst niemals transparent sein wird. Der Mensch ist sich selbst nie vollumfassend gegeben. Mit der Psychoanalyse, aber auch mit dem gesunden Menschenverstand lässt sich sagen, dass die sichtbare Oberfläche eben nicht mehr ist als eine Oberfläche und sich die Motive unseres Handelns in den Tiefen unseres Selbst verstecken.

Hassaines Roman nun als klare Dystopie zu bezeichnen, wäre allerdings verfehlt. Denn dazu ist ihr Gesellschaftsentwurf, wie soll ich es ausdrücken, erstens zu wenig, nun ja, total: Das Sicherheitsbedürfnis schlägt sich nicht in weiteren elementaren Dimensionen des Lebens nieder. Die Transparenz begründet beispielsweise keinen Gesundheitswahn. Die Menschen lassen sich 2050 nicht immer und überall per Tracker orten, nicht täglich screenen und greifen auch nicht auf technische Innovationen der Zukunft zurück, um jegliche Zellveränderung auszumerzen. Zweitens spielen der drohende Klimakollaps inklusive globaler Fluchtbewegungen im Frankreich von morgen keine Rolle. Diese beiden Gründe mögen zu der Verlagsentscheidung geführt haben, im Klappentext auf den Begriff der Dystopie zu verzichten und ihn als Anti-Utopie zu bezeichnen. Die stilistisch kluge Entscheidung, die Geschehnisse aus der Perspektive Hélènes, einer Ermittlerin mit Eheproblemen, erzählen zu lassen, verhindert es, dass der Roman ins Thesenhafte abstürzt.

Lilia Hassaine hat mit Panorama, soviel steht fest, einen sehr lesenswerten Roman geschrieben, der einige negative Tendenzen unserer, dem omnipräsenten Blick des Anderen unterworfenen Gesellschaft in die Zukunft projiziert und uns so gleichzeitig viel über uns Menschen verrät.

Lilia Hassaine: Panorama. Paris: Gallimard, 236 S.

Weitere interessante Beiträge

Wenn das Pissoir zum Kunstwerk wird

Wolfgang Asholt widmet dem Surrealismus pünktlich zum 100-jährigen Geburtstag eine umfassende Studie

Walburga Hülk

Walburga Hülk

Universität Siegen
Zum Beitrag
Wenn Erzähler gefährlich werden

Jérôme Ferrari liefert in 'Nord Sentinelle. Contes de l'indigène et du voyageur' einen wortgewaltigen Abgesang auf das Patriarchat.

Matthias Kern

Matthias Kern

TU Dresden
Zum Beitrag
"So ist das nun mal".

Sandrine Collette erzählt in 'Madelaine avant l'aube' vom Lebenszyklus des unausweichlichen Elends.

Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
Zum Beitrag