Dieser nachdenkliche, stille Roman, Que reviennent ceux qui sont loin, stand nicht auf den Listen für die ganz großen Preise der rentrée littéraire. Was schade ist und doch nicht verwundert. Denn im Lärm des Betriebs zieht er weniger Aufmerksamkeit auf sich, auch wenn er in der einen oder anderen Buchhandlung auf dem Büchertisch der Neuerscheinungen oder Empfehlungen liegen mag und am Ende sogar doch mit dem den Prix Jean-René Huguenin ausgezeichnet wurde. Was heißt, dass er doch gelesen wurde und manch einer ihm, so wie die Rezensentin, wohl noch eine Weile nachsinnt. Que reviennent ceux qui sont loin ist ein Roman des jungen, heute in Rom lebenden Autors Pierre Adrian (geb. 1991 in Paris), der 2015 mit dem Buch La Piste Pasolini debütierte, einer erzählerischen Reise auf den Spuren des friaulischen, 1975 am Strand von Ostia ermordeten Dichters und Regisseurs.
Der Roman kommt ganz traditionell daher. Ein namenloser Ich-Erzähler schildert den Sommer einer bonne famille, die sich alljährlich im Juli und August in dem „sehr großen Ferienhaus“ in der Bretagne versammelt. Grand-mère, die Besitzerin, ist diesmal noch dabei, vielleicht, ja wahrscheinlich zum letzten Mal. Der Erzähler, Pariser Single, wie der Autor Pierre Adrian Anfang 30, ist nach Jahren der Abwesenheit, in denen er Reisen in ferne Länder und zu atemberaubenderen Stränden den Familienferien vorzog, zurückgekommen. Er erlebt einen Sommer, der allen Sommern hier gleicht und doch anders ist. Großmutter, Tanten, Onkels, Cousins, Nichten und Neffen sind da oder wechseln sich ab, und bis auf die Großmutter, die, eingehüllt in eine Decke, in ihrem Sessel sitzt, wuseln alle in Sommerlaune durch das sehr große alte Haus, das noch nicht restauriert und neu eingerichtet ist wie viele Häuser rundum; diese ähneln jetzt Häusern aus Wohn-Magazinen und beherbergen Sommergäste, die über Agenturen oder Plattformen in die Bretagne strömen. Dem Erzähler erscheint zunächst alles wie immer, und doch ist für ihn alles anders. Denn er spürt, wieviel Zeit während seiner Abwesenheit vergangen ist, und er spürt auch, dass ihn etwas von der Jugend vergangener Jahre trennt. Was sich schon daran zeigt, dass er nun nicht mehr mit seinem Vornamen, sondern als Onkel angesprochen wird, von Jean, Paul und den anderen Kleinen mit den seriösen alten Namen. Und so schaut er anders auf die Generationen, die hier zusammenkommen, und entwickelt einen tiefen Blick auf die Kindheit, die endlos lange hinter ihm zu liegen scheint, und auf das Alter, das sich allerorten zeigt, an der Großmutter ebenso wie am Haus. Jemand deutet jetzt auch an, dass man es vielleicht nicht halten können wird. Der noch junge, doch nicht mehr ganz junge Mann fragt sich, ob die bekannten Familienrituale, wie der Abschied vom Kuscheltier für die Sechsjährigen, zelebriert als rites de passage, so sein müssen wie sie sind, grausam. Ob dieser Schmerz nötig ist, damit Kinder vernünftig werden. Und während er alles mit neuer Verwunderung wahrnimmt, schenkt er zwei Familienmitgliedern seine besondere Aufmerksamkeit und Zuneigung: der gebrechlichen, vergesslichen Großmutter und dem ernsten Jean, der sich auf seinen ersten Schultag freut und den Winter lieber mag als den Sommer.
Pierre Adrians Roman ist keine herkömmliche Coming-of-age-Geschichte, oder allenfalls eine in der bisher wenig erzählten Variante eines späten Übergangs von den années de jeunesse zum âge mur, so wie er vielleicht typisch ist in Gesellschaften, die vor allem das Jungsein feiern und dieses möglichst lange konservieren. „Mademoiselles, êtes-vous heureuses?“, lautet die Frage in einem Dokumentarfilm von Jean Roach, und die am Strand interviewten Mädchen bejahen die Frage, sie antworten: „Oui, nous sommes jeunes et il fait beau. Combien de temps, encore, me reconnaîtrais-je dans leur douce réponse?” (S. 166). Que reviennent ceux qui sont loin ist ein Roman über einen trentagénaire, der mit der attraktiven, selbstbewussten Anne eine beiläufige Sommeraffäre statt der großen Liebe erlebt: eine kurze Geschichte der Adoration, einen Tanz im Club, einen One-night-stand (auf ihrem Nachttisch ein Buch von Annie Ernaux). Es geht um einen Mann in den frühen Dreißigern, der wieder eintaucht in den bretonischen Sommer mit Hortensien, Sonne, großen Gezeiten, mit Tagen am Stand, Badetüchern, Sonnencreme und dem Télégramme de Brest. In der Lokalzeitung liest er beiläufig die Annoncen von 49- und 50-Jährigen, die am Meer noch einmal neu anfangen wollen. Ist er ihnen schon näher als der Jugend? Der nicht mehr ganz junge Mann erlebt einen Sommer, in dem katholische Sonntage und ihre Rituale noch selbstverständlich und deshalb für ihn erstaunlich sind, einen Sommer, der wie alle Jahre mit dem Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August unwiderruflich zu Ende geht, weil alle die Koffer packen, das Strandmobiliar abgebaut wird und die Schatten länger werden. Der Ich-Erzähler: ein trentagénaire, der aus diesem Sommer als ein Anderer herauskommt. Und kaum hat die große Abreise stattgefunden, werden alle noch einmal zusammengerufen, und alle reisen an, und kein Sommer steht vor der Tür.
Que reviennent ceux qui sont loin ist ein leiser Roman über eine Stimmungslage, die mit feinen Strichen, impressionistisch fast, hingetuscht wird, im aleatorischen Rhythmus von Wahrnehmungen und Erinnerungen des achtsamen Ich-Erzählers. Ein Roman über die choses de la vie, über Zusammensein und Abschiede und eine große Familie und ein großes Haus, in dem sich die Geschichte der Familie verdichtet. Kitschig? Nein, überhaupt nicht. Vielmehr fein, intim und trotz aller Traurigkeit am Ende nicht ohne Hoffnung.
Pierre Adrian, Que reviennent ceux qui sont loin, Paris, Gallimard, 2022, 181 S. Bisher nur in französischer Sprache erschienen.
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