Achselzucken. So ist es nun mal – „Les choses sont ainsi“. Hinnehmen. Wegsehen. Trauern. Aufraffen. Weitermachen. Jagen. Säen. Hoffen. Pflügen. Suppe strecken. Verzweifeln. Hungern. Weghören. Begraben. Das ist das zehnte Buch der Autorin Sandrine Collette in Schlagworten. Ihr Roman Madelaine avant l’aube, 2024 bei Lattès erschienen, stand auf der Shortlist für die diesjährige Verleihung des Prix Goncourt. Zurecht? Eine Frage, die sich nach der Lektüre des 248 Seiten umfassenden Romans stellt…
Das Setting ist seltsam unbestimmt. Keine Orts-, keine Zeitangaben. Der Roman könnte überall und jederzeit spielen, was sicherlich beabsichtigt ist und dem Ganzen ein universelles Fundament gibt. Im Mittelalter? Nach der Apokalypse? Wir Leser wissen es nicht. Einen bloß vagen Hinweis liefert die Tatsache, dass es keinerlei Technik gibt, keine Handys, keine Elektrizität, keine Motoren. Außerdem lässt sich erahnen, dass sich die Romanhandlung in einer von Landwirtschaft geprägten Gegend situiert ist, vielleicht irgendwo im Gebirge Zentralfrankreichs. Dort versuchen die Menschen, von ihren spärlichen Erträgen zu leben, die sie dem kargen Erdboden abgewinnen, der nicht ihnen gehört, sondern einer Adelsfamilie, deren Palast irgendwo hinter den Feldern liegt. Ein unbekanntes Terrain, in das sich die Bewohner ohnehin niemals verirren, weil sie damit beschäftigt sind, das Land zu bestellen, ohne Aussicht auf anhaltenden Erfolg: Wenn Regen, Hagel und später Frost die keimenden Pflanzen nicht zerstört haben, dann ist es höchstwahrscheinlich die ausbleibende Sonne, die dafür sorgt, dass das feuchte Getreide verfault. Aber besser verschimmelte Körner zu Mehl weiterzuverarbeiten als gar kein Mehl zu haben. Sich krank hungern oder krank essen, das sind die Alternativen. Ein früher Tod ist also eher die Regel die Ausnahme. Daran kann und wird wohl auch kein Gott etwas ändern. Deswegen ist es wenig überraschend, dass die Menschen keine Kulte pflegen, nicht einmal mehr für bessere Ernten beten. Das gängige Erklärungsmuster, dem zufolge schlechte Ernten sich den Sünden der Menschen verdanken, wird von Beginn an gar nicht erst bemüht, weil es jegliche Glaubwürdigkeit verloren hat.
Das Leben ist, so ließe sich resümieren, eine einzige Passionsgeschichte ohne Aussicht auf Erlösung, denn: „Les choses sont ainsi“, es war immer so, es ist so und es wird auch immer so bleiben. Die Menschen passen nicht in die Welt, die Natur selbst ist lebensfeindlich. Zu leben heißt ganz einfach, nicht heute am Hunger, an einer Krankheit, an einem Arbeitsunfall zu krepieren, oder im Fall der Frauen, von dem irren Königssohn – Joffrey Baratheon und Ramsey Bolton aus Game of Thrones lassen grüßen – über die Felder gehetzt, vergewaltigt und abgeschlachtet zu werden. „C’est comme ça c’est tout“. So ist es eben, mehr gibt es nicht zu sagen. Mit den Achseln zucken, wegducken, weitermachen. Leben heißt, bloß den Tod aufzuschieben. Heute oder morgen sterben, entscheide dich! Eine trostlose Welt, die Sandrine Collette vor unseren Augen entstehen lässt.
Soweit der Rahmen. Die Autorin zoomt nun ein wenig näher in diese abgeschlagene Welt hinein, in einen bestimmten Weiler, aus drei kleinen Höfen bestehend, oberhalb des nicht näher beschriebenen Dorfes gelegen. Dort leben drei Familien: Die Zwillingsschwestern Aelis und Ambre mit ihren Ehemännern Eugène und Léon leben Tür an Tür. Aelis und Eugène haben drei Söhne, während Ambre und Léon zu ihrem Leidwesen kinderlos sind. Der dritte Hof wird von der verwitweten, von ihren eigenen Kindern zurückgelassenen Heilerin Rose bewohnt. Sie ist das kollektive Gedächtnis, die gute Seele der Gemeinschaft, die sich die Wertschätzung der Familien erworben hat und von allen anderen mitversorgt wird. Seit einigen Jahren wohnt dort auch Bran, aus dessen Perspektive erzählt wird.
In diesen ewigen Kreislauf des Elends bricht eines Tages etwas Unerwartetes ein: Rose und Bran begegnen in ihrem Haus Madelaine, einer „fille de faim“ – einem Hungermädchen, so der Name für verwaiste Kinder, die sich alleine durchschlagen müssen. Ihre Eltern sind, so die Vermutung, der letzten Hungersnot zum Opfer gefallen. Madelaine wird von Ambre, die sich so sehr ein Kind gewünscht hat, und Léon adoptiert. Geliebt und erzogen wird sie aber von allen Bewohnern des Weilers. Täglich streift sie mit Bran und ihren ‚Cousins‘ durch den Wald, der – wie sollte es anders sein – Eigentum des Königs ist. Im Unterschied zu ihrer neuen großen Familie möchte Madelaine die desolate Lebenssituation nicht einfach hinnehmen. Der anhaltende Hunger führt so zu einer Kurzschlusshandlung: Die im Umgang mit Waffen versierte Madelaine erblickt im Wald ein Reh und erlegt es mit einem gezielten Wurf ihrer scharfen Klinge. In den Gesichtern ihrer ‚Cousins‘ herrscht das blanke Entsetzen: Jagen ist auf Todesstrafe verboten! Was tun? Den Kadaver, der sie in den nächsten Monaten sättigen könnte, liegen lassen, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, was Folter und Tod bedeuten würde? Ihn mitnehmen und sich dem Risiko aussetzen, von den Schergen des Königs geschnappt zu werden, was unweigerlich zur Hinrichtung führen würde? Sie entscheiden sich schließlich dafür, das tote Tier mitzunehmen, um ihren Hunger zu stillen. Mithilfe von Eugènes Unterstützung gelingt es ihnen, unbehelligt nach Hause zurückzukehren und alle Spuren zu verwischen.
Allerdings ist das kulinarische Hoch nur ein kurzweiliges Vergnügen, schnell stellt sich der Hunger wieder ein, schlimmer denn je. Es wirkt, als ob irgendwas oder irgendjemand den Tribut für diesen schändlichen Regelverstoß fordern würde, für das Auflodern des Widerstands. Ist es die Natur, ist es das Schicksal, das sie herausgefordert haben? In der Folge fallen den schlechten Ernten und den harten Wintern gleich mehrere Bewohner auf unterschiedliche Weisen zum Opfer. Achselzucken, Hinnehmen, Begraben, so ist es eben. Die Einzige, die sich damit nicht abfinden will, ist Madelaine. Sie ist unbestritten das Zentrum des Romans, bei ihr laufen alle Fäden zusammen, von ihr geht alles Handeln vor und nach dem Sonnenaufgang aus. Sie ist es, die am Ende erneut aufbegehrt, die angesichts des Horrors blutige Rache nimmt. Deshalb muss sie fliehen, wird dabei von Eugène und seinen Söhnen unterstützt. Die Konsequenzen ihres Handelns müssen vor allem die Dorfbewohner auf schreckliche Weise ausbaden…
Dass alle dadurch verlieren, mit Madelaines Handeln also wirklich überhaupt nichts gewonnen ist, wird auf formaler Ebene durch die Erzählstruktur unterstrichen: Auf den Prolog folgen vier Kapitel, die den Jahreszyklus von Auf und Ab widerspiegeln. Madelaines Aufstand und dessen Konsequenzen versickern im unbarmherzigen Spiel der Naturkräfte, dessen Grundsatz allein darin bestehen zu scheint, dass der Tod bloß auf den nächsten Tag verschoben wird. Entkommen kann ihm jedoch niemand.
Dieses erschütternde Fazit bleibt einem im Kopf hängen, daran muss man immer und immer wieder denken. Es zählt neben den clever komponierten Erzählperspektiven zu den Stärken des Romans, die Leser damit zu konfrontieren, sie zur Positionierung zu zwingen. Collette appelliert an uns, diesen räumlich und zeitlich unbestimmten Entwurf nicht vollends zu unserer eigenen Wirklichkeit werden zu lassen, denn in ihrem Roman werden wir zweifellos in die Schattenseiten unserer eigenen Gesellschaft geführt. Madelaine avant l’aube ist alles in allem ein sehr gutes, wenngleich übertrieben pessimistisches Buch – beides bedingt sich gegenseitig. Dieser Pessimismus betrifft nicht allein die schier ausweglose Not der Menschen im Roman, sondern auch die Titelfigur selbst. Ihr Handeln erklärt resultiert nur vordergründig aus der Weigerung, die Verhältnisse hinzunehmen, aus ihrem Willen, für etwas mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Sehr viel eher folgt sie bloß ihren Launen und das ohne Rücksicht auf Verluste. Aus eigenem Hunger tötet sie das Reh, ohne zu verstehen, dass sie ihre ‚Cousins‘ damit gefährdet. Aus Egoismus hängt sie auf ihrer Flucht ihr ausgeweidetes Opfer, entgegen der Absprache mit Eugène, an einem Baum für alle Menschen sichtbar auf. Sie und nur sie ist für die daraus resultierende Gewaltspirale verantwortlich.
Sandrine Collette liefert uns einen sehr trübsinnigen Gesellschaftsentwurf, in dem ein von außen in die kleine Gemeinschaft kommendes Kind die Bande des Zusammenlebens zwar nicht aus Böswilligkeit, aber doch aus Eigennutz missachtet. Dieses Kind zeigt, dass alles so trostlos bleibt wie zuvor, es vielleicht noch schlimmer wird. Der Kreislauf des Schreckens kennt keinen Anfang und damit kein Ende. Das sitzt.
Sandrine Collette: Madelaine avant l’aube. Paris 2024: JC Lattès, 248S.
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