Zum Frühstück nach Médan

Valentine Del Moral schließt uns in ihrem Buch "Chez Zola!" die Türen zu Émile Zolas Anwesen auf

Veröffentlicht am
14.11.2022
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Weit außerhalb von Paris liegt Médan. Diesem Fleckchen auf der französischen Landkarte, weit entfernt von dem Trubel der Hauptstadt, ist seit dem späten 19. Jahrhundert eine große Aufmerksamkeit beschieden. Diese ist mit einem der berühmtesten und kontrovers diskutiertesten französischen Autoren verbunden: Émile Zola. Der kolossale Erfolg des skandalträchtigen L’Assommoir (1877), des siebten Romans des 20 bändigen Epochenfreskos Les Rougon-Macquart, erlaubte es ihm, das Anwesen zu erwerben. Allem voran als Sommerhaus genutzt, ist es jedoch mehr als nur das Signum seines (finanziellen) Erfolgs: Es ist der Ort, wo Zolas zahlreiche Besucher seine Devise ,Nulla dies sine linea‘ kennenlernen können, wo um den gedeckten, mit seinen Freunden und Adepten geteilten Esstisch Les Soirées de Médan (1880) entsteht und wo Zolas Liebesbeziehung zu der mehr als zwanzig Jahre jüngeren Hausangestellten Jeanne Rozerot ihren Anfang nimmt, kurz: wo sich Zolas Leben abspielt.

Anekdotenreiche Einblicke in das Leben des Autors und seiner Familie in Médan gibt Valentine Del Moral in ihrem durchaus lesenswerten, 2022 in zweiter Auflage erschienenen Buch Chez Zola!. Die Zielsetzung ihres knapp 200 Seiten starken, mit Familienbildern bestückten Rapports leitet sie dabei direkt aus den Worten von dem mit Zola befreundeten Henry Céard ab. Er erklärt: „Ce que tout le monde ignore, […] c’est le Zola chez lui, le Zola retiré des batailles théoriques, le Zola libre des conventionnelles entraves de la société, le Zola laissant volontiers vagabonder sa parole, rire sa fantaisie et s’épancher son cœur.“ (S. 120, et.: „Das, was niemand kennt, ist Zola, wie er bei sich zuhause ist, der Zola fern von den theoretischen Scharmützeln, der Zola, der frei von den konventionellen Fesseln der Gesellschaft ist, der Zola, der gerne seine Worte schweifen, seine Fantasie lachen lässt und sein Herz ausschüttet.“). Mit einem Gespür für die kleinen Details erzählt Del Moral die aufs Engste mit dem Haus in Médan verwobene Geschichte des Ehemanns, des Vaters und des konvivialen Gastgebers Émile Zola.

In einem einführenden Teil schlüsselt uns Del Moral Zolas Leben zunächst mittels der wechselnden Wohnstätten auf, wo er gemeinsam mit oder ohne seine Mutter gelebt hat. Dann erzählt die Autorin von dem „coup de foudre“ Zolas: Auf der Suche nach einem Sommerhaus hat er das Anwesen in Médan auf einer Spazierfahrt mit seinem Freund Paul Alexis entdeckt. Del Moral zeichnet in der Folge humorvoll das Porträt eines umtriebigen Hausbesitzers nach, der Jahr für Jahr mehr Land hinzukauft, um sich seinen Rückzugsort exakt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Zu den architektonischen Modifikationen, die nach und nach unter der Leitung von Babonneau unternommen werden, zählt unter anderem der Anbau der Türme Nana und Germinal – ein untrügliches Beispiel dafür, wie sich Privatleben und Beruf auf dem Landsitz Zolas durchdringen. Man kann mit Del Moral sogar so weit gehen, Médan selbst als ein Kunstwerk zu bezeichnen, das gekonnt konstruiert und inszeniert wird. Dies mag letztendlich dazu beigetragen haben, dass um das Haus selbst ein Mythos entstanden ist, wie der Zolaforscher Alain Pagès häufiger betont hat. Zu diesem Mythos gehört, wie Del Moral unter Rückgriff auf Céard anschaulich darlegt, ein dem Lesepublikum unbekannter Zola, der während seiner Sommeraufenthalte dank der angelegten Blumenbeete, der vielen Haustiere und der Fahrradtouren Glück und Ruhe findet – fern von feindseligen Literaturkritikern. Das wahre Glück erlebt Zola schließlich durch seine ,zweite Familie‘: Er verliebt sich in die weitaus jüngere Hausangestellte Jeanne Rozerot. Ihrer leidenschaftlichen Liebe entspringen zwei Kinder. Dies wird vorübergehend durch die düsteren Folgen des ,J’accuse‘-Engagements getrübt, die Zola dazu zwingen, nach England zu fliehen.

Wer einen Einblick in Zolas Leben in Médan bekommen möchte, der ist bei Del Moral sicherlich richtig. Als Leser erfährt man viel über den engagierten Schriftsteller, der sich nicht zuletzt in Médan von Dreyfus’ Unschuld überzeugen lässt. Ebenfalls lernt man einen technikbegeisterten Autoren kennen, der mit seinem Fotoapparat bewaffnet, stets auf der Suche nach einem guten Motiv ist – es verwundert nicht, dass der sich für den Impressionismus begeisternde Schriftsteller anlässlich der sonntäglichen Zusammenkünfte in Médan vor allem seine Familie vor die Linse bringt! Wer sich bereits eingehend mit Zola beschäftigt hat, der lernt außer einigen originellen Anekdoten, wie der, dass der Antikleriker Zola die Katechismusfragen für seine Tochter vor ihrer Erstkommunion beantwortet, jedoch nicht viel Neues, was er nicht schon von den Biographen und Literaturwissenschaftlern erfahren hat.

Valentine Del Moral: Chez Zola!, Paris: Éditions de Fallois 2015. Bisher ist leidernoch keine deutsche Übersetzung erschienen.

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