2024 war nicht nur, wie man in Deutschland glauben mochte, das Kafka-, Kant- und Klopstock-Jahr. Es war auch das Jahr des Surrealismus: 100 Jahre surrealistisches Manifest! André Bretons Programmschrift des Surrealismus machte 1924 Furore, wie andere Avantgarde-Bewegungen zuvor, Futurismus und Dadaismus, meldete sich die surrealistische Gruppe hier programmatisch, apodiktisch und laut zu Wort. Breton selbst positionierte sich als Chef der wirkmächtigen surrealistischen Bewegung, die Literatur, Künste und Wissenschaften umfasste, die bekannten Fotografien zeigen eine selbstbewusste Gruppe. In Frankreich wurde das 100-jährige Jubiläum mit Tagungen und großen Ausstellungen gefeiert; die im Pariser Centre Pompidou gezeigte Schau Surréalisme wandert im Herbst 2025 in die Hamburger Kunsthalle, dort wird der Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Romantik und Surrealismus liegen. Tatsächlich gibt es etliche Bezugspunkte zwischen den Programmen von Romantik und Surrealismus: Freiheit für Kunst und Leben, der antibürgerliche Gestus und die Lust an der Provokation, der Glaube an das Magische im Wirklichen. Und so wie die Romantik bis heute ein langes Nachleben hat, geschah es auch dem Surrealismus und den Avantgarden überhaupt.
Wolfgang Asholt hat viele Jahre lang Forschungen zu den Avantgarden durchgeführt, sein gewichtiges und gelehrtes, kürzlich erschienenes Buch führt nun auch die deutschsprachigen Leser und Leserinnen durch das „lange Leben“ der revolutionären Bewegungen, die in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts angetreten waren, Kunst und Leben zu verändern, ja, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Deshalb brachen sie mit vorangegangenen Strömungen autonomer, „reiner“ und realitätsferner Kunst oder erklärten ihr sogar, wie der Futurismus, den Krieg. Zum Anspruch, die Kunst ins Leben zu überführen, gehörte beispielsweise auch der provozierende Sprechakt, mit dem Marcel Duchamp 1917 ein Pissoir zum Kunstwerk erklärte. Später jedoch, vor allem seit den 1970er Jahren, wurde der Tod der Avantgarden konstatiert (Peter Bürger), wurden „Gespenster“ gesichtet, „Gräber“ aufgeworfen und „Mausoleen“ errichtet, obwohl kaum etwas so präsent ist wie die historischen Avantgarden – in den performativen Künsten der Gegenwart ebenso wie im Alltagsleben, im Design, in Mode und Weinkultur. Im Nachdenken über das ambivalente Verhältnis der Avantgarden zur Moderne und Hochmoderne eröffneten sich interessante Perspektiven auf die literarischen und künstlerischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, auf Konkurrenzbeziehungen und Abgrenzungsstrategien, die zu allen Zeiten in Literatur- und Kunstbetrieb zu beobachten sind und die manchmal, wie im Falle der Avantgarden, zu radikal neuen Programmen führten. Mindestens ebenso spannend und wichtig aber ist es, wie Asholt nachweist, den Blick nicht nur in die Vergangenheit zu richten, sondern auch auf das Nachleben der vielfältigen und dynamischen „Avantgarde-Landschaft“ (Ette), diese als „unvollendetes Projekt“ (Habermas) zu verstehen und ihr Verhältnis zu Postmoderne und postkolonialistischer Theorie zu untersuchen. Den diesbezüglichen Auftakt machte 1985 der Theoretiker der „condition postmoderne“, François Lyotard, der mit seinem gleichnamigen Buch und der Ausstellung Les Immatériaux im Centre Pompidou die Avantgarden als Vorläufer der Postmoderne postulierte. Eine These, die man zuletzt am eindrücklichsten in den „Flows“ (Arjun Appadurai) des gegenwärtigen Kunst-Aktivismus und seit 2022 in den Debatten um die Documenta 15 verfolgen und überprüfen konnte.
Wolfgang Asholt fächert in seiner Studie die Geschichte und Theorie der historischen Avantgarden bis heute auf. Dabei setzt er mit Selbstzeugnissen, Gründungsmythen und -akten des Futurismus, Dadaismus und Surrealismus ein (Manifeste als bevorzugte avantgardistische Textsorte, Rezitationen experimenteller Gedichte, Bruitismus, Provokationen, Happenings), benennt Unterschiede und unmittelbare Reaktionen (Fortsetzung des Bühnengeschehens auf der Straße im Futurismus, nicht aber im Dadaismus, wechselseitige Konkurrenzen zwischen Programmen und Aktionen) sowie neo-avantgardistische Nachfolgebewegungen (Lettrismus, Konkrete Poesie, Tel Quel, Situationismus) und beobachtet nachträgliche Konzepte und Kontextualisierungen, die den Gedanken des Widerstands und des politischen Auftrags von Kunst in den Mittelpunkt stellen. Hierzu rechnet er Pierre Bourdieus Utopie eines „radikalen Imaginären“ (auch Cornelius Castoriadis) und einer „Globalrevolution“ im Sinne einer „Versöhnung von politischer Avantgarde und Avantgardismus in Sachen Kunst und Lebenskunst“, die allerdings, wie in Die Regeln der Kunst ausgeführt, weiterhin an internen und systemischen Widersprüchen scheitere. Dazu gehört vor allem, dass bislang noch jede Avantgarde irgendwann institutionalisiert und musealisiert oder auch marktgängig wurde und das Label „Avantgarde“ sich als profitable Trademark entpuppte.
Das „lange Leben der Avantgarden“ fordert gleichwohl weiterhin auf, über die Beziehung von Kunst, Politik und Ökonomie nachzudenken. Insofern ist gerade die Documenta 15, der Asholt zu Recht besondere Aufmerksamkeit schenkt, aufschlussreich. Die auf die Kunst des sogenannten Globalen Südens ausgerichtete, internationale Kasseler Ausstellung zeigte 2022, dass Grundgedanken der Avantgarden nicht nur in Europa und im nordamerikanischen Raum reflektiert, sondern auch in anderen, vielfach kolonisierten Teilen der Welt bedacht und umgesetzt werden. Die indonesischen Kuratoren stellten das Konzept des Lumbung („Reisscheune“) ins Zentrum – Partizipation, Kollektivität, Allmende, gerechte Verteilung, Care, Transparenz u. a. –, das freilich aktuell Konjunktur im Literatur- und Kunstbetrieb hat und enormes symbolisches Kapital anhäuft. Erneut zeigen sich hier also Widersprüche, die seit 100 Jahren die Avantgarde-Bewegungen begleiten, der politisch-revolutionäre und antifaschistische Anspruch mündete gar in Antisemitismus. Die Avantgarden, so lässt sich folgern, sind nicht tot, sondern mit all ihren Widersprüchen äußerst lebendig. Um aber die energiegeladenen Aktionen der einzelnen „Ismen“ und die spannungsreichen Reaktionen eines ganzen Jahrhunderts nachzuvollziehen, muss man Wolfgang Asholts Buch lesen. Er kennt alles und hat eine allumfassende Studie geschrieben, die gewiss zum Klassiker der Avantgarde-Forschungen wird.
Wolfgang Asholt, Das lange Leben der Avantgarde. Eine Theorie-Geschichte. Göttingen, Wallstein Verlag, 2024, 474 S.
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