Die Pandemie hat auch einen wesentlichen Bestandteil des Forschungslebens mehr als ein Jahr lang verunmöglicht, nämlich die Teilnahme an (internationalen) Konferenzen und damit den Austausch zwischen Wissenschaftler:innen. Umso mehr haben wir uns darauf gefreut, das erste Oktoberwochenende 2021 in Paris zu verbringen und dort die Tagung „Écrire sa vie, raconter la société: L’autobiographie au risque de la sociologie“ zu besuchen – Wir erhofften uns neue Einblicke und Impulse rund um das Thema der soziologisch reflektierten Autofiktion, die wir beabsichtigten, in unsere Forschungs- und Lehrarbeit mit zurück nach Landau zu nehmen.
Um kurz vor 13.00 Uhr erreichte unser Zug schließlich Paris Est. Mit vollen Koffern und erwartungsfrohen Herzen suchten wir uns zu Fuß und mit der Métro den Weg ins Hotel. Den Nachmittag verbrachten wir in einem der zahlreichen Pariser Cafés und bereiteten uns auf die Konferenz vor, die thematisch der Verbindung zwischen Literatur und Soziologie gewidmet am folgenden Tag in der Bibliothèque nationale de France stattfinden sollte. Das beeindruckende Gebäude, das 1995 von François Mitterand eröffnet wurde, stellte unbestreitbar einen angemessenen Rahmen für die Tagung dar, die mit Annie Ernaux und Didier Éribon die führenden Figuren auf dem Gebiet der Autofiktion eingeladen hatte und deren Werke beeindruckende Herkunftsgeschichten erzählen. Daneben konnten mit der Soziologin und Bourdieuschülerin Gisèle Sapiro, der emeritierten Literaturprofessorin Nelly Wolf und dem französischen Dokumentarfilmer Régis Sauder Forscherinnen und Cinéasten begrüßt werden, die sich dezidiert aus ihren fachlichen Perspektiven mit der Liaison zwischen Literatur und Soziologie beschäftigen.
In ihrem Eröffnungsvortrag beleuchtete Gisèle Sapiro das autobiographische Schreiben der ,Transfuges de classe‘, das die Soziologie zur grundlegenden Bezugsdisziplin erhoben hat. Auf ihre einleitenden Bemerkungen zur Autobiographie in der Literaturgeschichte folgte die Auseinandersetzung mit den ,transfuges‘. Besondere Berücksichtigung fanden Annie Ernaux, Pierre Bourdieu, Richard Hoggart, Didier Éribon und Édouard Louis. Durch ihren Vortrag wurden wir auf das Werk Se ressaisir von Rosa-Marie Lagrave aufmerksam, eine autobiographische Untersuchung, die die emeritierte Soziologieprofessorin unlängst vorgelegt hat. Sie schloss ihre Ausführungen damit, dass die Disziplin der Soziologie diese Erzählungen legitimiere und das analytische Instrumentarium dafür biete, das eigene Leben, das nie bloß das eigene Leben, sondern das einer sozialen Gruppe, deren Mitglieder alle ähnliche Sozialpositionen einnehmen, zu erzählen.
In dem darauf folgenden Interview zwischen Nelly Wolf, die sich in ihrer Forschungsarbeit mit den Werken von Annie Ernaux beschäftigt hat, und Annie Ernaux wurde Letztere nach der Etikettierung ihres Schreibens, nach der offenkundigen Verschiebung ihrer Poetologie nach ihren ersten drei Werken und nach dem Zusammenhang von ,place‘ und ,classe‘ befragt. Besonders aufschlussreich war Ernaux’ Erklärung, am liebsten auf die selbst gewählte Bezeichnung der ,écriture plate‘ verzichten zu wollen und an die Stelle das Etikett der ,écriture factuelle‘ zu setzen, die gerade kein ,style‘, sondern eine ,posture‘ sei. Einen weiteren interessanten Einblick erlaubte die Thematisierung von ,place‘ und ,classe‘. Zur Verhandlung des Sozialen in ihrer Literatur – so muss wohl nicht daran erinnert werden, dass Ernaux ihre Literatur zwischen Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Soziologie verortet – habe sie nicht auf den Begriff der Klasse zurückgegriffen, weil dieser marxistisch besetzt gewesen sei und deshalb nicht geeignet sei, die habituellen Dimensionen des Lebens einzufangen. Folglich habe sie ,place‘ gewählt, um die Korrelationen zwischen einer bestimmten Position im sozialen Universum und dem Habitus eines Menschen anhand der Erzählungen über ihren Vater, über ihre Mutter und ihres eigenen sozialen Aufstiegs zu beleuchten, inklusive ihrer Schamerfahrungen. Wenn unbestreitbar Bourdieu eine immens wichtige Referenz für ihr Werk darstellt, wäre an dieser Stelle eine Vertiefung wünschenswert gewesen, denn Bourdieu selbst verzichtet nicht auf den Klassenbegriff. Sein Verdienst besteht unter anderem gerade darin, den marxschen Terminus nicht ausschließlich ökonomisch zu besetzen, sondern um die kulturellen, sozialen und symbolischen Dimensionen zu erweitern.
Der Dokumentarfilmer Régis Sauder etikettiert seine Arbeit als „autosociobiographie filmée“, die sich stark durch die Werke von Ernaux und Eribon inspiriert weiß. Nicht umsonst trägt sein Film den Titel Retour à Forbach: Dieser lässt unbestreitbar Eribons Retour à Reims (2009) anklingen, in dem der Soziologe ein doppeltes Ziel verfolgt: Er verknüpft seine persönliche Flucht aus einem homophoben und rassistischen Elternhaus an die Pariser Universitäten mit einer soziologischen Erklärung des Aufstiegs des FN. Auch Sauder verfolgt das Ziel, den Aufstieg des RN in einer abgehängten Region in Frankreich (Lothringen) zu porträtieren und die soziale Lage einiger seiner Freund:innen zu zeigen. In dem Zusammenhang ist das neoliberale Spiel mit der Prekarität, von dem insbesondere die Industriearbeiter betroffen sind, zu verstehen. Im cinéastischen Fokus von Sauder steht auch die Frage, wem man die Autorität zugesteht, über sein Leben selbst zu erzählen. Er verneint den literarischen Trend, nur als Sozialaufsteiger aus der der ersten Position Singular zu berichten. Sein Film ist ein nicht nur negatives Stimmenmosaik, das bewusst oder unbewusst Anleihen bei Bourdieus La misère du monde (1993) macht, zeigt es doch anhand seiner Jugendfreundin, die geblieben und Lehrerin geworden ist, dass Aufstieg auch in der Heimat möglich ist. Besonders interessant war an dieser Stelle die historische Dimension, die mit Forbach als Ort an der französisch-deutschen Grenze zur Sprache kam. Somit schaffte es der Film, sich von seiner literarischen Vorlage zu lösen und verschärfte vor dem Hintergrund der einstigen Besatzung durch die Nazis zur Zeit des Zweiten Weltkriegs die Frage danach, warum gerade dort nun rechts gewählt wird. Ist es einfach Geschichtsvergessenheit oder hat es andere Gründe? Der Film ließ diese Frage bewusst offen.
Dider Éribon berichtet schließlich von seiner Sozialstudie Retour à Reims, mit der er, nach eigenen Angaben, zur Geschichte der Arbeiterklasse beitragen wollte. Darin fragt er sich unter anderem, was es bedeute, sich als Sohn eines Arbeiters aufzufassen. Ausgangspunkt sei die Feststellung gewesen, dass die ,classes populaires‘ aus dem französischen Diskurs verschwunden seien. Dies sei das Produkt einer neokonservativistischen Hegemonie gewesen, die in Gestalt des ‚Macronisme‘ nach wie vor virulent sei. Daraus resultiere gewissermaßen als ,effet théorie‘ (Bourdieu), dass es ,wirklich‘ keine sozialen Klassen mehr gebe. Mit seiner autofiktionalen Studie Retour à Reims buchstabiert er die Folgen dieses fehlenden Diskurses aus, die sich in dem Aufstieg des FN widerspiegeln.
In dem abschließenden Gespräch zwischen Éribon, Sauder, Wolf, Ernaux und Sapiro wurden die einzelnen Erkenntnisse noch einmal gebündelt. Als Streitpunkt kristallisierte sich schließlich das Etikett der ‚Auto-sozio-biographie‘ heraus, unter besonderer Berücksichtigung der Frage, was die gegenwärtige Diskussion Philippe Lejeune zu verdanken hätte, der als erstes die Autobiographien als literarische Gattung rehabilitiert habe, wie es Ernaux auf den Punkt brachte. Éribon kritisierte in diesem Zusammenhang Literaturwissenschaftler:innen, die in eine huldigende Haltung gegenüber Lejeune fielen und gemäß dieser Matrix die Neuerungen beispielsweise bei Louis nicht wertschätzen könnten. Zudem warf er Rose-Marie Lagrave, die eine autobiographische und feministische Untersuchung ihres Lebens geschrieben hat, Homophobie und Unkenntnis der internationalen, von Frauen verfassten transfuge-Erfahrungen vor. Sapiro und Ernaux (vehement!) widersprachen. In der Tat lässt sich dieser Vorwurf nicht erhärten. Lagrave konzentriert sich bewusst – wie im Übrigen auch Eribon – auf den französischen Kulturraum. Außerdem argumentiert sie, dass Bourdieu, Éribon und Louis außen vorlassen, was es für ihren Bildungsaufstieg bedeute, in der patriarchalischen Gesellschaft ein Mann zu sein. Allenfalls, könnte man ihr erstens vorwerfen, durchdringt sie die Schwierigkeiten der jungen Homosexuellen nicht, in homophoben Arbeiterhaushalten aufzuwachsen und aus diesem Milieu zu fliehen. Éribon hat, so unser Eindruck, sich einmal mehr als Intellektueller inszeniert und damit nicht die beste Figur abgegeben, wenn er in einer fünfköpfigen Runde den anderen Teilnehmenden kaum Redeanteile einräumt.
Eine allgemeine Tendenz ließ sich ebenfalls beobachten. In den Gesprächen war Chantal Jacquet, die eine philosophisch-soziologische Studie zu den ,transclasses‘ vorgelegt hat, stets omnipräsent, allerdings grenzten sich Eribon und ebenfalls auch Annie Ernaux von diesem Begriff ab. Sie sprachen sich für den Begriff ‚transfuge de classe‘ aus, weil dieser im Unterschied zu ,transclasse‘ die politischen, verletzenden, gewaltvollen Dimensionen eines Klassenwechsels impliziere. Dass Jaquet diese jedoch ausführlich thematisiert, blieb leider unberücksichtigt.
Dankbar für die vielen Einblicke verließen wir das Tagungsgebäude, in der freudigen Hoffnung, wieder in Paris gegenwärtig zu sein, wenn eines Tages wieder über Autofiktionen diskutiert wird.
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
Mylène Farmer füllt an drei Abenden das Stade de France
Jean Tévélis im Gespräch über seinen Kinder- und Jugendroman 'Frère' (2021)