Trajectoires. Lebenswege in der Romanistik

Partie IV: Prof. Dr. Jochen Mecke im Interview

Veröffentlicht am
24.2.2025

Lars Henk

RPTU in Landau

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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„Die Sekundärliteratur kocht auch nur mit Wasser“

Ein Gespräch mit Jochen Mecke über Flohmärkte, den Strukturalismus als Mannheimer Gegenmodel zur Rezeptionsästhetik in Konstanz und den Spagat der zukünftigen Romanistik

Jochen Mecke war nach seinem Romanistikstudium sowie der Promotion in Mannheim und einer Station in Heidelberg seit 1996 Professor für spanische und französische Literaturwissenschaft in Regensburg. Das dortige Forschungszentrum „Centro de Etudios Hispánicos“ hat er gegründet und lange Jahre geleitet. Seit 2023 ist er emeritiert.

© Privat

Herr Mecke, vielen Dank dafür, dass Sie sich aus Nizza für unser Interview zuschalten. Was hat Sie dazu bewogen, Romanistik in Mannheim zu studieren?

Das hat eine kleine Vorgeschichte. Mit meiner Familie habe ich regelmäßig Urlaub in Frankreich gemacht, anfangs in einem Segelclub in der Nähe von Bordeaux. Die französische Sprache habe ich als unheimlich schön empfunden. Das war für mich reine Musik, gerade weil ich die Leute nicht verstanden habe, vor allem die französischen Kinder nicht, mit denen ich gespielt habe (lacht). Mit entsprechend hohen Erwartungen habe ich dann in der Schule Französisch als Fremdsprache gewählt. Das war Anfang der 1970er Jahre. Der Unterricht entsprach allerdings überhaupt nicht meinen Vorstellungen, weil wir gar kein Französisch gesprochen haben. Eigentlich haben wir nur Diktate geschrieben und Übersetzungen angefertigt. Literatur aus Frankreich haben wir zunächst natürlich überhaupt nicht behandelt.

Das klingt nicht wirklich motivierend…

Ganz und gar nicht. Mein Interesse und meine Motivation haben Jahr für Jahr abgenommen und meine Noten wurden ebenfalls immer schlechter (lacht). Was meine Einstellung wiederum verändert hat, war ein Flohmarktbesuch.

Ein Flohmarktbesuch? Das müssen Sie erklären.

Auf dem Flohmarkt habe ich zufällig ein französisches Buch entdeckt, es war La symphonie pastorale (1919) von André Gide. Das Exemplar habe ich heute noch. Jedes zweite Wort ist mit Bleistift angemerkt. Ich habe gelesen, die Begriffe nachgeschlagen und ihre Bedeutung notiert. Über die Lektüre habe ich einen neuen Zugang zur französischen Sprache bekommen.

War Gide schließlich der Grund dafür, dass Sie sich in Mannheim für Romanistik eingeschrieben haben?

Nein, denn die ursprünglich hohe Motivation für Französisch – Spanisch gab es damals nicht als Unterrichtsfach – war trotzdem weg. Das verdankt sich eher dem Zufall. Ursprünglich wollte ich Philosophie auf Magister studieren. Aber die Studienberatung hat mir erklärt, dass ich Philosophie nur in Kombination mit zwei anderen Hauptfächern studieren könne. Ich habe mich dann für Germanistik entschieden. Da ich schon an der Universität war, habe ich mir aus Interesse die verschiedenen Philologien angeschaut. Ich bin zuerst bei den Slawisten gelandet und habe dort nachgefragt, ob es die Möglichkeit gebe, während des Studiums in der Sowjetunion ein Auslandssemester zu absolvieren. Da ich nicht in der deutsch-russischen Freundschaftsgesellschaft war und nicht vorhatte, das zu ändern, wurde mir geantwortet, dass die Chancen wohl eher schlecht stünden. Also bin ich zur Anglistik weitergezogen. Allerdings standen dort Urnen, in denen man einen Zettel werfen konnte, die Seminarteilnehmer wurden dann per Los bestimmt. Danach kam ich bei den Romanisten vorbei. Der Professor, Peter Brockmeier, saß mit seinen Assistenten und seiner Sekretärin in seinem Büro. Die Tür war offen. Sie haben mich auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen eingeladen, ohne mich überhaupt zu kennen. Ich wurde einfach einbezogen in das Gespräch und nach einer halben Stunde fragte mich der Professor schließlich, was ich eigentlich wollte. Ich habe ihm dann gesagt, dass ich mit einer Frage gekommen sei, aber die sei bereits beantwortet. So bin ich als Student in der Romanistik gelandet. Ich denke, es ist nicht wichtig, aus welchen Anlässen wir Romanistik studiert haben, wichtig ist das, was nach unserer Entscheidung erfolgt.

Was hat die Romanistik in Mannheim ausgezeichnet? 

Neben Brockmeier unterrichtete Rolf Kloepfer in der Romanistik. Als Lehrer und Wissenschaftler war er faszinierend. In seinen Seminaren haben wir gelernt, was es bedeutet, literurwissenschaftlich zu arbeiten. Er hat sich bemüht, uns die Techniken der Textanalyse zu vermitteln. Mein Studium fiel in die Zeit der Rezeption des Strukturalismus, der Narratologie und der Semiotik in Deutschland. Kloepfer hat uns dazu motiviert, uns selbst mit den Texten auseinanderzusetzen, unsere eigenen Thesen auf der Basis unserer Intuitionen bei der Lektüre zu formulieren und diese argumentativ zu verteidigen. Er sagte immer, dass die Sekundärliteratur auch nur mit Wasser kocht (lacht). So haben wir von ihm außerdem gelernt, keinen ehrfürchtigen Respekt vor Wissenschaftlern zu haben, egal wie viel sie schon geschrieben hatten. Was mir an der Romanistik also besonders gefiel, war abgesehen von der Literatur, dass diese Art des Studiums im Grunde genommen „philosophischer“ war als mein Philosophie- und Wissenschaftstheoriestudium selbst, weil dieses oftmals vor allem aus Philosophiegeschichte bestand und die analytische Philosophie, in der man tatsächlich Thesen verteidigen und argumentieren konnte, in Wirklichkeit sehr dogmatisch war. In der Romanistik haben wir wirklich angefangen zu denken. Am Lehrstuhl Romanistik III ging es darum, Literaturwissenschaft auf eine gesicherte wissenschaftliche Basis zu stellen.

War die strukturalistische Romanistik in Mannheim also ein Kontrapunkt zu Konstanz, wo Jauß die Rezeptionsästhetik lehrte?

Natürlich. Mannheim war das Gegenmodell und eigentlich auch gegen den Szientismus Bielefelder Prägung. In Mannheim herrschte die Ambition, der Konstanzer und Bielefelder Konzeption etwas entgegenzusetzen. Die großen romanistischen Köpfe der damaligen Zeit wurden zu uns eingeladen, die niederländische Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal, der französische Strukturalist Tzvetan Todorov und natürlich Robert Jauß selbst. Die Vortragsgäste haben oft eine Vorlesung und immer ein Seminar gehalten. Abends wurde dann beim Lehrstuhlinhaber in Heidelberg gemeinsam gegessen und gefeiert.

Wie verlief der Besuch von Jauß?

Nach Jauß’ Vortrag, in dem er noch einmal seine altbekannten Thesen zur Geschichtsfeindlichkeit des Strukturalismus und aus Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1970) vorgestellt hatte, ist Kloepfer aufgestanden und hat erklärt: „Ich lese Ihnen jetzt mal die Thesen von Jacobson zum Verhältnis von Struktur und Geschichte vor“. Jauß, ich habe seine Worte noch im Ohr, hat dann erwidert: „Herr Kloepfer, Sie haben in mir in diesem Punkt einen sehr schwachen Gegner. Sie haben völlig Recht, und ich muss das zurückziehen, was ich gesagt habe.“ Was Jauß ausgezeichnet hat, unabhängig davon, was man nachher über ihn und seine Vergangenheit im Nationalsozialismus herausgefunden hat, ist, dass er mit Einwänden umgehen und als Forscher eingestehen konnte, dass er falsch lag, auch dann, wenn die Kritik von Studierenden formuliert wurde. Im Seminar ging es dann um seine Baudelaire-Deutung, die er dann später in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1977) vorgestellt hat. Auch hier konnte er mit Kritiken, selbst von studentischer Seite gut umgehen.

Ihre Doktorarbeit ist von der strukturalistischen und semiotisch ausgerichteten Literaturwissenschaft in Mannheim stark beeinflusst, oder?

Natürlich, aber wir hatten uns inzwischen auch mit dem Poststrukturalismus auseinandergesetzt und die Arbeit trägt sicherlich die Spuren von beidem. Was die Methodik angeht, so habe ich versucht, die narratologischen Instrumente der Zeituntersuchung im Nouveau Roman anzuwenden und weiterzuentwickeln. Ich habe die damals häufig anzutreffende Auffassung gegen den Strich gebürstet, dass die Zeit in diesen Romanen keine Rolle spiele. Diese Position haben zum Beispiel Autoren wie Robbe-Grillet und in der Folge einige strukturalistische Literaturwissenschaftler vertreten. Im Grunde fand ich, dass die Forschung zum Nouveau Roman häufig die Selbstaussagen der Schriftsteller allzu leichtgläubig reproduziert hat. Ich denke da an die diversen Kolloquien in Cérisy. Ich habe versucht, diese Auffassung zu korrigieren. In meiner Dissertation habe ich versucht zu zeigen, dass die Zeit so eine Art ‚Erhabenes‘ dieser Romane ist, dass sie die konventionellen Kategorien des Romans nachhaltig unterminiert und dass diese Romane sich durch Zeit schließlich selbst dekonstruieren. Michel Butor zum Beispiel treibt in L’emploi du temps (1956) den Versuch, Zeit mittels bestimmter Strukturprogramme zu beherrschen. Man sieht, dass der Versuch, die Zeit strukturell in den Griff zu bekommen, scheitert.

Indem Sie mit den Instrumenten des Strukturalismus zeigen, dass die Zeitlichkeit ein bedeutungstragendes Element des Textes ist, gelingt es Ihnen ebenfalls offenzulegen, dass Zeit- und Geschichtlichkeit gerade nicht in Opposition zum Strukturalismus stehen, nicht wahr?

Ich habe mir diese Frage nie gestellt, aber ich denke, dass ich dem zustimmen kann, es war ein Nebeneffekt meiner Untersuchungen. Ich denke, dass ich damals den Nouveau Roman und vielleicht auch den Strukturalismus von bestimmten Annahmen, die teilweise von den Autoren selbst stammten, befreien wollte. 

Sie haben auch nach Ihrer Promotion viel zur französischen Gegenwartsliteratur gearbeitet. Finden Sie sie spannender als die Klassiker?

Das ist vielleicht ein Eindruck, der entstehen könnte, der aber so sicherlich nicht richtig ist. Die französische Gegenwartsliteratur ist natürlich ein zentraler Schwerpunkt meiner Forschung, aber sie ist bei weitem nicht der einzige. Noch in der Mannheimer Studienzeit gerieten dann das âge classique, das Siglo de Oro, der Realismus und die frühe Moderne, und natürlich die lateinamerikanische und die spanische Literatur mehr und mehr in den Blick. Meine zweite Qualifikationsschrift ging dann über die Frühe Moderne in Spanien. Als ich Mitte der 1990er Jahre nach Regensburg gekommen bin, habe ich dann viel zur spanischen Literatur und Kultur gearbeitet. Ich habe ein „Centro de Etudios Hispánicos“, ein Forschungszentrum zur spanischen Kultur gegründet, das im Rahmen von Rufabwehrverhandlungen vom Ministerium mit einer zusätzlich eingeworbenen Professur, einer Geschäftsführerstelle und einem Sekretariat bewilligt wurde. Wir haben uns in diesem Rahmen vor allem mit kulturwissenschaftlichen Themen, u.a. zur Krise in Spanien, zum kulturellen Austausch zwischen Spanien und Deutschland und der spanischen Kultur und Literatur der Gegenwart beschäftigt. Außerdem haben wir zusammen mit Kollegen in meiner Zeit in Regensburg ein Graduiertenkolleg zu „Kulturen der Lüge“ aufgebaut.

Woran arbeiten Sie gegenwärtig?

Ich möchte eine Reihe von Projekten und Büchern abschließen, die abzuschließen ich bisher zu wenig Zeit hatte. Da ist zunächst ein Buch über die Nouvelle Vague, dann ein Buch über die Frühe Moderne in Spanien, die eine in Bezug auf die resteuropäische Moderne „transversale oder agonale Moderne“ darstellt, sicherlich der Grund dafür, dass sie in den einschlägigen Werken zur Moderne nur wenig Beachtung findet. Und schließlich arbeite ich an einem Buch über die Lüge in Kultur, Literatur und Geschichte.

Mit Blick auf die französische Gegenwartsliteratur haben wir den Eindruck, dass sich ein Ende des Bourdieu-Booms abzuzeichnen beginnt. Wie ist Ihre Einschätzung?

Also ich glaube, dass jede literarische Strömung irgendwann einmal das zum literarischen Feld beigetragen hat, was sie beitragen kann. Ob das allerdings auch schon für die Autosoziobiographien gilt, bleibt abzuwarten. Was ich feststellen kann, ist, dass sich inzwischen trotz des Nobelpreises für Annie Ernaux und der Erfolge der Autofiktion eine gewisse Sättigung eingestellt hat.

Wie bewerten Sie die Autosoziobiographien aus literaturwissenschaftlicher Perspektive?

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich der soziologisch inspirierten Autofiktion in ästhetischer Hinsicht nicht viel abgewinnen kann. Ich habe die Autosoziobiographien zwar gerne gelesen, aber diese Lebensberichte sind doch überwiegend sehr konventionell erzählt. Was sozusagen die literarische Experimentfreudigkeit angeht, halte ich diese Form der Literatur nicht für besonders innovativ.

In welche Richtung entwickelt sich die romanistische Forschung Ihrer Meinung nach derzeit? 

Das ist eine schwierige Frage. Das verlangt gewissermaßen prophetische Fähigkeiten (lacht). Ich gehe davon aus, dass die Romanistik den eingeschlagenen Weg fortsetzen wird. Der Regensburger Hispanistentag war damals der erste, in der alle Sektionen konsequent in der Fremdsprache stattfanden, wie auch hinterher die Publikationen. Und das ist inzwischen das Programm der Romanistik allgemein. Tagungen finden konsequent in der Fachsprache statt und werden auch in der jeweiligen Fremdsprache veröffentlicht, sei es nun auf Französisch, Spanisch, Italienisch oder Portugiesisch. Das ist unumgänglich, um die internationale Wahrnehmbarkeit der deutschen Romanistik und ihre Bedeutung zu erhöhen. Und das ist inzwischen gelungen. Damit erwächst der Romanistik jedoch eine zusätzliche Aufgabe. Denn sie muss ihre Vermittlungsfunktion der romanischen Kulturen und Literaturen anders und neu gerecht werden und ihre Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vermitteln, die sowohl die literaturwissenschaftlichen Fachtermini als auch die geisteswissenschaftlichen Theoriegrundlagen nicht kennt. Unsere Vorgängergenerationen beherrschten diese Vermittlungsfunktion perfekt. Auerbachs Mimesis-Buch (1946) ist, um ein konkretes Beispiel zu nennen, in einer absolut verständlichen Prosa geschrieben. Das lässt sich auch ohne Fachterminologie verstehen. Man muss kein Literaturwissenschaftler sein, um dem folgen zu können. Ich finde, dass meine Generation vor allem bemüht war, die wissenschaftliche Schiene unseres Faches zu stärken, unsere Ergebnisse intersubjektiv nachprüfbar zu machen. Wir haben, geprägt durch Strukturalismus, Semiotik und Dekonstruktion, versucht, der Komplexität unserer Gegenstände und den Anforderungen wissenschaftlicher Fachkombination gerecht zu werden und die Vermittlung von romanischen Kulturen und Literaturen für ein größeres Publikum vielleicht zu sehr vernachlässigt.

Haben Sie eine konkrete Idee, wie die Romanistik diesen Spagat hinbekommen kann, einerseits die Forschung den internationalen Standards anzupassen und andererseits die Ergebnisse einem breiten Publikum allgemeinverständlich zugänglich zu machen?

Das kann zum Beispiel heißen, dass man auf zwei Feldern spielt und konkret, dass man zu einem Thema zwei Publikationsformen anvisiert, oder zwei Aufsätze schreibt, eine für das internationale Fachpublikum in der Fremdsprache und eine in deutscher Sprache. Für ein größeres, literarisch und kulturell interessiertes Publikum.

Mit unserem Literaturportal wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Forschung aus dem Elfenbeinturm der Universität zu holen.

Ja, Ihr Literaturportal trägt ganz sicherlich zum Wissenstransfer bei. Von der DFG wird das ja inzwischen auch gefordert. Aber das ist natürlich zusätzliche Arbeit zum Kerngeschäft von Forschung und Lehre. Aber sie ist sinnvoll und wichtig.

Kann damit die Krise überwunden werden, in der die Romanistik überall in Deutschland steckt?

Was einen Aspekt der Krise angeht, so ist die auf der einen Seite wohl ein permanenter Wegbeleiter der Romanistik und dies hängt in meinen Augen mit einem häufig von der Romanistik selbst geteiltem falschen Selbstverständnis zusammen, die sich oftmals als „unmögliches Fach“ empfindet, weil sie nicht zwischen akademischen Fächern und wissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet. Ich habe damals, als wieder mal eine Krise des Fachs ausgerufen wurde, mit meinem Aufsatz mit dem Titel „Die Möglichkeit eines Fachs – ein Fach der Möglichkeiten“ versucht dagegenzuhalten. Was die gegenwärtige Krise betrifft, so denke ich, dass die sinkende Nachfrage unter den Studierenden nicht das Fach allein, sondern die Geisteswissenschaften insgesamt betrifft. Und auch die mangelnde Sichtbarkeit betrifft in meinen Augen nicht die Romanistik allein, sondern die Geisteswissenschaften insgesamt. Wissenstransfer würde hier vielleicht weiterhelfen.

Die Kehrseite der Medaille der Krise ist vielleicht, dass derzeit kaum unbefristete Stellen in der Romanistik ausgeschrieben werden.

Unbestritten haben wir einen starken Rückgang in den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch der betrifft nicht allein die Romanistik. Diese Konjunktur kann sich aber jederzeit wieder ändern und möglicherweise hat sie sich dann schon geändert, wenn die Leute, die jetzt im Studium, in der Promotion oder in der Habilitation sind, fertig sind. Das kann niemand vorhersagen.

Ein Anliegen der „Ich bin Hanna“-Initiative ist es, das System als solches zu reformieren.  

Das verfolge ich mit großem Interesse. Ich halte insbesondere die von der Gruppe um „Ich bin Hanna“ angestellten Berechnungen für bedenkenswert, dass mehr Mittelbaustellen das System finanziell nicht mehr belasten würden. Ich selbst finde, dass wir darauf verzichten könnten, die Qualifikationsphase nach der Promotion um sechs weitere Jahre künstlich zu verlängern, in der die Nachwuchswissenschaftler nochmals nachweisen sollen, was sie bereits nachgewiesen haben. Das führt unnötigerweise dazu, die Entscheidung ob jemand eine feste und unbefristete Stelle erhält, erst dann zu fällen, wenn die Kandidaten zum Teil weit über vierzig sind. Neulich habe ich mir für Arbeiten zu einer Stellungnahme für den Romanistenverband die Statistiken noch einmal angesehen. Das durchschnittliche Erstberufungsalter lag in meiner Generation etwa in der Politikwissenschaft bei 47 Jahren (1995), 2017 sind die Geisteswissenschaften bei ca. 41 Jahren, die Romanistik bei 42 Jahren angelangt. Da ist es für berufliche Alternativen bereits häufig zu spät. Nachwuchswissenschaftler haben doch bereits mit ihrer Doktorarbeit nachgewiesen, dass sie in der Lage sind, eigenständig ein wissenschaftliches Projekt durchzuführen und in Buchform zum Abschluss zu bringen.

Sehen Sie mögliche Alternativen?

Das traditionelle französische Modell könnte eine Diskussionsgrundlage für eine Reformierung sein. Dort gibt es die unbefristeten Maître de conférence-Stellen. Als Maître de conférence kann man Arbeiten betreuen, eigenständig forschen und lehren und dann immer noch selbst entscheiden, ob man eine „habilitation à diriger des recherches (HDR)“ anstrebt und sich dadurch für Professur weiterqualifizieren möchte oder nicht.

Haben Sie abschließend noch einen Tipp für den wissenschaftlichen Nachwuchs?

Wenn ich zurückblicke, dann muss ich gestehen, dass ich kaum strategisch vorgegangen bin. Das ist sicherlich naiv gewesen. Ich habe in meiner Forschung das gemacht, was mich wirklich interessiert hat. Mit Bourdieu gesprochen habe ich die Gesetzmäßigkeiten, nach denen das Spiel im wissenschaftlichen Feld gespielt wird, nicht durchschaut oder ignoriert, Bourdieus Tatbestand der „Illusio“ galt somit sicherlich für mich, und ich glaube, dass ich da nicht der einzige in meiner Generation war. Es hätte auch anders laufen können. Und für viele ist es auch anders gelaufen. In meiner Generation haben auch exzellente Leute keinen Ruf bekommen. Das ist eine Form der Kontingenzerfahrung, auf die das deutsche Universitätssystem gut und gerne verzichten kann. Sie verringert auch die Planbarkeit und Strategien. Im System zurecht zu kommen hat mehr mit der göttlichen Gnade im Jansenismus zu tun als mit einer planbaren wissenschaftlichen Laufbahn. Aber inzwischen haben sich die Zeiten geändert und die DFG hat einige Instrumente geschaffen, die es damals in dieser Form nicht gab: Nachwuchsgruppen, Nachwuchsprogramme oder Netzwerkprogramme, Beantragung einer eigenen Stelle im Rahmen eines DFG-Projekts, um nur einige zu nennen. Ich habe den Eindruck, dass diese Maßnahmen ein wenig mehr Planbarkeit bieten als dass dies damals der Fall war und dass meine Generation mehr den eigenen Interessen gefolgt ist als strategischen Überlegungen. Aber sicherlich ist beides nötig.

Also würden Sie empfehlen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Befolgung der eigenen Interessen und strategischen Überlegungen?

Die Erfahrung zeigt, dass man einfach motivierter und besser ist, wenn man ein Thema bearbeitet, für das man brennt. Die strategischen Überlegungen müssen dann aber in die zweite Qualifikationsphase miteinbezogen werden.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Mecke.

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