Die Königin in ihrem Exil

Auf den Spuren der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux in Cergy

Veröffentlicht am
21.11.2023

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Der Dokumentarfilm Les mots comme des pierres, Annie Ernaux écrivain (2013) von Michelle Porte besteht zum größten Teil aus einem langen Interview mit der französischen Schriftstellerin, das ein Jahr später unter dem Titel Le vrai lieu als Buch erschienen ist. Doch ganz am Anfang, nahezu beiläufig, fängt die Kamera ein paar Bilder des Hauses ein, in dem Annie Ernaux seit 1977 lebt, und in dem sie bis auf ihr literarisches Debüt Les armoires vides (1974) und den Folgeroman Ceux qu’ils disent ou rien (1977) sämtliche ihrer Werke geschrieben hat. Es ist ein bürgerliches Haus, eine freistehende Villa mit rundem Erker, wohl Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, das Erdgeschoss weiß gestrichen, die erste Etage im rötlichen Backsteinkleid, auf dem Dach, einige Meter voneinander entfernt, zwei charakteristische Schornsteine. Auch den Blick vom Erker über das Tal fängt die Kamera ein. Man sieht im Tal den Flusslauf der Oise, dahinter einen idyllisch anmutenden See, viel Grün und im Hintergrund, kaum erkennbar, die Bürotürme von La Défense. Ernaux erzählt, wie sie das Haus in den 1970er Jahren mit ihrem Mann Philippe und ihren zwei Söhnen bezogen hat. Dass der See erst kurz nach ihrem Einzug angelegt worden sei – „Plötzlich war das Wasser da!“ – und dass sie nach ihrer Scheidung Anfang der 1980er Jahre einfach dageblieben sei, weil sie sich nicht vorstellen konnte, woanders zu leben. Heute lebt Ernaux dort allein mit allerhand Katzen und Spinnen, schreibt jeden Tag und freut sich, wenn sie in Ruhe gelassen wird, was wohl nach dem Nobelpreis nicht mehr ganz so leicht möglich sein dürfte. Sie wollte, wie sie oft wiederholt, niemals in Paris leben, fühlte sich dort als Tochter einfacher Krämersleute nie ganz zugehörig. Es ist daher ein stimmiges Bild, dass sie in einem beinahe ländlichen, jedoch wohlhabenden Ambiente wohnt, aber bei schönem Wetter immerhin die Silhouette der Metropole erblicken kann.

Mit dem Regionalzug der Linie A fährt man rund 40 Minuten bis nach Cergy. Die Haltestelle Cergy Préfecture liegt mitten im Zentrum der modernen Innenstadt, die in den 1970er Jahren erbaut wurde – Ernaux redet in ihren Tagebüchern meist von "La Ville Nouvelle". Der erste Eindruck bestätigt das Klischee einer typischen Pariser Banlieue: viel Beton, viel Lärm, große Gebäudekomplexe, die ihre besten Tage längst hinter sich haben. Bei einem dieser Arrangements aus Glas und Beton, gleich hinter der RER-Station, handelt es sich um das leicht überdimensionierte Einkaufszentrum Les 3 fontaines. Es ist jene Shopping Mall, über die sie im Jahr 2016 ein ganzes Buch geschrieben hat: Regarde les lumières mon amour. Hierbei handelt es sich um tagebuchartige Aufzeichnungen, in denen Ernaux ihre Beobachtungen während ihrer regelmäßigen Einkäufe im Hypermarché Auchon festgehalten hat, der sich im Herzen des Zentrums befindet. Darin schreibt sie gleich zu Beginn: „Tous ceux qui n’ont jamais mis les pieds dans un hypermarché ne connaissent pas la réalité sociale de la France d’aujourd’hui“ („All diejenigen, die noch nie einen Fuß in einen Hypermarché gesetzt haben, haben keine Ahnung von der sozialen Realität des heutigen Frankreichs“). Ernaux beobachtet etwa, dass im Laufe der Jahre zwar die Klientel insgesamt diverser geworden sei – besonders ethnisch –, aber dass man seit einiger Zeit keine Obdachlosen mehr sieht. Dann fällt ihr auf, dass tagsüber ganz andere Kunden in den endlosen Gängen unterwegs sind als abends: tagsüber eher Hausfrauen und Mütter mit Kindern, Dienstmädchen oder ältere Frauen mit Trolley, abends eher jüngere Leute, Studierende und Arbeitnehmende in Anzug oder Kostüm. Dies kommentiert sie lakonisch mit: „Il y a des gens, qui ne se croiseront jamais“ („Es gibt Leute, ganze Bevölkerungsgruppen, die sich niemals begegnen werden“). In diesem Sinne ist die Zeit des Einkaufs letzten Endes auch eine Frage von Lebensstil und Klassenhabitus – ähnliche Beobachtungen stellt Ernaux beim Blick auf die gekauften Waren auf dem Kassenband an: „Exposant, comme nulle part autant, notre façon de vivre et notre compte de banque. Nos habitudes alimentaires, nos intérêts les plus intimes. Même notre structure familiale. Les marchandises qu’on pose sur le tapis disent si l’on vit seul, en couple, avec bébé, jeunes enfants, animaux“ („Wie nirgends sonst legen wir unsere Lebensweise und unser Bankkonto offen. Unsere Essgewohnheiten, unsere intimsten Vorlieben. Sogar unsere Familienstruktur. Die Waren, die wir aufs Kassenband legen, verraten, ob wir alleine leben oder als Paar, mit Baby oder Kleinkindern oder Haustieren“). Wer hat nicht schon beim Warten an der Kasse heimliche Blicke auf die Artikel des Vorgängers geworfen? Ernaux macht daraus eine an Bourdieus Distinktionslogik geschulte Alltagsethnologie – mal aphoristisch, mal anklagend, mal amüsiert. So freut sie sich etwa, als sie ein Kind im Espace Librairie dabei beobachtet, wie es unter einem Schild, auf dem die Kunden darum gebeten werden, Bücher und Zeitschriften nicht im Laden zu lesen, mit weit geöffneten Augen einen Comic liest.

Wenn man diesen Auchon und sein schier endloses Labyrinth aus Warenregalen und Sonderpreis-Stapeln durchquert, wartet man als Ernaux-Leser natürlich hinter jeder Abzweigung darauf, dass einem die Schriftstellerin dort persönlich begegnet. Wie sie nicht nur ihren Einkaufszettel abarbeitet, sondern heimlich die Menschen bei ihren alltäglichen Erledigungen studiert. Nun, es passiert nicht, aber immerhin liegen im eher überschaubaren Espace Librairie gleich zwei Werke der wohl berühmtesten Einwohnerin von Cergy zum Kauf bereit. Ein schwacher Trost.

Wenn man das Centre Commercial verlässt, um von dort aus zu jenem Stausee zu gelangen, den Annie Ernaux tagtäglich von ihrem Wohnzimmer aus überblicken kann, wird man abwechselnd mit den verschiedenen Gesichtern der Kleinstadt mit rund 67.000 Einwohnern konfrontiert. Zunächst bleibt alles grau in grau – trotz Sonnenschein und blauem Himmel wirken die Hochhäuser und die breiten, autobahnähnlichen Straßenschluchten nur wenig einladend. Eine Großbaustelle mit entsprechendem Lärm macht es nicht besser. Allerdings steht auf einem riesigen Plakat, dass hier ein neues Studentenwohnheim gebaut werde. Nur wenig entfernt eine weitere Baustelle, wo ebenfalls ein neues Uni-Gebäude entsteht. Die Université CEY Cergy Paris scheint enorm zu expandieren. Immerhin 26.000 Studierende sind dort eingeschrieben an der 2020 neu gegründeten Uni, die – wie die meisten Unis in der Banlieue – stets im Schatten der renommierten Innenstadt-Hochschulen stehen. Kurze Zeit später der erste Bruch: Ein Straßenschild kündigt den Stadtteil Cergy Village an, und tatsächlich erinnert die Bebauung mit ihren überwiegend gut gepflegten Reihenhäusern eher an ein Dorf als an den Brutalismus der 1970er Jahre. Dieser Teil der Stadt geht nahtlos in das Viertel Cergy Port über, wo man sich plötzlich in einem bretonischen Küstenort wähnt. Die meisten der überraschend pittoresken Häuser sind am Rande der Oise gebaut, darunter zahlreiche kleine Restaurants und Cafés, wo die Menschen aufgrund des sonnigen Wetters auf den Terrassen sitzen und zu Mittag essen – die Lieblingsbeschäftigung der Franzosen.

Eine Brücke führt sodann in das Naherholungsgebiet von Cergy, zu dem auch der Stausee gehört. Im Zuge des Umbaus der Stadt in den 1970er Jahren wurde dieses riesige Areal buchstäblich aus dem Boden gestampft, mitsamt seinen Wiesen, Wäldern und Wassersportmöglichkeiten. Einmal am See angekommen ist der Lärm der Innenstadt endgültig vergessen. Jetzt heißt es, die Lage zu sondieren. Wenn man sich die Aussicht von Ernaux’ Wohnhaus in Erinnerung ruft, kann der Weg nur nach rechts am Ufer entlangführen. Nur wenige Jogger und Fußgängerinnen begegnen einem auf diesem Spazierweg – das mag jedoch am Wochentag liegen. An einem Punkt der Strecke verläuft der Weg wie auf einem Damm genau zwischen dem Ufer des Sees und der Oise, von wo aus man einen guten Blick auf den Hang hat und die vereinzelten, von Bäumen umgebenen Häuser oberhalb des Flusses. Man muss nicht lange suchen, bis man die Villa mit Erker und den beiden Schornsteinen entdeckt. Da wohnt sie also, die zurückgezogene Schriftstellerin in ihrem selbst gewählten Exil. Um dort hinzugelangen, geht es noch einige hundert Meter am Flussufer entlang, bis man schon von weitem eine knallrote Brücke erkennen kann, die zurück nach Cergy führt. Dieses beeindruckende Bauwerk ist Teil eines architektonischen Ensembles, das François Mitterand im Jahr 1990 eingeweiht hat. Vom anderen Ende der Brücke führt eine opulente Esplanade zum Gipfel des Hangs, von wo aus ein stelenartiges Monument (Les 12 Colonnes) das Flusstal überwacht. Wer den Dokumentarfilm J’ai aimé vivre là (2020) von Régis Sauder gesehen hat, in dem es um das Leben in Cergy geht, wird sich an dieses Areal erinnern. Der Film zeigt diesen Ort als kosmopolitischen Treffpunkt von jungen Leuten, die über ihre Erfahrungen in Cergy sprechen und über ihre Zukunft nach Cergy. Auch Annie Ernaux taucht im Film auf und liest Auszüge aus ihren eigenen Texten. Diese Textausschnitte bilden Sauder zufolge so etwas wie die dramaturgische ‚Wirbelsäule‘ seines Films, der insofern bemerkenswert und absolut zu empfehlen ist, als er ein hoffnungsvolles Bild jenseits aller negativen Banlieue-Klischees vermittelt.

Von der Esplanade des 12 Colonnes führt zur rechten Seite eine Straße in den Teil von Cergy, wo Annie Ernaux seit beinahe 50 Jahren lebt. Auch der Schauspielstar Gérard Philippe hat sechs Jahre seines Lebens dort verbracht, bis er 1959 an Leberkrebs verstarb. In seinem Haus befindet sich heute ein Museum, dass Luftlinie nur wenige hundert Meter von der Villa mit den zwei Schornsteinen entfernt liegt. Man muss länger suchen, bis man sie schließlich findet, verborgen hinter hohen Bäumen vor den Augen allzu neugieriger Spaziergänger. Auf dem leicht verrosteten Briefkasten neben der Eingangspforte steht handschriftlich der Name ERNAUX geschrieben, darunter die Bitte, keine Werbung einzuwerfen. Dieses an Banalität und Normalität kaum zu überbietende Verbindungstor zum Rest der Welt steht in gewisser Weise sinnbildlich für das unprätentiöse Auftreten seiner Besitzerin – wie auch der Rest ihres geliebten Wohnorts, der in jedem Fall einen Ausflug lohnt.

Weitere interessante Essais:

"Glotzt nicht so romantisch!"

Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.

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