In den vergangenen zehn Jahren wird der Begriff ‚Autofiktion‘ immer wieder herangezogen, um Romane wie die von Annie Ernaux – der Meisterin der Autofiktion – oder Édouard Louis zu beschreiben. Mitnichten ist er dabei auf die französische Literatur beschränkt, autofiktionale Werke feiern weltweit große Erfolge. Man denke an den Knausgård-Hype vor wenigen Jahren oder an die aktuell beliebten Bücher von Autorinnen wie Rachel Cusk, Olivia Wenzel (1000 Serpetinen Angst, 2020) oder die unlängst neu übersetzte Kopenhagen-Trilogie der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen. Ja, man kann guten Gewissens sagen: Autofiktionen sind en vogue. Warum? Und warum gerade jetzt?
Dazu lohnt sich zunächst einmal ein genauer Blick auf die Gattungsbezeichnung ‚Autofiktion’. Der Begriff scheint auf den ersten Blick selbsterklärend, bei näherer Betrachtung stößt man allerdings schnell an eine Grenze, wo die Formel Autobiografie + Fiktion = Autofiktion sich nicht einfach auflösen lässt. Denn niemand käme auf die Idee, die Bücher von Michel Houellebecq, Herta Müller oder Virginie Despentes als Autofiktionen zu bezeichnen, obwohl in ihnen selbstverständlich autobiografische Erlebnisse mittels der Fiktion erzählt werden. Houellebecq treibt das Spiel sogar so weit, dass man mittlerweile kaum noch zwischen Autor und seinen Romanfiguren unterscheiden kann. Man mag dem entgegenhalten, dass sich die Figuren der erwähnten Autoren und Autorinnen in den Romanen allein schon durch ihre Namen von den Realpersonen unterscheiden. Und auch, wenn Houellebecq in La Carte et et le territoire (2010) (dt.: Karte und Gebiet (2011)) sehr wohl eine Art Cameo-Auftritt hat, wenn die Figur namens Michel Houellebecq schließlich ermordet wird, ist die Figur Houellebecq lediglich eine Nebenfigur, erzählt wird die Geschichte aus Sicht des fiktiven Künstlers Jed Martin. Der sogenannte ‚autobiografische Pakt‘ ist gebrochen.
Der Terminus ‚autobiografischer Pakt‘ wurde bereits in den 1970ern vom französischen Literaturkritiker Philippe Lejeune geprägt und setzt die Einheit von Autor, Erzählung und Protagonist voraus, kurz: Wo Houellebecq drauf steht, muss nicht nur Houellebecq drin sein, er muss auch derjenige sein, der die Hauptrolle spielt, das Ich im Text, das erzählt. So die Voraussetzung für diesen ‚Pakt‘. So einfach ist es allerdings nicht. Denn schaut man sich oben erwähnte Autofiktionen an, ist der Fall nicht immer so klar: Olivia Wenzels Protagonistin ist namenlos, Annie Ernaux verzichtet in Les Années (2008) (dt.: Die Jahre (2017)) komplett auf ein Ich.
Ebenso wenig trägt die vom Verlag beigefügte Notate Roman auf dem Umschlag. Édouard Louis’ Roman En Finir avec Eddy Bellegueule (2014) (dt.: Das Endy von Eddy (2015)) wurde beispielsweise bislang in allen Rezensionen als Autofiktion besprochen. Die Grenzen bleiben fließend. Kann demnach alles irgendwie als Autofiktion eingeordnet werden? Erklärt sich so der Hype: Er ist einfach offen genug, um alles fassen zu können?
Zumindest führt diese Offenheit oftmals zu Irritationen. Bei der Diskussion von Wenzels 1000 Serpetinen Angst im SRF Literaturclub schickt Philipp Tingler seiner Kritik voraus: „Dieses Buch wird als Roman etikettiert und ich möchte gerne eine wichtige Prämisse der Literaturkritik rekapitulieren, nämlich die Fiktionalität der Charaktere in einem Roman ist sakrosant, egal wie ähnlich sie ihren Verwandten in der Wirklichkeit auch sehen mögen. Das heißt, ich behandle dieses Buch als Roman.“ Damit würde sich die Frage nach der ‚Gattung‘ Autofiktion komplett erübrigen – wenn denn nur das Wörtchen Roman auf dem Buchdeckel steht, ist eben alles Fiktion und das Problem ist gelöst. Wenige Minuten später fragt Tingler allerdings beinahe verzweifelt: „Entsteht ein Roman denn einfach schon dadurch, dass ein Verlag auf den Umschlag das Wort Roman setzt?“
Auch wenn er es nicht direkt ausspricht, so hört man deutlich diese Frage heraus: Wo fängt Fiktion an und wo hört die Autobiografie auf? In Tinglers Kritik schwingt deutlich mit, dass er der Autorin vorwirft, sich nicht weit genug von der eigenen Biografie lösen zu können. Und deswegen das Buch „als Roman“ scheitert. Wenn man sich auf solch spitzfindige Marker stützt, wie die einfache Betitelung auf dem Buchumschlag als Roman, verengt man allerdings den Blick auf die Literatur, legt an Wenzels autofiktionalen Text unfaire Kriterien an.
Man muss also tiefer einsteigen, um der Gattungsbezeichnung ‚Autofiktion’ auf die Spur zu kommen. Erstmalig wurde diese vom französischen Literaturkritiker und Autoren Serge Doubrovsky erwähnt – interessanterweise nicht in einem literaturkritischen Kontext, sondern auf dem Klappentext seines Romans Fils (1977):
„Autobiographie? Non, c’est un privilège résérvé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictements réels; si l’on veut, autofiction, d’avoir confié le langage d’une aventure à l’aventure d’un langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau. Rencontres, fils des mots, allitérations, assonances, dissonances, écriture d’avant ou d’après littérature, concrète, comme on dit musique.“
„Autobiographie? Nein, dieses Privileg ist den Wichtigen dieser Welt vorbehalten, am Ende ihres Lebens, in fein ausgearbeitetem Stil. Fiktion, von Ereignissen und streng realen Fakten; Autofiktion, wenn man so will, um die Sprache eines Abenteuers, dem Abenteuer der Sprache anzuvertrauen, ohne die Weisheit und die Syntax des Romans, mag er traditionell oder neu sein. Begegnungen, aneinandergereihte Worte, Alliterationen, Assonanzen, Dissonanzen, das Schreiben vor oder nach der Literatur, konkret, wie man sagt, Musik.“
Es geht also um die Verdichtung der eigenen Literatur mithilfe literarischer Mittel. Die Betonung der Sprache deutet an, dass Autofiktionen näher dran sind am Leben, realer, direkter, weniger konstruiert als ein Roman, dafür aber experimenteller im Stil. Autobiografie? Nein, denn die ist den Etablierten, Berühmten und Mächtigen vorbehalten, den Gewinnern der Geschichte. Gegen die, so Doubrovsky, schreibt man an. Oder wie Édouard Louis es kürzlich in einem Interview mit dem französischen Pop-Magazin LesInrocks formulierte:
„Autobiographie – c’est l’anarchisme de la littérature.“
„Autobiografie – das ist literarischer Anarchismus.“
Louis’ eigene Bücher sind dafür das beste Beispiel, sie reichen von klassischem Coming-of-Age in En Finir avec Eddy Bellegueule (dt.: Das Ende von Eddy) über Pamphlet in Qui a tué mon père (2018) (dt.: Wer hat meinen Vater umgebracht (2019)) bis zum kürzlich teilweise als Brief an die Mutter zu lesendem Combats et Métamorphoses d’une femme (2021) (dt.: Die Freiheit einer Frau). Was Louis mit Anarchismus meint, weist auch auf einen politischen Impetus, der mit der Aufarbeitung der eigenen Biografie verbunden ist. Ganz im Sinne von „Das Private ist politisch“ wird die eigene Identität in den Fokus gerückt und ein Bedürfnis der Leserinnen bedient, das über reinen Voyeurismus hinausgeht: Zu wissen, wer spricht. Wer erzählt mir eigentlich diese Geschichte? Was für Motive hat dieses Ich? Warum soll ich mich für diese Geschichte interessieren? Und wo verortet sich dieses Ich innerhalb unserer Gesellschaft? Das Stichwort ist: Authentizität. Das Interesse an diesen Fragen spiegelt insbesondere aktuelle Diskurse über Identität, Herkunft und politisch-soziale Standpunkte in Stil und Form. So fällt auf, dass Texte, die als Autofiktionen benannt werden, eigentlich nahezu immer aktuelle sozio-politische Diskurse aufgreifen: Die Rassismuserfahrungen einer Schwarzen Heranwachsenden in Ostdeutschland bei Wenzel, wie es ist, als Arbeiterinnenkind in die höheren gebildeten Schichten aufzusteigen bei Louis, Ernaux und Ditlevsen. Selbst Knausgårds Monumentalwerk Min kamp kann als Innenschau eines von fragiler Männlichkeit geprägten Ichs gelesen werden. Dies wird in den allermeisten Fällen durch die Ausstellung des eigenen Schreib- und Denkprozess verhandelt. Wir erfahren, wie, wann und wo geschrieben wird, welche Quellen sie benutzen, wie sie ihren Alltag verbringen.
Damit steht das Genre Autofiktion nah am Essay, dem Versuch ein Thema zu sichten, in einen Diskurs einzusteigen und zu durchdenken – mithilfe der eigenen Erfahrung als Wissenspool. Die Literaturwissenschaftlerinnen Jutta Weiser und Christine Ott plädieren in der Einleitung des Sammelbands Autofiktion und Medienrealität – Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts (2013) ohnehin dafür, den Begriff Autofiktion eher als Diskursmodell zu begreifen denn als literarisches Genre. Das heißt, an den Texten lassen sich keine genauen Gattungsmerkmale festmachen, es gibt keinen einheitlichen Stil, sondern diese Texte konzipieren das Verhältnis von (schreibendem) Subjekt, Text und Medialität per se neu.
Medialität ist wichtig an dieser Stelle, denn wenn Barthes Ende der 1960er vom Tod des Autors schrieb, kann man heute sagen: Der Autor steht Mitten im Leben – buchstäblich. Natürlich spielen auch Fragen nach der Inszenierung von Autoren und Werk eine Rolle. Interessant ist beispielsweise, dass die deutsche Erstübersetzung von Ditlevsens Teil 3 der Kopenhagen-Trilogie unter dem Titel Sucht in den 1980er Jahren nicht das Framing als Autofiktion erfuhr. Autofiktionen – und das muss man erwähnen – werden natürlich auch als solche vermarktet, weil sie einen Trend bedienen. Die Inszenierungsfaktoren sind allerdings nichts Neues, erklären demnach noch keinen Trend.
Viel wichtiger ist hier wiederum die mediale Präsenz von Autoren und Autorinnen in den aktuellen Debatten. Denn das Bedürfnis zu wissen, wer sich hinter einer Geschichte verbirgt, reicht weit über die Literatur hinaus. Sie zeigt sich in den zahllosen Talk Show Auftritten, auf Instagram oder Twitter, in zahlreichen Interviews – alles Orte, wo Louis & Co. den sozio-politische Diskurs über ihr literarisches Werk hinaus mitprägen. Dabei muss man immer bedenken, dass insbesondere die Social Media-Tools auch zu einem neuen Bedürfnis der Ich-Darstellung beitragen. Wir sind längst im Post-Selfiestick-Zeitalter angekommen, die Neue Medien sind nicht mehr nur reine Plattformen für Urlaubsfotos und #foodporn, sondern haben sich zu Orten politischer Debatten gewandelt. Genau hier liegt die Schnittstelle, die den Autofiktion-Hype offenlegt. Denn neben der einfachen Vermarktung von Büchern seitens Verlagen und dem Feuilleton, zeigt sich in der Autofiktion, ein Fokus auf das Ich und die eigene Erfahrung innerhalb sozio-politischer Diskussionen, wie sie auf Social Media geführt werden. Bei diesen Debatten steht die eigene Diskriminierungs- oder Unterdrückungserfahrung innerhalb unserer heutigen Gesellschaft immer im Zentrum. Nicht selten geht es dabei genau darum, diese Erfahrungen sichtbar zu machen, die eigene Reichweite zu nutzen, um sich zu positionieren. Genau hier schließt sie die bereits erwähnte Authentizitätfrage an. Damit trifft die Autofiktion absolut den Nerv unserer Zeit.
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
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