„Das Paradox ist, dass ich meine Zeit damit verbringe, Worte für das Schweigen zu finden.“

Interview mit Marie-Hélène Lafon

Veröffentlicht am
17.12.2024

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Die Schriftstellerin Marie-Hélène Lafon gehört zu den interessantesten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur. Sie war Anfang Juli zu Gast auf einer Ökokritik-Tagung in Münster, wo wir im Rahmen einer Lesung die Möglichkeit hatten, sie zu interviewen. Lafon gilt in Frankreich als Chronistin des ländlichen Raums, konkret der Auvergne, wo sie selbst ihre Wurzeln hat. Insgesamt zehn Romane hat sie bislang veröffentlicht, von denen zahlreiche mit Preisen gewürdigt wurden, darunter der renommierte Prix Renaudot für Histoire du fils (2020). Vier ihrer Werke wurden bis dato ins Deutsche übersetzt, so etwa Die Annonce (hier unsere Rezension) und Joseph (hier unsere Rezension). Wir sprachen mit Marie-Hélène Lafon über die Herausforderungen des Klimawandels, über ihr Schreiben und über Gustave Flaubert. Wir danken den beiden Organisatoren der Tagung, Christian von Tschilschke und Wolfram Nitsch, für die Möglichkeit, das Interview in deutscher Übersetzung zu publizieren.

Guten Tag, Marie-Hélène Lafon! Wir befinden uns hier auf einer Tagung in Münster, die dem Thema der Ökokritik in der zeitgenössischen Literatur gewidmet ist. Im Mittelpunkt stehen Fragen des Umwelt- und Tierschutzes, des Klimawandels und auch die Transformationen des ländlichen. Hand aufs Herz: Inwieweit sind diese Themen relevant für Sie?

Ich fühle mich von all diesen Themen angesprochen, aber die eigentliche Frage ist, wie ich damit als Schriftstellerin umgehe. Das ist nämlich etwas völlig anderes. In meinen Romanen greife ich ökologische Fragen im engeren Sinne nicht wirklich auf, weil mich die Komplexität der Thematik ehrlich gesagt überfordert. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht für ausreichend kompetent halte, um über diese Themen zu schreiben. Noch dazu wohne ich schon lange nicht mehr im Cantal, sondern bereits seit vierzig Jahren in Paris. Ich schreibe ganz einfach über die Beziehung des Bauern zum Land, zu seinem Land, jedoch nicht über die Umwelt im heutigen Verständnis. Die Bauern, die ich kenne, stellen sich nicht von vornherein ökologische – oder gar umweltaktivistische – Fragen, wenn sie ihr Land bearbeiten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ökologische Motive stehen nicht an erster Stelle, wenn der Landwirt wenig oder gar keinen Dünger verwendet. Er verzichtet darauf, weil zu viel Düngemittel die Qualität des Käses, den sie herstellen und verkaufen, mindern würde. Diese Beziehung zur Umwelt ist also in erster Linie mit pragmatischen, das heißt wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Zwängen verbunden.

Wie verhält es sich mit Fragen zum Tierwohl?

Ich muss gestehen, dass mir all diese Fragen lange Zeit fremd waren... Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, wo es Kaninchen, Hühner und Schweine gab, kleine und entzückende Tiere. Bis auf wenige Ausnahmen waren diese Tiere für uns Kinder jedoch keine Spielgefährten, mit denen wir uns verbunden fühlten, anders als z. B. Hunde oder Katzen. Unsere Nutztiere wurden gehalten, aufgezogen, getötet und gegessen. Das war der natürliche Kreislauf und erklärt vielleicht zum Teil, warum ich mich auch heute noch nicht im Bereich des Tierschutzes engagiere, geschweige denn militant bin, ich kann es einfach nicht.

Ich würde gerne auf die Frage des Klimawandels zurückkommen. Spielt diese Herausforderung eine Rolle im kollektiven Bewusstsein der Bewohner des Cantals?

Natürlich. In meiner Heimatregion, die zwischen achthundert und tausend Meter über dem Meeresspiegel liegt, hat die globale Erwärmung bereits sichtbare und spürbare Folgen hinterlassen. Dort wird es nun im Sommer manchmal 35 Grad heiß. Diese Hitze ist im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend. Vor allem das Problem der Wasserknappheit wird immer akuter. Meine Lehrer in der Schule lehrten uns damals in den 1960er Jahren, dass die Auvergne das Wasserschloss Frankreichs sei. Heute ist dieses Schloss ausgetrocknet bzw. zumindest in seinen Ressourcen bedroht. Dies sind wirklich gravierende Entwicklungen, vor denen die Menschen nicht länger die Augen verschließen können. Sie sind jeden Tag davon betroffen. Leider mangelt es den politischen Entscheidungen, die zur Verbesserung des Wasserhaushalts getroffen werden, an vorausschauendem Denken.

Beobachten Sie im Cantal neben dem Wassermangel noch andere Folgen des Klimawandels?

Wenn ich in der Heimat bin, sprechen die Menschen gerne mit mir über ihre Gärten und was dort passiert: Es wachsen nun Pflanzen, die man in diesen Gefilden noch nie zuvor gesehen hat, und andere, die es dort immer schon gab, sind plötzlich verschwunden. Ich erinnere mich an das Jahr 2022, als Eschen, Buchen und Ahornbäume unter dem Wassermangel litten. Sie verloren schon im August ihre Blätter, ganz zu schweigen von den Obstbäumen…

Wie gehen die Landwirte mit diesen Herausforderungen um?

Sie wissen, dass sie keine andere Wahl haben als sich an diese Veränderungen anpassen zu müssen. Um ihre Kühe zu tränken, ziehen sie deshalb mit ihren Tieren von Wiese zu Wiese. Ich denke außerdem an einen 20-jährigen Jungen, der aus einer Familie stammt, die seit mindestens vier Generationen Landwirtschaft betreibt. Er hat erkannt, dass er Pflanzen anbauen muss, die der Dürre widerstehen können. Er hat also angefangen, Zuckerhirse anzupflanzen...

Marie-Hélène Lafon liest eine Passage aus ihrem Roman L’Annonce

Während Ihrer Lesung habe ich mich gefragt, ob sie Ihre Texte auch während des Schreibprozesses laut vorlesen, so wie es Flaubert getan hat.

Ich lese sie laut vor, weil das die einzige Möglichkeit ist, die ich habe, um den Satz richtig – wie soll ich sagen? – zu justieren. Als ich 1996 mit dem Schreiben begann, fand diese Phase des Vorlesens erst am Ende der Arbeit an meinen Büchern statt. Im Laufe der Jahre habe ich damit immer früher eingesetzt.

Ich habe den Eindruck, dass Ihnen der Rhythmus sehr wichtig ist.

Für mich ist der Körper ein Schreibinstrument. Ich versuche immer, durch die Interpunktion den besten und präzisesten Rhythmus zu finden. Ich verwende nur das Semikolon, den Punkt und das Komma, keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen, keine Aussetzungen usw. Es kann sehr suggestiv und wirkungsvoll sein, mehrere Adjektive, Verben oder Substantive oder sogar Partizipien ohne Kommata zu verwenden.

Sätze zu bilden, zu komponieren, ist für Sie also ein Vergnügen?

Ein großes! Die Syntax ist meine Leidenschaft.

Sie arbeiten nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Lehrerin für Latein, Griechisch und Französisch. Hängt Ihre Affinität zur Syntax mit Ihrer Ausbildung als Lehrerin für die ‚alten Sprachen‘ zusammen?

Ja. Die Übersetzung lateinischer oder griechischer Texte verlangt eine gewisse Vertrautheit mit der Syntax und unterliegt dem ewigen Kreislauf der Dekonstruktion und Rekonstruktion eines Satzes, eines Textes. Man muss die innere Bedeutung der Wörter und ihre Beziehung zueinander suchen und enthüllen, um einen Satz und einen ganzen Text zu verstehen. Das gilt für alle meine Romane. Wenn ich schreibe, brauche ich sehr lange, um das zu ‚bauen‘, was ich dann meine syntaktischen Kathedralen nenne.

Ich habe den Namen Flaubert bereits erwähnt: Sie sagen, dass Sie Flaubert nicht lesen können, während Sie schreiben. Aber mir scheint, dass er überall in Ihren Werken präsent ist. Ich denke zum Beispiel an Joseph, in dem es viele Flaubert-Referenzen gibt, wie den Papagei, Croisset, die Namen Joseph, Emma etc.

Um ehrlich zu sein, hat Flaubert mir die Architektur für Joseph geliefert. Ich habe Joseph 2014 veröffentlicht, aber der Impuls, das Buch zu schreiben, geht auf den Sommer 2003 zurück und zwar auf ein Gespräch mit meiner Schwester beim Pflücken von grünen Bohnen im Garten unserer Eltern. Ich sagte mir: „Ich will und muss über Landarbeiter schreiben“. Als ich ein Kind und später ein Teenager war, arbeiteten sie nicht nur mit uns, sie lebten auch mit uns, aßen jeden Tag mit uns, wohnten im selben Haus wie wir. Meine Mutter wusch ihre Wäsche. Ich stellte mir also Fragen, dachte nach und kaute jahrelang auf diesem lebendigen Material herum, ohne den entscheidenden Anknüpfungspunkt für ein richtiges Buch zu finden. Schließlich kam mir Flaubert in der Metro zu Hilfe: Beim Lesen von Un cœur simple (dt. Ein schlichtes Herz), was ich übrigens mindestens einmal im Jahr mache, wurde mir klar, dass es darin fünf kurze Kapitel gibt. Plötzlich hatte ich die Architektur meines Romans gefunden, diesen intimen Rhythmus in fünf Schritten, wie er Ihnen sicherlich auch aufgefallen ist. Ich habe es also dem guten Gustave zu verdanken, dass ich mit dem Schreiben beginnen konnte. Deshalb habe ich auch beschlossen, den gesamten Text mit Anspielungen auf Flaubert zu spicken. Ehrlich gesagt hat es mir viel Spaß gemacht, so stark in dieses schier unerschöpfliche Universum einzutauchen (lacht). Das hat mir Auftrieb gegeben, mich bestärkt und auch genährt. Joseph ist also auf verschiedenen Ebenen eine Hommage an Flaubert.

Gilt das auch für die interne Fokalisierung, die Flaubert berühmt gemacht hat?

Ja. In Joseph wollte ich wirklich so nah wie möglich an den inneren Grübeleien dieses stillen Mannes sein, des titelgebenden Landarbeiters, der offensichtlich nicht dieselbe Beziehung zur Welt hat wie ich. Ihn wollte ich aus nächster Nähe beschreiben. Das Paradoxon, das mir während dieser Arbeit auffiel, ist, dass ich meine Zeit damit verbringe, Worte für das Schweigen zu finden. Dazu musste mich an Gustave Flaubert anlehnen.

Es ist kein Geheimnis, dass Flaubert mit den verschiedenen Zeitformen der Verben gespielt hat. Ich habe den Eindruck, dass die Zeitformen auch für Sie eine zentrale Bedeutung haben. Stimmen Sie dem zu?

In einem Buch wie Les sources (2023) ist die Frage nach den Tempusformen von entscheidender Bedeutung. Für mich ist die Suche nach der richtigen Zeit für jedes Verb ein wichtiges und zugleich schwieriges Unterfangen. Wenn ich meine Romane öffentlich vorlese, wie ich es heute tue, kann es vorkommen, dass ich die Zeitformen einiger Verben noch einmal ändere, wenn ich merke, dass diese oder jene Form nicht oder nicht mehr richtig klingt.

Auffällig ist ebenfalls, dass Sie ihre Texte kaum in Abschnitte einteilen. Warum?

Es soll nicht als fishing for compliments erscheinen, aber ich kann einfach keine Dialoge schreiben: Ich gebe gerne meine vollkommene Unfähigkeit zu, Dialoge zu schreiben. Es gibt nur einen, der sehr kurz ist, und zwar in meinem ersten Buch Le soir du chien (2001). Für die Taschenbuchveröffentlichung schlug ich meiner Verlegerin vor, ihn herauszunehmen, und sie überzeugte mich, es nicht zu tun. Sie behauptete, ich würde so mein Buch auseinandernehmen.

Und die Abschnitte?

Der Text ist eine Art organische Einheit für mich, die ich weder in Absätze verwursteln, zergliedern kann noch will. Ich empfinde einfach keine Notwendigkeit, das in meinem Schreiben zu tun.

In dem Interviewband Le pays d’en haut (2019) kommen Sie auf Claude Simon zu sprechen. Inwiefern sind seine Bücher wichtig für Sie?

Für mich ist Claude Simon zu einem Schriftsteller geworden, der mich nährt, obwohl ich große Schwierigkeiten hatte, in seine Romane einzusteigen und einen Platz darin zu finden. Heute glaube ich besser verstehen zu können, was er meint, wenn er vom Wechseln der Zeitschichten beim Schreiben spricht. Ich verdanke ihm unter anderem einige Erkenntnisse, was die Anordnung von Erzählchronologien betrifft. Außerdem er ist unerschöpflich, genau wie Flaubert.

Marie-Hélène Lafon liest eine Passage aus Joseph

Mir ist aufgefallen, dass die Väter in Ihren Romanen häufig fehlen. Können Sie uns das erklären?

Wenn ich eine Typologie von Vätern erstellen müsste, würde ich sagen, dass sie entweder vernichtend oder vernichtet sind. Ich spiele also mit der tödlichen Macht von Vätern, die sich auch gegen sie selbst richten kann. Die abwesenden Väter in meinen Romanen sind aber nicht unbedingt tot, sie können aus verschiedenen Gründen einfach vergessen oder ausgelöscht sein. In Les derniers Indiens (2008) wird der Vater zerquetscht. Josephs Vater in dem gleichnamigen Roman ist erdrückend und alkoholabhängig und stirbt daran.

Das ist traurig…

Man sagt, dass die glücklichen Menschen keine Geschichte hätten…

Mit Blick auf die abwesenden Väter gibt es aber auch Ausnahmen. Ich denke dabei an Ihren ersten Roman Le soir du chien, der 2001 erschienen ist.

Ja, Laurent, der kein Bauer, sondern Elektriker ist, hat eine sehr liebevolle Beziehung zu seinem Vater, der an Krebs stirbt, aber in seinem Kopf sehr präsent bleibt, wie eine strahlende Gestalt. Es ist also nicht immer so katastrophal in meinen Romanen, wie es zu sein scheint (lacht).

Als Rätsel ist der abwesende Vater auch ein Thema in L’histoire du fils (2020).

Das ist tatsächlich ein Buch, dessen Stoff mich lange Zeit in die Verzweiflung getrieben hat, weil mir die Geschichte anvertraut wurde, damit ich sie erzähle. Sie geht also zurück auf die Enthüllung eines realen Familiengeheimnisses. Es handelt sich nicht um meine Familie, sondern um eine Familie, der ich seit langem sehr nahestehe. Als diese Geschichte 2012 bekannt geworden ist, wurde sie mir am Telefon erzählt und zwar so, wie es in Familien geschieht: „Wenn du wüsstest, was passiert ist...“. Mir wurde gesagt, dass es eine Geschichte für mich sei und ich sie erzählen solle. Das ist zweifellos richtig, es ist eine Geschichte für mich, eine Geschichte über Abstammung, über mehrere Generationen hinweg, die mich in ihren Bann gezogen hat: Ein unbekannter Sohn taucht auf, schon älter, auf der Suche nach den Spuren seines Vaters, der seit langem tot ist, er versucht seine Herkunft und was damit zusammenhängt zu verstehen...

Woran arbeiten Sie im Moment?

Zurzeit arbeite ich an einem neuen Roman. Er soll in der Ardèche, in einem kleinen Dorf, spielen. Ich möchte erzählen, wie verschiedene Generationen von Landbewohnern und vor allem verschiedene Schichten zusammenleben oder zumindest versuchen, dies zu tun. Solche politischen Aspekte interessieren mich sehr, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige für diese Baustelle bin, und ich muss zugeben, dass ich noch nicht die passende Form gefunden habe. Ich denke auch über andere Wege nach...

Vielleicht liefert Ihnen Flaubert erneut den Schlüssel. Vielen Dank, Marie-Hélène Lafon!

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