"Glotzt nicht so romantisch!"

Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.

Veröffentlicht am
28.10.2024

Moritz Heß

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Vom Hauptbahnhof laufe ich durch die Bahnhofsstraße Richtung Alte Feuerwache. Es gäbe weitaus schönere Strecken aber irgendwie gehört diese grau gepflasterte, grau bebaute Einkaufsmeile zu meinem Ankommen in Saarbrücken dazu. Vorbei an der Europagalerie, deren Name ganz anderes vermuten lässt als eine Indoor-Einkaufsmeile am oberen Ende der Outdoor-Einkaufsmeile. Dann wiederum: Sind Europas Kleinstädte nicht gerade durch diese Konsumboulevards miteinander verbunden? „Und wenn die Städte alle gleich sind, geh’n wir nicht mehr hin“, denke ich, womit auch der Pascow-Ohrwurm des Tages feststeht. ("Gib mir 'nen Grund zum Lachen und ich werd's tun / Gib mir 'nen Grund zum Feiern, ich werd nicht ruh'n" - wie gut schon die ersten Zeilen dieses Songs zum Thema des Abends passen, bemerke ich erst, als ich diesen Kommentar schreibe). Vorbei an der KARLI, der Skulptur von Alexander Karle, auf deren plattförmigen Sockeln die dort verweilenden Personen – meist nichts ahnend – selbst zum Kunstwerk werden: Die Menge als Spektakel. Vorbei an Straßenmusikern, die sich von den Smartphones einzelner kurz Stehengebliebener mit platzenden Primark-Tüten filmen lassen. Vorbei an ein paar enthusiastisch wirkenden jungen Menschen, die in die grellen Westen einer Hilfsorganisation und ein – echtes oder aufgesetztes – Dauerlächeln gekleidet mit Fast Food und Fashion um ein paar Euro konkurrieren. Ob das Geld, das ich gleich im Café Nauwies für Pommes und Salat ausgeben werde, bei ihnen besser aufgehoben wäre? Oder das Geld, das mich die Theaterkarte gekostet hat?

© Martin Sigmund

Nach ein paar Minuten im Theatersitz, kurz bevor das Stück beginnt – oder hat es längst begonnen? – höre ich Getrommel, das vom Vorplatz in den Saal eindringt. Laute Rufe kommen hinzu und Geräusche, die ich nicht zuordnen kann. Wie passend, denke ich, und verstehe im nächsten Moment, dass das kein Zufall ist. Auf einer trüben Folie, die als irgendwas zwischen Vorhang und Leinwand den Bühnenaufbau teilweise bedeckt, erkenne ich in den projizierten Filmaufnahmen den Platz vor der Alten Feuerwache. Einige Gauklerinnen und Gaukler machen dort auf sich aufmerksam und scheinen die Vorbeigehenden ins Schauspielhaus locken zu wollen. Würde ich dort draußen an ihnen vorbeikommen, würde ich einen großen Bogen um sie machen, geht es mir durch den Kopf, um mich nicht zu ihnen verhalten oder am Ende vor aller Augen bei irgendwas mitmachen zu müssen, auf das ich nicht vorbereitet bin. Peinlich wäre das, unbequem, überfordernd! Aber zum Glück kann ich hier schön gemütlich in meinem gepolsterten Sitz sitzen und dem Treiben auf dem Hybrid aus Vorhang und Leinwand angenehm passiv zuschauen. Oder doch nicht? Die Projektion zeigt keine Aufzeichnung, sondern eine Live-Übertragung! Diese gaukelnde Bande nähert sich und übertritt keine zwei Minuten später die Schwelle zum Saal. Ein Durchbruch der vierten Wand ist damit gleich hinfällig – sie steht von Anfang an in Frage. ‚Das da draußen‘ will rein.  

In ihrem Schlepptau hat die Schauspieltruppe zwei Zuschauerinnen. Etwas spät dran und daher gerade unfreiwillig zu einem Teil der Aufführung geworden, werden sie den Saal noch vor der Pause wieder verlassen. Vielleicht hatten sich die beiden auf zweieinhalb Stunden selbstverlorenen Schauens und Staunens eingestellt. Aber das ist hier nicht zu haben: „Glotzt nicht so romantisch!“, wird sich das Publikum an diesem Abend noch mehrfach entgegen schmettern lassen müssen. Schon die im Prolog entfalteten Überlegungen zu unterschiedlichen Begriffen der Zuschauenden in verschiedenen Sprachen machen klar: Die Menschen auf den Rängen, in den weichen, warmen Klappsitzen, sollen sich nicht einfach unterhalten und berieseln lassen! Von ihnen wird mehr erwartet, als das zur Schau Gestellte zurückgelehnt zu konsumieren. Ob an eine englischsprachige audience oder an frankophone spectateurs gerichtet: „Es braucht das Spektakel gegen die Passivität“.

In dieser Behauptung artikuliert sich zumindest die Hoffnung, dass ein engagiertes Theater ein engagierteres Publikum hervorbringen kann; ein Publikum, das die politische Realität als Ergebnis der Umsetzung politischer Fiktion erkennt; das erkennt, dass Wirklichkeit und Ausgedachtes durchaus zusammenhängen und dass sich das eine wie das andere beeinflussen, verändern – vielleicht sogar revolutionieren lässt! Vorausgesetzt, man schaut nicht nur zu, sondern mischt sich auch ein.

Nur leider hat in Zeiten wie diesen – außerhalb wie innerhalb des Stücks – oft schon das Zuschauen lähmende Effekte. Die Klimakatastrophe, 2024 längst in vollem Gange, spiegelt sich in der kleinen Eiszeit, die im Jahre 1690 vor allem die ärmeren Teile der englischen Bevölkerung beutelt. Hier wie dort, damals wie heute, ziehen Not und Verunsicherung gesellschaftliche Unruhen nach sich. Menschen drohen zu verhungern, verlieren ihr Zuhause, suchen Zuflucht und finden – viel zu oft – Hass. „Das allgemeine Elend spritzt seinen Abfall bis in meine Hütte“, empört sich Königin Anna (packend gespielt von Martina Struppek). Diese Fremdenfeindlichkeit speist sich auch aus Angst und Überforderung: Hic sunt leones, hier sind Löwen, schreiben die Geographen des siebzehnten Jahrhunderts in die blinden Flecke ihrer Weltkarten. Kurzerhand setzen sie das Böse, die Gefahr, überall dort ein, wo sie nicht wissen, was ist.

Im Angesicht all dieser Verunsicherungen und Unwägbarkeiten schreit alles nach einer haltgebenden, sinnstiftenden Geschichte: Warum das alles? Was tun? Wer sein? Und wozu? Doch es gibt sie nicht mehr. Alte Gewissheiten geraten ins Wanken. „Die Gotteshäuser verlieren ihre Zuhörer“. Es ist das Ende der großen Erzählungen. Stattdessen: Orientierungslosigkeit. Willkommen in der Postmoderne! Passenderweise wird der titelgebende Roman L‘homme qui rit, den Victor Hugo 1869 vollendet, auf der Bühne ausgesprochen frei umgesetzt. Im Janaur 1690 wird der zehnjährige Gwynplaine von Kinderhändlern, den sogenannten Comprachicos , entführt, verstümmelt und schließlich vor der Küste Englands über Bord geworfen. Ursus, ein Händler und Schausteller in Begleitung des zahmen Wolfes Homo, nimmt sich des Jungen an, dessen Gesicht von den Entführern zu einer dauergrinsenden Fratze entstellt wurde. Auch die blinde, einjährige Dea, die Gwynplain bei einer toten Frau gefunden hat, nimmt Ursus bei sich auf. Einige Jahre später ist um die drei eine kleine Theatergruppe entstanden. Gemeinsam ziehen sie durch England, das inzwischen, im frühen 18. Jahrhundert, von Königin Anne regiert wird. Sébastien Jacobi kombiniert ausgewählte Plotelemente der Romanvorlage wie die Bruchstücke eines alten Reliefs; Handlung und Themen des Stücks werden in die entstehenden Zwischenräume hinein und über die Ränder hinaus entfaltet. Es entsteht ein düster-wahnwitziges Gesamtbild.

Eine Frage, die dabei immer wieder durchscheint: Was kann an die Stelle der tradierten Narrative von Gott und Königin („God save the Queen!“), von Kirche und Staat, treten? Was können die Menschen sein, außer Gläubige und Untertanen? „Ich habe viele Väter, ich habe viele Mütter […] Ich bin über zehntausend Jahre alt und mein Name ist Mensch“, singt das Ensemble im Chor. Ein ergreifender Lichtblick. Religions- und Staatsangehörige könnten vor allem eines sein: Menschen. Und an die Stelle der abgeschriebenen Erzählungen könnte – endlich?? – die einer vereinten, versöhnten Menschheit treten! Victor Hugo trifft auf Ton Steine Scherben und mir steigen Tränen in die Augen.

Doch der Hoffnungsschimmer ist von kurzer Dauer. So einfach ist es nicht! Und außerdem: „Geschichten, die man versteht, sind einfach nur schlecht erzählt“. Also kämpfen sich müde Figuren durch ziemlich finstere Zeiten, mit letzter Kraft, kurz vor der Erschöpfung. Am Rande der Verzweiflung, am Rande des Wahnsinns, tragen sie assoziierend ihre Gedanken vor. Vorübergehend gestärkt durch die Wut über die Ungerechtigkeit der Verhältnisse: „Oben eine Welt, die tanzt. Und unten eine Welt, auf der man tanzt“; „Die Unterdrücker unterscheidet von den Unterdrückten nur der Platz, auf dem sie stehen“. Dann wieder von metadramatischen Selbstzweifeln geplagt: „Ist das schlecht, das ist so schlecht!“, ächzt Ursus (ergreifend gespielt von Christiane Motter) über den eigenen Text; „Ach, was soll’s – feiert!“, seufzt der Jacobi, der an diesem Abend kurzfristig mit dem Textbuch in der Hand Verena Maria Bauer in der Rolle des Barkilphedro vertritt (bravo!) – wenn man so will, ein zusätzlicher Akt der Selbstreferenzialität, der, so passend wie ungeplant, ein weiteres Mal an der imaginären Wand zwischen inner- und außerfiktionaler Welt kratzt. Der Flügel scheppert, die Säge heult, die Kapelle spielt bis zum Schluss, in die „Morgenröte der Katastrophe“. 

Wer auf eine klassisch erzählte, stringente Geschichte hofft, wird enttäuscht werden. Möglicherweise bleiben auch deshalb nach der Pause einige zuvor besetzte Plätze leer. Wer Lust hat auf ein außergewöhnliches Konglomerat aus starken Zeilen, grotesk-absurden Impressionen und zeitgeschichtlichen Referenzen, sollte sich das Stück anschauen!

Ich bleibe bis zum Schluss und bin vom Schauspiel des Saarbrücker Ensembles ein weiteres Mal zutiefst beeindruckt! Nur habe ich manchmal das Gefühl, die imposante Inszenierung erzielt bei mir nicht den gewünschten Effekt. Gwynplaines Tod wird verkündet und aus irgendeinem Grund tut sich bei mir wenig. Als Jan Hutter, der die Hauptrolle wirklich großartig verkörpert, in einem froschgrünen Motion-Capture-Anzug an einem Haken unter der Bühnendecke hängt, geht es mir ähnlich. Soll das so sein? Manches habe ich wahrscheinlich einfach nicht verstanden und vermutlich ist auch das zumindest teilweise gewollt („Geschichten, die man versteht, …“). Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich mir etwas mehr Kohärenz, einen greifbareren Plot gewünscht hätte. Aber klar – wenn man das, was ich für eine Kernidee des Stücks halte, konsequent verfolgt, kann es beides kaum geben.

Doch auch, wenn ich den Saal mit gemischten Gefühlen verlasse (Ziel erreicht?), war es ein guter Abend mit einem unkonventionellen Stück, das ich gerne weiterempfehle!

Der Mann, der lacht ist noch bis zum 28. Dezember 2024 am Saarländischen Staatstheater (Alte Feuerwache) zu sehen.

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