Die Werke von Hélène Cixous gehören unbestreitbar zu den Klassikern frankophoner Gegenwartsliteratur. Bereits für ihren Debutroman Dedans (1969) erhielt die in Algerien geborene jüdische Intellektuelle, Feministin, Poststrukturalistin, Autorin und Literaturwissenschaftlerin den Prix Médicis. Zwei Jahre zuvor hatte ihre Novellensammlung Prénom de Dieu schon gute Kritiken erhalten, was ebenso für ihre 1968 veröffentlichte Dissertation L’exil de James Joyce: ou l’art de remplacement gilt. Cixous’ Werk besteht aus einer mittlerweile unüberschaubar gewordenen Vielzahl wissenschaftlicher und fiktionaler Texte unterschiedlichster Formate und Formen. Dazu gehören Romane, Essays, Monographien und Theaterstücke. Allen Texten ist eines gemein: die Umsetzung einer autobiographischen Schreibweise, die die Autorin selbst einst als écriture féminine bezeichnete. Damit ist jedoch nicht nur eine Art des Schreibens, sondern auch ein philosophischer Ansatz gemeint, dem sich auch die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray und die Bulgarin Julia Kristeva verpflichtet sehen. Gerade Letztere hat mit Cixous gemein, dass auch sie neben wissenschaftlichen Publikationen auch narrative Texte veröffentlicht, so etwa Les Samouraïs (1990) oder L’Horloge enchantée (2015).
Sich der phallogozentrischen Logik widersetzend, verwendet Cixous eine offene und entgrenzende „autobiografiktionale“ Schreibweise, wie sie Elisabeth Schäfer genannt hat, die sich jenseits einer präskriptiven Grammatik bewegt und von der Autorin in einem Interview mit Peter Engelmann 2020 als „écriture féline“ bezeichnet wurde, was den spielerischen, offenen und stellenweise auch sprunghaften Charakter ihres Schreibens hervorhebt. Erklärtes Ziel dieser Schreibweise ist es, die traditionelle Konzeption von „Weiblichkeit“, wie sie maßgeblich von der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts geprägt worden ist, zu erschüttern. Darüber hinaus ist Cixous bestrebt, der vorherrschenden Auffassung von Weiblichkeits das nicht an essentialistische Geschlechtervorstellungen gebundene Konzept des „féminin“ entgegenzusetzen. Dieses bezeichnet die Art und Weise, wie sich Weiblichkeit zeigt, bzw. wie Weiblichkeit erfahren wird. Es handelt sich um den Aufruf, den hierarchisch und binär-oppositionell organisierten androzentrischen logos nicht zu (re-)produzieren, sodass das Männliche nicht länger als normativer Bezugspunkt des (westlichen) Denkens gelten kann. Die écriture féminine/féline ist damit nicht an ein spezifisches Geschlecht gebunden. Sowohl Männer als auch Frauen können „weiblich“ schreiben, wie Cixous es für die Schriften Jacques Derridas und Jean Genets diagnostiziert. Das „féminin“ ist der Ruf des Offenen in das Sich-Öffnende der Sprache, der Aufruf, sich diesem Offenen nicht zu verschließen, sondern ihm zu folgen. Der Mensch als sprachlich (i.e. als in der Sprache und durch dieselbe) ereignetes Wesen muss nun lernen, diesen Ruf zu empfangen, den Ruf der Sprache zu hören.
Stilistisch zeichnet sich diese Sprache, die nun nicht mehr als ein – im Sinne Saussures – totalisierendes und geschlossenes System mit dem Signifikanten als festem Zentrum verstanden wird, durch die Verwendung „ent-grenzender“ sprachlicher Elemente aus: Anakoluthe, Resignifikationen sowie das Spiel mit Polyvalenz, Ambiguität, Homophonie und Interpunktion durchziehen Cixous’ Texte. Inhaltlich geht es um die Aufarbeitung der eigenen Frau-Werdung mitsamt ihren Bedingungen und biographischen Hintergründen. Dazu gehören der Tod des Sohnes und des Vaters, die Kindheit im algerischen Armenviertel Clos-Salembier in Oran, das Aufwachsen zur Zeit des Vichy-Regimes sowie der Umgang mit dem Jüdisch- und Weiblichsein – all diese Ereignisse und Erlebnisse bilden die Rahmenhandlung ihrer Schriften.
Exemplarisch lässt sich dieser Schreibstil mit dem folgenden Auszug aus ihrem Roman Les rêveries de la femme sauvage aus dem Jahr 2000 illustrieren:
« Tout le temps où je vivais en Algérie, je rêvais d’arriver un jour en Algérie, j’aurais fait n’importe quoi pour y arriver, avais-je écrit, je ne me suis jamais trouvée en Algérie, il faut maintenant précisément que je m’explique, comment je voulais que la porte s’ouvre, maintenant et pas plus tard, avais-je noté très vite, dans la fièvre de la nuit de juillet, car c’est maintenant, et probablement pour des dizaines ou des centaines de raisons, qu’une porte vient de s’entrebâiller dans la galerie Oubli de ma mémoire, et pour la première fois, voici que j’ai la possibilité de retourner en Algérie, donc l’obligation …»
In mehrfacher Hinsicht stigmatisiert (weiblich, jüdisch, germano- und frankophon), findet das Leben ihrer Kindheit an den (Wund-)Rändern (lèvres) der algerischen Gesellschaft statt. Ein Gefühl der Zugehörigkeit will sich nicht einstellen („je rêvais d’arriver un jour en Algérie“). Dennoch bedeuten die Stigmata keinen Nachteil, sondern bilden vielmehr den Ausgangspunkt ihres kreativen Schaffens. Diese Erfahrungen bringen das Schreiben erst hervor („avais-je écrit“, „avais-je noté très vite“). Die Hoffnung, die ihr bleibt, ist das Erwarten des Offenen („une porte s’ouvre“, „qu’une porte vient de s’entrebâiller“). Dieses kommt nicht von außerhalb, sondern durchdringt sie, befindet sich in ihr selbst, bzw. im Erinnerungsapparat ihrer Wahrnehmung („la galerie Oubli de ma mémoire“). Dieses Offene, das zugleich zum Inneren wird, beschreibt nichts anderes als das „féminin“, mithin das, was es ihr erlaubt, jemand zu werden. In ihrem jüngst veröffentlichten Roman Rêvoir schreibt sie:
« Ensuite, nous [le récit et la narratrice] avons fait l’amour. Comme d’habitude. Presque. Ce qui est venu : ma langue énervant ton oreille, la même troublant ton gros orteil, le mystère du réveil de chaque partie du corps chéri, musical, un ensemble de petites résurrections, ultrarapides. Ce qui est revenu comme un astre, inattendu et merveilleux : le slip. Un petit slip étroit, ajusté, court, presque bikini, on n’en fait plus, simple coque sur les parties, nous avions déjà trente ans lorsque m’est venue l’idée que c’était le slip, celui qui fait office d’amour, le rituel, et c’était le cas. Le retour de ce partenaire pas accessoire, objet secret, témoin, me remplit d’une émotion délicieusement actuelle, l’onde du plaisir, l’éternelle survie d’Éros. Nous sommes, me dis-je »
Cixous beschreibt hier die Wirkungen, die die Erzählung auf sie ausübt. Die Erzählung, die selbst eine sprachliche Manifestation darstellt, die sich durch und in der Sprache ereignet, steht in enger Verbindung mit der Autorin. Die Verbindung ist eine erotische. Erzähler und Erzähltes vereinigen sich liebend („nous avons fait l’amour“) und dringen ineinander ein („ma langue énervant ton oreille“). Die Erzählung wird zu einem (körperlichen) Teil des Erzählenden und bildet zugleich dessen „Fremdes“. Gleichzeitig fungiert die Erzählung beinahe als Garant der Identität des Erzählenden. Auch hier zeigt sich wieder die Bewegung des Offenen: die körperliche Vereinigung erfolgt schnell („ultrarapides“), musikalisch („musical“) sowie auferstehungsartig („un ensemble de petites résurrections“). Gerade die beiden letztgenannten Details gehören zweifelsohne in den Bereich des Ästhetischen (aisthesis) als Gegensatz zur vernunftmäßigen Wahrheit (aletheia). Das „féminin“ passiert somit die Grenzen des Rationalen, dem seit der Aufklärung eine androzentrische und maskuline Vorstellung inhärent ist, wohingegen das Sinnliche und Schöne traditionell dem Weiblichen zugeordnet wird. Zugleich verleiht es der Erzählung etwas geradezu Überirdisches und Transzendentes. Dies wird nicht zuletzt durch die Verwendung des eindeutig religiös konnotierten Begriffs der Auferstehung („résurrections“) verdeutlicht. So gehört auch das Religiöse eher in den Bereich des Sinnlichen als in den des Rationalen.
Eine weitere Besonderheit des cixousschen Schreibens betrifft die Betonung des Nebensächlichen und Alltäglichen. Hierzu zählt u.a. ein Mädchenfahrrad (Les rêveries de la femme sauvage), ein Hund namens Fips (Le jour où je n’étais pas là) oder auch ein Koffer (Ruines bien rangées). In diesem Ausschnitt handelt es sich um einen Slip, der im Laufe der Erzählung zu dem Slip wird („le slip“). Auch hier bleibt das Wortfeld der Sexualität erhalten („slip“, „bikini“, „ajusté“, „l’amour“ oder auch „simple coques sur les parties“). Sexualität, Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit sind omnipräsent und bedingen sich gegenseitig. An dieser Stelle kreuzen sich zudem Religiosität und Sexualität, sodass der Slip sie – gleichsam als Zeuge des Lustvollen – an die Lust selbst erinnert („l’onde du plaisir“) und die Anwesenheit des Gottes Eros bezeugt. Im Liebesakt, der sprachlich offenen und gegenseitigen Durchdringung von Erzähler und Erzähltem, findet die Erzählerin zu sich selbst, wird sie. Sie hat den Ruf des Offenen gehört und empfangen. Dieser wiederum führt sie in ihr eigenstes Wesen, in ihre „weibliche“ Identität („Nous sommes“). Die Erste Person Plural zeigt zudem, dass dies kein singuläres Ereignis darstellt, sondern vielmehr ein allgemeines Bedürfnis nach dem „Weiblichen“ als Offenem und Entgrenzendem darstellt. Es lässt sich hier weniger als exkludierendes „wir“ im Sinne einer Frauengemeinschaft verstehen, die der der Männern diametral gegenübersteht, sondern richtet sich vielmehr an diejenigen, die sich darauf einlassen (können), den Ruf des Offenen ins Offene zu empfangen, mit dem Ziel, einer neuen, nicht der Phallokratie unterstehenden Genealogie zu folgen.
Hier zeigt sich das Faszinierende und Neue, das Cixous‘ Werke auszeichnet. Den Leser verzaubernd, nimmt sie ihn mit auf die Reise in eine literarische Welt, die jenseits hierarchisch gegliederter Geschlechtervorstellungen liegt. Mit ihrer unverwechselbaren poetischen und gleichsam musikalischen Sprache gelingt es der Autorin, einen alternativen literarischen Raum zu schaffen, der sich nicht durch Macht auszeichnet, sondern vielmehr durch Toleranz, (sexuelle) Vielfalt, Liebe und Emotionalität gekennzeichnet ist. Dies macht den Reiz ihrer Werke aus. Wie der Ausschnitt aus ihrem neuesten Roman zudem gezeigt hat, gibt es auch nach einer seit mehr als fünfzig Jahren andauernden Schreibtätigkeit noch immer neues zu entdecken. Auch zukünftig wird uns Cixous dazu einladen, sich auf ihr „Experiment des Offenen“ einzulassen und dem Ruf der Freiheit zu folgen. Wir täten gut daran, ihre Einladung anzunehmen.
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