Jean Tévélis ist Grundschullehrer in Besançon und Buchautor. Mit dem Schreiben begann er 2008. Auf seine Internetblogs, in denen er von seinem Leben als Lehrer und werdender Vater berichtet hat, folgten schließlich die ersten Kinderbücher. Für seinen Jugendroman Frère (2021) wurde er vielfach ausgezeichnet. Die Deutsch-Französische Gesellschaft hat ihn im Sommer 2024 nach Landau eingeladen. Wir haben diese Gelegenheit genutzt und Herrn Tévélis für unser Portal interviewt.
Herzlich Willkommen Herr Tévélis, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Sie sind unter anderem in Landau, um Ihren Roman Frère in zwei regionalen Gymnasien vorzustellen. Waren Sie schon einmal in Deutschland, um über Ihre Bücher zu sprechen?
Nein, das ist das erste Mal, dass ich nach Deutschland komme, um über meine Bücher zu sprechen. Mein Aufenthalt findet im Rahmen der Verleihung des Prix des lycéens allemands statt. Das ist ein nationaler deutscher Preis. Die Schüler zeichnen damit ihren Lieblingsroman aus. Neben zwei weiteren Romanen wurde Frère nominiert.
Die Nominierung hat Sie an den Gymnasien in Deutschland bekannt gemacht hat. Wie ist es in Frankreich?
Frère hat in Frankreich sechs kleine Preise bekommen. Bei uns gibt es viele lokale Preise für Kinder- und Jugendbücher. Wie in Deutschland stimmen die Leser ab. Dieses Jahr ist mein Roman Le milieu de nous deux für den Prix des Incorruptibles nominiert. Dieser Preis genießt im französischen Bildungssystem ein hohes Ansehen. Die Preisverleihungen werden normalerweise von Mediatheken organisiert, die Teil eines großen Netzwerks sind. Sie laden die Autoren zu Lesungen ein. Treffen finden auch in den Collèges und den Gymnasien statt. Ich reise regelmäßig durch Frankreich, um mit Schülern über meine Bücher zu sprechen, was man nicht tun kann, wenn man Hugo, Balzac oder Zola behandelt (lacht). Ich finde es gut, dass die Lehrer bei den Jugendlichen die Liebe zur Literatur wecken wollen.
Wer hat in Ihnen die Lust zu lesen geweckt?
Ich habe erst sehr spät zur Literatur gefunden. Ich war an der Universität für Sport eingeschrieben. Nach meinen Kursen hatte ich Zeit. Meine Freunde haben mir ihre Bücher geliehen, das war Gegenwartsliteratur. Dank ihnen habe ich Gefallen am Lesen gefunden. Später habe ich angefangen, die Klassiker zu lesen. Vor allem Les Trois Mousquetaires, La Reine Margot et Le comte de Monte-Cristo von Alexandre Dumas haben meine Lust zu lesen gefördert. Diese Abenteuerromane haben mich auch dazu inspiriert, meine eigenen Geschichten zu erfinden.
Wollten Sie von Beginn an Bücher für Kinder und Jugendliche schreiben?
Nein, überhaupt nicht. Meine ersten Schreiberfahrungen habe ich mit Freunden im Radio gemacht. Als wir jung waren, hatte unser Theaterlehrer eine kleine Sendezeit in einem lokalen Radiosender am Samstagmorgen von acht bis neun Uhr. Wir entwarfen lustige Kolumnen und strahlten sie aus. Niemand hörte uns zu (lacht).
Und danach?
Vor zwölf Jahren habe ich damit begonnen, einen Internetblog zu verfassen. Ich habe kleinere Texte über meine beruflichen Erfahrungen, über die Anekdoten im Leben eines Grundschullehrers verfasst. Es hat mir Spaß gemacht, humorvoll und mit einem Augenzwinkern von meinem Alltag zu erzählen. Danach habe ich in einem anderen Blog über die erste Schwangerschaft meiner Frau berichtet. Daraus sind Bücher geworden. Zunächst habe ich also Bücher für Erwachsene geschrieben. Und damit wollte ich auch weitermachen.
Warum haben Sie sich dann dazu entschieden, für Kinder und Jugendliche zu schreiben?
In erster Linie, weil ich mir nicht vorstellen konnte, Romane schreiben zu können. Außerdem war ich Vater. Es war für mich also natürlich, mich der Literatur für Kinder zuzuwenden. Zudem bin ich Grundschullehrer. Bücher für Kinder zu schreiben bedeutet, Geschichten in einfachen Worten zu erzählen. Ich hatte Lust, Geschichten zu schreiben, die junge Menschen bewegen. Wenn mich Schüler fragen, was ich mit meinen Büchern ausdrücken möchte, sage ich, dass ich keine Inhalte vermitteln will. Ich möchte Emotionen wecken.
Die Preise, die Sie erhalten, und die Reisen innerhalb und außerhalb Frankreichs zeigen, dass Ihnen das gelingt.
Es ist sehr schön, meine Leserinnen und Leser sowie ihre Eltern zu treffen. Mir ist es schon passiert, dass Eltern zu mir kommen, um mir zu sagen, dass es das erste Mal gewesen sei, dass ihr Sohn oder ihre Tochter ein Buch vollständig gelesen habe. Mich freut es, dass meine Bücher Kindern einen Einstieg in die Welt der Literatur bieten.
Welche Kinder- und Jugendbuchautoren würden Sie gerne treffen?
Ich schätze seit langem die Romane von Pierre Lemaître. Daniel Pennac ist ein Autor, der mich noch mehr beeindruckt hat. Ich zitiere ihn häufig. Er schreibt sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene. Ich finde seine Schreibweise sehr modern, die Mündlichkeit in seinen Texten gefällt mir wirklich außerordentlich. In seinen Romanen habe ich auch die Strategie entdeckt, kleine, unerwartete Überraschungen einzustreuen. Wenn ich schreibe, versuche ich, meine Leser mit einem Szenario zu überraschen, das sie nicht vorhersehen können.
Das ist Ihnen in Frère wirklich gelungen. Ich enthülle nicht den Plot Twist für alle unsere Leser, die Ihren Roman noch nicht kennen. Nur so viel: Alle Ereignisse sind am Ende verbunden mit der Fahrradüberquerung der Straßenkreuzung.
Genauso ist es! Diese Szene überdehnt natürlich den realistischen Rahmen, weil die Überquerung der Straßenkreuzung nicht zu einhundert Prozent glaubwürdig ist (lacht).
Wie arbeiten Sie?
Im Unterschied zu Autoren, die ich ‚Architekten‘ nenne, gehöre ich zu der Gruppe der ‚Gärtner‘. Die Architekten machen einen strukturierten Plan, halten alles in einem Notizblock fest. Sie kennen ihre Bücher im Voraus, bevor sie beginnen zu schreiben. Ich habe nicht einmal ein Notizblock. Bevor ich anfange zu schreiben, kenne ich nur das Ende. Den Weg, der mich dorthin führt, kenne ich nicht. Sicherlich sehe ich ein bisschen, was vor mir liegt, aber nicht mehr als ein oder zwei Kapitel. Das Ende ist das Korn, das ich vor dem Schreiben gepflanzt habe. Die Ideen für die Charaktere, für die Handlung, all das kommt später. Mir genügen zwei oder drei Adjektive, um eine Figur und ihre Handlungen zu entwickeln. Wie ein Gärtner gieße ich diese Ideen, damit sie wachsen und sich in meinem Kopf entwickeln können. Um schließlich die richtigen Worte zu finden, muss ich spazieren gehen. Vielleicht ist diese Technik nicht sehr durchdacht, aber für mich funktioniert sie sehr gut.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor?
Wenn ich schreibe, arbeite ich mich Stück für Stück, vom Beginn zum Ende vor. Anschließend überarbeite ich den Text.
Wenn ich Sie richtig verstehe, wussten Sie zu Beginn nicht, dass Frère von zwei ungleichen Brüdern handeln würde, oder?
Genau. Mein Ausgangspunkt war das Thema der Brennpunktviertel, weil ich in einem solchen arbeite. Die Idee, die Handlung um zwei Jugendliche zu zentrieren, die Eddy und Diego heißen, ist mir erst viel später gekommen, nachdem ich mir das Ende ausgedacht habe.
Hat Ihre Arbeit als Grundschullehrer Ihren Roman beeinflusst?
Ich denke, dass mir mein Beruf geholfen hat, mir eine bestimmte Art von Jugendlichkeit zu bewahren. Damit meine ich, die Welt aus den Augen von Jugendlichen zu sehen. Als Lehrer treffe ich viele Familien. Viele meiner Schüler kennen ihre Väter nicht. Darüber habe ich nachgedacht. Eddy und Diego haben in meinem Roman keinen Vater mehr, weil dieser die Familie verlassen hat.
Beide Brüder fungieren als Erzähler. Warum haben Sie sich dazu entschieden, die Geschichte aus der Perspektive von Eddy und Diego erzählen zu lassen?
Ich schreibe viel in der ersten Person Singular. Ich wollte nicht, dass ein Bruder mehr Raum erhält als der andere. Für mich sind beide Standpunkte, beide Perspektiven gleich wichtig. Das ist übrigens eine häufig erprobte Strategie in der Kinder- und Jugendliteratur. Dieses Genre heißt chorischer Roman (roman choral). Das mag ich.
Was mir sehr gefallen hat, waren die verschiedenen Register der Erzähler.
Ich wollte, dass Diego anders als Eddy spricht. Es sind zwei unterschiedliche Jungs. Sie haben einen unterschiedlichen Alltag, besuchen unterschiedliche Schulen, haben jeweils andere Horizonte undTräume. Sie haben nicht viel gemeinsam, aber sie nähern sich an, weil sie Brüder sind. Mir gefallen Geschichten, die gut ausgehen.
Warum sind Ihre Helden Jungen?
Für mich ist es einfacher, mich in einen Jungen als in ein Mädchen hineinzuversetzen. Ich hatte Angst, dass es zu künstlich wirken könnte, wenn ich aus der Perspektive einer Jugendlichen schreibe.
Als ich Ihren Roman gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass Sie mehr mit Eddy sympathisieren. Ist er Ihr Lieblingsbruder?
Ja, ich denke schon, dass er die interessantere Figur ist. Seine Kapitel zu schreiben, hat mir am meisten Spaß gemacht. Ich war niemals ein Eddy, ich bin eher ein Diego. Mit Eddy habe ich das Gegenteil von mir entworfen (lacht). Wenn ich mit Schülern spreche, sagen sie übrigens auch, dass sie sich mehr mit ihm als mit Diego identifizieren.
Frère ist ein Roman der Annäherung zwischen zwei Brüdern, die sich voneinander entfernt haben. Eine Szene, die mir im Kopf geblieben ist, ist Diegos Tanz vor seinem Bruder, nachdem er das Vortanzen verpasst hat. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese Szene zu kreieren?
Ich habe mich von dem englischen Film Billy Elliot (2000) inspirieren lassen. Der junge Billy lebt mit seinem Vater, seinem Bruder und seiner Oma zusammen. Die Mutter ist leider gestorben. Der Vater will, dasss ein Kind boxt, aber Billy ist zu einhundert Prozent Tänzer. Als der Vater das erfahrt, hilft er seinem Sohn, seinen Traum zu verwirklichen, Profitänzer zu werden. In dem Film gibt es eine Szene, in der er in einer leeren Turnhalle vor seinem Vater tanzt. Mich hat diese Szene beeindruckt. Deshalb habe ich mich davon inspirieren lassen.
Was kritisieren Ihre Leser an Ihrem Roman?
Ein Kind, das aus ähnlichen Vierteln kommt wie Eddy und Diego, hat mir gesagt, dass diese französischen Vornamen unglaubwürdig seien. Das bestätigte auch die Lehrerin. Ich würde also sagen, dass ich das Thema der Migration nicht ausreichend berücksichtigt habe, wenn ich von Adelisa einmal absehe. Ihre Familie ist aus Bosnien nach Frankreich immigriert. Ihr Vater meldet sie in einer Fechtschule an, weil das ein sehr französischer Sport ist. Er integriert sich, seine Tochter auch. Außerdem ist mir aufgefallen, dass ich die Religion nicht erwähnt habe. Sie spielt in diesen Vierteln eine wichtige Rolle. Das ist natürlich eine delikate Angelegenheit. Da ich mich da nicht gut genug auskenne, habe ich sie außenvorgelassen.
Sie sagten, dass Sie auch Theater gespielt haben. Gibt es theatrale Dimensionen in Ihrem Roman?
Als Jugendlicher habe ich Improvisationstheater gemacht. Comedians, die in wenigen Minuten sehr gut konstruierte Geschichten erfinden konnten, fand ich beeindruckend. Sie haben mir viel über die Kunst beigebracht, Geschichten zu stricken und Dialoge zu verfassen. Wenn ich schreibe, sehe ich Filmszenen. Ich will, dass meine Bücher lebendig sind, wie im Film. Meine Leser fragen mich auch häufiger, ob Frère verfilmt werden wird. Bis jetzt habe ich noch keine Angebote (lacht).
Können Sie uns schon etwas über Ihren nächsten Roman verraten?
Ich kann sagen, dass ich gerade mein nächstes Buch beende. Ich schreibe über zwei Jugendliche, die ihr Abitur gemacht haben. Sie wollen den Sommer mit Nichtstun verbringen. Sie treffen ein Mädchen, in das sie sich beide verlieben. Um mit ihr Zeit zu verbringen, machen sie die verrücktesten Dinge. Zum Beispiel werden sie in einem Ferienlager Animateure. Sie lesen außerdem Senioren im Seniorenheim Bücher vor, nur um bei dem Mädchen zu sein.
Wird es wieder zwei Erzähler geben?
Nein, nur einen, aber zwei Zeitebenen. Von Beginn an weiß man, dass die junge Frau den Erzähler schon vor zehn Jahren getroffen hat. Im Verlauf werden die Erinnerungen des Erzählers immer wichtiger. Mehr sag’ ich nicht.
Vielen Dank, Herr Tévélis.
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
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