"Ich zeige die Größe der kleinen Dinge, die Würde von dem, was gemeinhin als unwürdig gilt."

Der Schriftsteller Nicolas Mathieu spricht mit uns über sein Schreiben, die Literatur und soziale Ungleichheiten

Veröffentlicht am
26.10.2023

Gregor Schuhen

RPTU in Landau

Lars Henk

RPTU in Landau

Lea Sauer

RPTU in Landau
Hier klicken um den Beitrag runterzuladen

Nur eine Woche, bevor im November 2018 die ersten Gilets Jaunes-Proteste losbrachen, wurde der damals 40-jährige Schriftsteller Nicolas Mathieu für seinen erst zweiten Roman Leurs enfants après eux (dt. Wie später ihre Kinder) mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet. Diese Koinzidenz der Ereignisse ist insofern bemerkenswert, als Mathieu in seinem Roman eben jenes Milieu unter die Lupe nimmt, aus dem ein Großteil der Protestierenden hervorging, nämlich das der Abgehängten aus den Randgebieten Frankreichs. Mathieu, der selbst aus Lothringen stammt und dort immer noch lebt, darf als Chronist dieser France périphérique bezeichnet werden, denn auch die Nachfolgeromane – Rose Royal (2019) und Connemara (2022) – erzählen vom Leben, Lieben und Leiden in der ostfranzösischen Provinz, die noch zur Wirtschaftswunderzeit als robustes Herzstück der Stahlindustrie galt.

Wir haben uns mit Nicolas Mathieu getroffen, um mit ihm über seine Werke, über den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel und über Pierre Bourdieu zu sprechen.

Guten Tag Nicolas, Sie waren im März in Deutschland, um Ihren neuen Roman Connemara (2022) vorzustellen. Was sind Ihre Eindrücke vom deutschen Lesepublikum?

Ich komme immer gerne nach Deutschland, weil man hier so gut aufgenommen wird. Meinem Eindruck nach gibt es hier eine super Leserschaft, ein sehr neugieriges, interessiertes und respektvolles Publikum, das gerne für seinen Platz in den Zuschauerrängen bezahlt. Das macht einen Unterschied beim Zuhören. Auch das Netzwerk der Literaturhäuser ist ziemlich einzigartig. Zudem findet man hier oft eine sehr gute Presse und ein hohes Niveau der Kritiken im Vergleich zu anderen Ländern.

Nicolas Mathieu im Zoom-Gespräch

Haben Sie in Bezug auf die Rezeption Ihrer Romane Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland festgestellt?

Ich muss gestehen, dass ich zu wenig mit dem deutschen Lesepublikum gesprochen habe, um diese Frage beantworten zu können. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die deutschen Leser viel weniger an Connemara interessiert sind als an Leurs enfants après eux (2018; dt. Wie später ihre Kinder, 2019). Vielleicht hat es etwas mit dem Prix Goncourt zu tun.

Warum schreiben Sie Romane?

Zu Beginn war es nicht wirklich ein freiwilliges Unterfangen, es war auch keine ideologische Entscheidung. Es ist das Einzige, was ich kann. Ich weiß, was ich gut kann und das ist Romane schreiben. Dabei geht es mir darum, ein Stück von der Welt wiederzugeben, so wie sie mir erscheint, in all ihren Details. Erst im Anschluss kommen politische Fragen dazu. Und da wiederum hatten Form und Stil des roman noir großen Einfluss auf mich, weil gerade der roman noir sehr politisch ist – ob nun bei den Amerikanern oder den Vertretern des néo-polar. Selbst heute überzieht er die Realität mit einer gewissen Düsternis. In dieser Hinsicht ist er also Teil der realistischen Literatur.

„Hélène, c’est moi!“

In unserem Freundeskreis sind insbesondere diejenigen mittleren Alters noch begeisterter von Connemara als von Leurs enfants après eux. Wir persönlich haben selten ein so subtiles, empathisches Frauenporträt gelesen wie das von Hélène in Connemara.

Vielen Dank, ich habe in Frankreich eine Menge Nachrichten erhalten, die in eine ähnliche Richtung gehen. Frauen in Frankreich schreiben mir: „Hélène, c’est moi!“ (dt. Hélène, das bin ich!).

„Hélène, c’est moi!“ – der große französische Schriftsteller Gustave Flaubert soll ja auf die gleiche Weise beim Schreiben von Madame Bovary (1856) gesagt haben: „Madame Bovary, c’est moi!“. Was halten Sie von Flaubert?

Madame Bovary habe ich tatsächlich schon mehrmals gelesen. Und immer wieder auf unterschiedliche Weise. Als Teenager habe ich es mit einer fast schon bleiernen Ernsthaftigkeit gelesen, dann als ich es mit dreißig noch einmal zur Hand genommen habe, habe ich mich in meinem Bett kaputtgelacht. Bei Madame Bovary handelt es sich wirklich um eine Lektüre, die mit zunehmender Lebenserfahrung immer reichhaltiger wird.

Gibt es zwischen Connemara und den Büchern Flauberts stilistische Ähnlichkeiten?

Ja, da gibt es beispielsweise eine gewisse Ironie, die über allem schwebt. Das ist durch und durch Flaubert. Ironie ist eine Waffe der Analyse, aber auch eine Möglichkeit, sich zu rächen. Flaubert hat das in einem Brief an George Sand geschrieben: Beschreiben, das ist schon sich rächen. Meine Beschreibung der Consulting-Büros, von diesem Manager-Bullshit, das ist auf jeden Fall eine Art Rache für das, was mir in meinem Leben als Angestellter angetan worden ist.

Und in Bezug auf Ihren ersten Roman Aux animaux la guerre? Ist dies auch ein roman flaubertien?

Es gibt Übereinstimmungen. Zum Beispiel endet die Geschichte damit, dass Arbeitsmedaillen verliehen werden. Diese Verleihung von Arbeitsmedaillen während der Schließung einer Fabrik ist, wie Sie sich sicherlich denken können, eine Hommage an die Comices agricoles von Flaubert. Zum anderen schreibe ich dort von einem halben Jahrhundert Lohnarbeit, ganz ähnlich wie Flaubert von einem halben Jahrhundert Knechtschaft eines Dienstmädchens schrieb.

Mit Ausnahme von Aux animaux la guerre sind bereits alle Ihre Bücher ins Deutsche übersetzt worden. Ist eine deutsche Übersetzung von Aux animaux geplant?

Ich weiß, dass die Rechte bereits verkauft sind und also Interesse an einer Übersetzung besteht. Aber mir wurde gesagt, dass man noch auf ein passendes Zeitfenster wartet. Man will Connemara erst noch ein bisschen Zeit lassen, bevor man die Übersetzung von Aux animaux la guerre veröffentlicht.

War es Ihre Entscheidung, den Titel Connemara beizubehalten? Die Frage kommt auf, weil das Lied „Connemara“ in Deutschland weitaus weniger bekannt ist als in Frankreich.

Nein, das war nicht meine Entscheidung. Es hat mich sogar etwas überrascht, um ehrlich zu sein, weil der Titel gegebenenfalls sogar missverständlich sein könnte oder die Leser auf eine falsche Fährte lockt. Die Handlung spielt sich ja nicht in Irland ab. Der Titel ist wirklich ein sehr frankreichspezifisches Sprachspiel. Ich hätte es also sehr gut verstanden, wenn in Deutschland, so wie in Italien (La canzone popolare, Anm. d. Red.), ein anderer Titel gewählt worden wäre.

Beim Lesen erhält man den Eindruck, dass Connemara die Fortsetzung von Leurs enfants après eux ist. Würden Sie dem zustimmen?

Ja, aber ich muss gestehen, dass dies passiert ist, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Es gibt diese balzac’sche Idee, Figuren von Roman zu Roman immer wieder auftauchen zu lassen, um so eine gigantische Comédie humaine zu erschaffen. Roland Barthes sagte einmal, dass Balzacs Figuren von Roman zu Roman springen. Ich habe festgestellt, dass auch ich so verfahre und meine Figuren in neuen Romanen auftauchen, aber immer auf andere Weise. Es handelt sich also um eine abgewandelte Form des Wiederauftauchens. So gesehen lässt sich sagen, dass meine Bücher immer Fortsetzungen ihrer Vorgänger sind.  

Und inwiefern ist Connemara eine Fortsetzung von Rose Royal?

In Connemara kehre ich auf gewisse Art wieder zu meinen weiblichen Figuren zurück, die sich emanzipieren wollen, aber dabei auf soziale und wirtschaftliche Hürden stoßen. In Rose Royal kommt mein Wunsch, dies zu thematisieren, bereits zum Ausdruck.

Ist Rose Royal also eine Art Zwischenspiel, weil dieses Buch sich auf gewisse Weise von Ihren anderen Romanen unterscheidet?

Nein, der Roman ist kein Zwischenspiel, weil er bereits im Sommer 2018 geschrieben wurde, das heißt, vor dem Erscheinen von Leurs enfants après eux, das ich damals ebenfalls schon abgeschlossen hatte. Rose Royal war eine Auftragsarbeit, sozusagen eine ‚novella noire‘, die die Merkmale des roman noir in die kurze Form überträgt.

Das Leben lässt sich nicht als lineare, kohärente Geschichte erzählen.

Da wir uns in unserem Projekt mit den Erben Bourdieus in der französischen Gegenwartsliteratur auseinandersetzen, interessiert uns natürlich, ob seine soziologischen Theorien auch in Ihren Romanen Spuren hinterlassen haben.

Natürlich. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nur sehr wenig von Bourdieu gelesen habe. Zudem war meine erste Begegnung mit Bourdieu an der Uni relativ abschreckend. Ich weiß auch nicht recht, warum, aber im Rahmen eines Soziologiemoduls während meines Geschichtsstudiums war ich ganz und gar nicht begeistert von Bourdieu.

Wie ging es dann weiter?

Ich habe einen neuen Versuch gestartet, nachdem ich Annie Ernaux und später auch Didier Eribon gelesen hatte. Bereits für meine Abschlussarbeit über den Filmemacher Terrence Malick hatte mein Betreuer, ein Soziologe, mir Artikel zum Lesen empfohlen, die in Actes de la recherche en sciences sociales (soziologische Fachzeitschrift, die 1975 von Bourdieu ins Leben gerufen wurde, Anm. d. Red.) erschienen sind. Unter anderem Bourdieus L’illusion biographique (1986) hat mich tief beeindruckt und bleibt bis heute ein Ankerpunkt in Bezug auf die Art und Weise, wie ich meine Geschichten konstruiere. Denn dort schreibt Bourdieu, dass man für gewöhnlich versucht, aus Biographien eine Bedeutung abzuleiten, während es sich in Wahrheit immer um Geschichten voller Lärm und Wut handelt. Das Leben lässt sich nicht als lineare, kohärente Geschichte erzählen. Wenn ich eine Geschichte schreibe, versuche ich deshalb nicht zu sehr, sie auf eine bestimmte Bedeutung zu reduzieren, sondern benutze offene Enden und Lücken. Ich beschreibe vielmehr das Zufällige, das Chaos. Ich biete dem Leser keine Informationen, die ihn mit einem sicheren Sinn zurücklassen. Das habe ich von Bourdieu.

In Ihren Romanen skizzieren Sie verschiedene Geschmäcker und Lebensstile. Haben Sie La Distinction (1979, dt. Die feinen Unterschiede, 1987) von Bourdieu gelesen?

Nicht komplett, aber ich habe genug gelesen, um zu verstehen, wie wichtig der Geschmack ist und wie unsere kulturellen Vorlieben von der Klassenposition abhängen. Das, was er schreibt, hat mich selbst auch freier im Umgang mit meinem eigenen sozialen Milieu und meinem Geschmack gemacht. Wenn ich jetzt, kurz nachdem ich den Prix Goncourt gewonnen habe, ein Lied von Michel Sardou auf das Cover meines Romans setze, dann auch, um zu sagen, dass ich mich nicht für meinen Geschmack schäme und man sich zum Geschmack der classes populaires bekennen sollte. Und das auch, weil es eine Art Beschämung derjenigen Kultur ist, die als legitim angesehen wird, so wie es diese als legitim angesehene Kultur auch mit uns macht.

Musik scheint eine große Rolle in Ihren Romanen zu spielen. Warum?

Es gibt verschiedene Funktionen, die Musik in meinen Büchern einnimmt. Zunächst einmal gibt es einen Proust’schen Madeleine-Effekt, denn ruft man den Menschen einen ihnen altbekannten Song ins Gedächtnis, belebt dies schubhaft eine ganze Epoche emotional wieder. Ich glaube zudem, dass das Hören von Sardou, Bach oder Mozart große Gefühle hervorrufen kann. Damit meine ich nicht, dass E-Musik und Popmusik das Gleiche sind, aber das, was sie in uns entstehen lassen, ist von ein und derselben Größenordnung. Musik ist also für mich ein kleines politisches Projekt, das ich in all meinen Büchern verfolge. Ich zeige die Größe der kleinen Dinge, die Würde von dem, was gemeinhin als unwürdig gilt. Diesen Gedanken findet man, nebenbei bemerkt, nicht nur bei Bourdieu, sondern auch bei Springsteen oder John Ford.

Die Theorie ist nie mein Ausgangspunkt, ich muss vom Leben ausgehen.

Leurs enfants après eux erzählt von den Problemen der sozialen Reproduktion durch das Bildungssystem. Diese Idee basiert auch auf Bourdieus Theorien, richtig?

Genau, die gesamte Beschreibung des französischen Schulbetriebs ist in meinem Buch sehr bourdieusianisch. Aber seine Bücher wie etwa Les héritiers (1964, dt. Die Erben, zsm. m. Jean-Claude Passeron, 2007) oder La noblesse d’État (1989, dt. Der Staatsadel 2004) habe ich nicht gelesen. Mir ist bewusst geworden, dass ich Bourdieu folge, ohne es immer zu wissen. Vielleicht ist dies aber auch der Einfluss von anderen Romanen, die ich gelesen habe.

Das Scheitern der Liebe zwischen Stéphanie und Anthony, den beiden jugendlichen Protagonisten in Leurs enfants après eux, ist ebenfalls sehr bourdieusianisch. Eine gemeinsame Zukunft der beiden ist von Anfang an sehr unwahrscheinlich, weil sie aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen. Die körperliche Annäherung, soviel wird deutlich, bedeutet nicht immer gleich eine soziale Annäherung. Können Sie uns mehr darüber verraten?

In diesem Punkt baue ich nicht auf Bourdieu auf und ich erkläre Ihnen auch, warum. Von einer wissenschaftlichen Theorie oder Analyse ausgehend Figuren zu erschaffen, bedeutet immer eine Totgeburt. Das kann nicht funktionieren. Daraus würden Thesenromane entstehen. Aber das hindert uns nicht daran, Analogien zwischen der Geschichte von Steph und Anthony und dem zu finden, was uns die Sozialwissenschaften über die Klassenverhältnisse, die Körper oder den Habitus verraten. Man kann in einer Geschichte sogar Verallgemeinerungen anstellen, die den Erkenntnissen der Sozialwissenschaften nahekommen. Aber die Theorie ist nie mein Ausgangspunkt, ich muss vom Leben ausgehen.

Und während des Schreibens? Denken Sie da manchmal an soziologische Theorien?

Nein. Und ich denke auch nicht an Bourdieu. Ich konzentriere mich auf das, was ich über das Leben weiß. Das ist es, was ich versuche, wiederzugeben, und der Blick, den ich darauf werfe, ist an der ein oder anderen Stelle geschärft. Natürlich ist mein Blick auch durch das beeinflusst, was ich an sozialwissenschaftlichen Studien lesen konnte. Ohne es zu wissen, wie ich bereits gesagt habe, nutze ich Bourdieu in meinen Romanen.

Und das erlaubt es Ihnen dann, die Mechanismen und Regeln des sozialen Lebens aufzudecken?

Das stimmt, weil es in der Literatur immer diese Kraft des Aufdeckens gibt. Sie hat die Macht, das, was hinter den Funktionsweisen der sozialen Welt steckt, zu demaskieren. Aber das findet sich nicht nur bei Bourdieu, sondern auch bei anderen großen Autoren wie beispielsweise Proust oder Flaubert – und das zu einer Zeit, als es die Soziologie noch gar nicht gab. In der Literatur ist alles bereits vorhanden. Im Übrigen leitet Bourdieu sein Buch Les Règles de l’art (1992, dt. Die Regeln der Kunst 1999) mit einer Analyse dessen ein, was Flaubert über die soziale Welt beziehungsweise seine Zeit geschrieben hat. Und zwar mittels seines eigenen Denkens und der Ästhetik zu einem Zeitpunkt, als die Soziologie sich als Fachdisziplin noch gar nicht konstituiert hatte.

Sie haben eben Balzac und Flaubert angesprochen, das heißt, Schriftsteller, die im weitesten Sinne zum Realismus gezählt werden. Gibt es in Ihrem Schreiben auch Spuren von Émile Zola, der die moderne Klassengesellschaft ebenfalls protosoziologisch beschrieben hat und dessen soziales Engagement, etwa für prekäre Arbeiter oder im Rahmen der Dreyfus-Affäre, bekannt ist?

Nein, gar nicht. Als Franzose werde ich immer in seine Nachfolge gestellt und ich könnte natürlich so tun, als würde ich dies für mich beanspruchen. Aber es stimmt nicht ganz, denn ich wurde viel mehr von der amerikanischen Literatur, also Steinbeck oder dem roman noir, beeinflusst.

Meine Romane sind in dem Sinne politisch, als sie die Frage, wie wir zusammenleben können, ins Zentrum stellen.

Würden Sie sich demnach auch nicht der engagierten Literatur zuordnen?

Nein, ich ordne mich der Tradition der politischen Literatur zu und diese unterscheidet sich in einigen Punkten von der engagierten Literatur. Der Unterschied, den ich zwischen beiden ziehe, besteht mindestens auf zwei Ebenen. Erstens ist die engagierte Literatur aufgeladen mit einer bestimmten Historie. Zola beispielsweise, aber auch Sartre oder Sollers. Betrachtet man nun Sartre und Sollers, sind dies Menschen, die sich über Jahrzehnte hinweg in wichtigen Punkten stark geirrt haben. Sollers, wie er selbst sagte, etwa in Bezug auf den Maoismus und den Stalinismus. Mit diesem Erbe habe ich ganz offensichtlich ein Problem. Zweitens scheint mir ein engagierter Roman, wie etwa Aragon ihn geschrieben hat, mit seinem sozialistischen Realismus zu einer Realitätsverzerrung zu führen und zwar in dem Sinne, dass man die Welt nur von einem Standpunkt aus betrachtet. Bei den Genannten findet man so etwas wie einen demonstrativen Willen, während ich versuche, eine Vielfalt von Standpunkten aufzufächern. Im Übrigen werden meine Bücher von rechten wie von linken Menschen gleichermaßen gemocht. Man fühlt sich nicht auf jeder Seite beleidigt. Das ist Teil meines Anspruchs, die Welt so wiederzugeben, wie sie ist, und mich nicht so sehr auf ein ideologisches Postulat einzulassen.

Was bedeutet politische Literatur dann genau für Sie?

Meine Romane sind in dem Sinne politisch, als sie die Frage, wie wir zusammenleben können – sei es nun in einer Paarbeziehung, in der Stadt, in einem Land, in Bezug auf die Arbeitsbedingungen oder auch hinsichtlich von Unterdrückung und Macht – ins Zentrum stellen. Diese Frage interessiert mich auf der Mikro- und Makroebene, das bedeutet, das mich das, was in einem Hotelzimmer passiert, wenn man Sex hat, oder wie die Wahlen 2017 ablaufen, gleichermaßen beschäftigt. Meine Bücher sind politisch. Ich propagiere keine alternative Welt in meinen Romanen. In diesem Sinne sind sie wiederum nicht engagiert. Ich nehme demnach eine beschreibende und politisch kritische Haltung ein.

Vor einiger Zeit haben Sie persönliches Engagement gezeigt, indem Sie einen Artikel für Libération über die Demonstrationen gegen das neue Rentengesetz geschrieben haben.

Bis vor Kurzem habe ich es vermieden, mich in politische Debatten einzumischen. Ich gebe zu, dass der Text über die Rentenreform allerdings ein engagierter Text ist. Ich versuche dennoch, Abstand von solcherlei Debatten zu halten.

Im genannten Artikel nutzen Sie nirgends den Namen Ihres Präsidenten so als wäre er Voldemort aus dem Harry-Potter-Universum.

(lacht) Ich wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass es mir um persönliche Animositäten geht. Mir ist es komplett egal, ob es nun er oder jemand anderes ist. Wenn ich aber anfange „Macron“ zu sagen, entsteht der Eindruck, dass sich alle Probleme in Luft auflösen werden, wenn man ihn durch jemand anderen ersetzt. Ich bin mir allerdings sicher, dass er sich durch mindestens zehn andere Typen derselben Sorte ersetzen ließe. Es ist eine Frage des Systems, der Ideologie und der politischen Funktionsweise.

Geoffroy de Lagasnerie fordert in L’art impossible (2020, dt. Die unmögliche Kunst, 2022), dass Literatur immer engagiert sein sollte. Was halten Sie davon?

Ich denke vor allem, dass es nicht zur Pflicht gemacht werden sollte. Ich denke nicht, dass man sich engagieren muss. Man kann es tun, aber das ist mitnichten dasselbe. Öffentliches Engagement bedeutet wortwörtlich Macht und ist eine Möglichkeit, die im sozialen Feld und dem öffentlichen Raum auch wiederbelebt werden kann. Es gibt beispielsweise Leute, die sich darüber beschweren, dass sich die Kulturwelt im Fall der Rentenreform nicht genug engagiert hat. Mich hingegen schockiert das nicht sonderlich. Jeder macht eben das, was er will. Doch bin ich nicht der Meinung, dass eine soziale Bewegung geradezu darauf wartet, dass sich die Künstler einschalten, um ihr Gehör zu verschaffen. Zudem besteht bei diesem Ansatz immer das Risiko, dass man Dinge tut, die schlecht altern, weil es immer auch etwas einseitig ist.

Édouard Louis, Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie bilden einen autopoetischen Kreis. Gibt es generell ein Netzwerk unter den Autoren in Frankreich?

Ja, sie haben sich zu dritt einen solchen Kreis geschaffen. Ich gebe zu, dass ich nicht gerade versessen darauf bin, Teil von etwas zu sein, weder von der Literaturwelt, noch von den Universitäten, noch von sozialen Bewegungen. Meiner Meinung nach läuft man damit Gefahr, sich vom Leben der Menschen zu entfernen. Ich versuche also, mich immer ein bisschen am Rande zu bewegen. Ich sehe mich nicht als Teil einer Gruppierung oder einer Generation.

Fühlen Sie sich denn trotzdem einigen Autoren verbunden?

Kürzlich habe ich einen Artikel bei Médiapart veröffentlicht, an dem sich unser Finanzminister aufgerieben hatte. Danach hat sich Annie Ernaux positiv über meinen Text geäußert und wir haben ein paarmal hin- und hergeschrieben. Es hat mich gefreut, von einer Nobelpreisträgerin Unterstützung zu erfahren und gleichzeitig von einem Finanzminister verrissen zu werden. Diese Position gefiel mir. Kurz gesagt, es gibt Sympathien sowie politische und ästhetische Allianzen.

Die Idee des „Klassenüberläufers“ gefällt mir, weil sie mit dem übereinstimmt, was ich selbst erlebt habe.

Vor einigen Monaten haben Sie dem Philosophie Magazin im Rahmen eines Dossiers über die „transclasses“ ein Interview gegeben. Das Konzept des „Klassenüberläufers“, wie Bourdieu dieses Phänomen des Klassenaufstiegs nannte, oder das von Chantal Jaquet eingeführte Modell der „transclasses“ scheint en vogue zu sein. Was halten Sie davon?

Die Idee des „Klassenüberläufers“ gefällt mir, weil sie mit dem übereinstimmt, was ich selbst erlebt habe. Ich habe die Flucht ergriffen, ich wollte Verrat an meiner Herkunft begehen, wollte keine Ähnlichkeiten mehr zu der Welt aufweisen, aus der ich stamme. Ich habe mich geschämt. Ich wollte es besser machen, mehr erreichen. Als ich als 20-Jähriger Annie Ernaux gelesen habe, sah ich diesen Begriff zum ersten Mal und er umschrieb genau meine Sehnsüchte. Aus diesem Grund gefällt mir das Wort „Klassenüberläufer“.

Stellt Sie der Begriff „Klassenüberläufer“ auch vor Probleme?

Das Problem ist, dass er heute manches Mal als Alibi dient. Unter den Mythen der Französischen Republik gibt es diejenigen des persönlichen Verdiensts sowie des sozialen Fortschritts, die „Klassenüberläufer“ stehen in diesem Kontext. Es sind nahezu mythologische Figuren. Ich habe den Eindruck, dass diese Figuren dazu dienen, die Idee aufrechtzuerhalten, dass man es schaffen kann, wenn man denn nur will. Dass der Erfolg möglich ist. Die Menschen glauben, dass die Meritokratie funktioniert.

Haben Sie aus diesem Grund in besagtem Interview davon gesprochen, dass die „transclasses“ die „Superhelden à la française“ sind?

Superhelden verkörpern auf eine vereinfachte Weise den amerikanischen Traum. Der „Klassenüberläufer“ verkörpert nur die französischen Mythen der Dritten Republik.

Trägt die Literatur dazu bei, dass der Mythos der Meritokratie aufrechterhalten wird, den ja auch der „self-made man“ verkörpert?

Das ist interessant, weil die erste Frage am Tag nach der Verleihung des Prix Goncourt an mich im Radio war: „In Ihrem Buch sprechen Sie von der sozialen Reproduktion, aber Sie sind doch gerade der lebende Beweis dafür, dass diese nicht immer zwingend eintrifft.“ Und ich habe geantwortet: „Nein, die Ausnahme bestätigt die Regel. Und vor allem möchte ich nicht derjenige Baum sein, der dafür verantwortlich ist, dass man irgendwann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.“

Es war wirklich ein bemerkenswerter Zufall, dass sie genau eine Woche vor den ersten Gilets jaunes-Protesten mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurden. Waren Sie von dieser sozialen Bewegung überrascht?

Bereits in Leurs enfants après eux oder auch schon in Aux animaux la guerre beschreibe ich die Wut der mittleren und abgehängten Klassen gegen die Eliten. Habe ich mit dem Ausmaß gerechnet, die diese Bewegung annehmen würde? Nein, ich habe keineswegs ahnen können, dass es überall in Frankreich Demonstrationen geben würde. Auch wenn die Protestformen später komplizierte und problematische Ausmaße angenommen haben, auch wenn es Ausschreitungen gab, fand ich das absolut genial. Die Gilets jaunes waren in meinen Augen ein regelrechtes Aufblühen.  

Es war eine andere Form von Protest wie diejenige gegen die Rentenreform, nicht wahr?

Absolut. Zunächst einmal sind es nicht dieselben Leute. Die Organisation der Gilets jaunes verlief sehr spontan, schlichtweg anti-hierarchisch. Niemand hätte das je anführen oder gar einheitliche Vorstellungen oder Werte formulieren können, die für ein einheitliches Projekt nötig gewesen wären. Das war wirklich die Entstehung von Politik in Reinform.

Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen literarischen Projekt?

Ich arbeite gerade an einer Serienadaption eines kürzeren Textes von mir mit dem Titel La retraite du juge Wagner, eine Novelle die als Taschenbuchausgabe zusammen mit Rose Royal erschienen ist. Es ist schön, mit jemandem zusammenzuarbeiten und so zur Abwechslung einmal aus meiner Höhle herauszukommen. Mein Hauptaugenmerk liegt allerdings nach wie vor auf dem Schreiben von Romanen.

Wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch, Nicolas Mathieu!

Weitere interessante Essais:

"Glotzt nicht so romantisch!"

Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.

Moritz Heß

Zum Beitrag
Im Zeichen des Raben

Mylène Farmer füllt an drei Abenden das Stade de France

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
Zum Beitrag
Le jardinier en littérature

Jean Tévélis im Gespräch über seinen Kinder- und Jugendroman 'Frère' (2021)

Lars Henk

RPTU in Landau
Zum Beitrag