14 Monate Verspätung – das schafft nicht mal die Deutsche Bahn. Sehr wohl aber Mylène Farmer, die mit rund 33 Millionen verkauften Alben kommerziell erfolgreichste Sängerin Frankreichs. Im Sommer letzten Jahres sollten drei ausverkaufte Konzerte im Pariser Stade de France den furiosen Abschluss ihrer Nevermore-Tour bilden. Dazwischen kam jedoch die brutale Zeitgeschichte. Drei Tage vor dem ersten Abend in Saint-Denis brachen in der Pariser Banlieue erneut gewaltvolle Unruhen aus, nachdem der 17-jährige Nahel Merzouk im Zuge einer Verfolgungsjagd von Polizisten erschossen worden war. Es sah eine kurze Zeit so aus, als wiederholten sich die traumatischen Ereignisse aus dem Jahr 2005, als ein ähnlicher Fall von Polizeigewalt zu den bislang verheerendsten Ausschreitungen dieser Art geführt hatte. So kam es, dass am Mittag des 30. Juni 2023 sämtliche Inhaber von Konzertkarten via E-Mail darüber informiert wurden, dass alle drei Konzerte von Mylène Farmer aus (nachvollziehbaren) Sicherheitsgründen abgesagt wurden – das erste hätte am selben Abend stattfinden sollen.
Die Nachricht erreichte mich in einem Straßencafé auf der Butte aux Cailles, und ich war ehrlich gesagt sogar erleichtert, da mir die brenzlige Lage im Pariser Norden natürlich nicht entgangen war. Le Monde berichtete ohne Unterbrechung im Liveticker. Ein paar Tage später kam dann eine erneute Mail der Konzertagentur mit neuen Terminen für die drei abgesagten Konzerte: 27. und 28. September sowie 1. Oktober 2024. Also bin ich Ende September erneut nach Paris gefahren, um zum ersten Mal die französische Ikone live zu erleben. Nach Deutschland kommt Mylène Farmer natürlich nie, weil sie diesseits des Rheins kaum jemand kennt. Die Karriere der inzwischen 63-jährigen begann in Frankreich Mitte der 1980er Jahre mit dem Album Cendres de lune und Hits wie Libertine und Tristana. Es sollte das letzte Album bleiben, das es nicht an die Spitze der französischen Charts schaffte. Ihre Markenzeichen sind von Anfang an der feuerrote Haarschopf, eine häufig androgyn anmutende Erotik und eine unverwechselbare Sopranstimme, die von Fans als sphärisch-elfenhaft verklärt und vielen anderen als piepsig-gehaucht geschmäht wird. Einer ihrer größten Erfolge, die Hymne Désenchantée, leitete in Frankreich die 90er Jahre ein und gilt heute immer noch als ihr signature song: Eine eingängig-melancholische Melodie, die sich über gut tanzbare Beats legt. Dieses Erfolgsrezept wird auf späteren Alben immer wieder variiert – ihr Sound ist zugleich unverkennbar wie vorhersehbar. Internationales Flair bekommt ihr Werk ab den 2000er Jahren durch zahlreiche Kollaborationen mit erfolgreichen Künstlern wie Sting, Seal oder Moby. In Frankreich rangiert ihre Popularität irgendwo zwischen Edith Piaf und Madonna, insbesondere in der Schwulenszene gilt sie als die größte noch lebende Ikone der Grande Nation. So war man im Sommer dieses Jahres durchaus überrascht, als während der fulminanten Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele die Stimmen von Lady Gaga, Céline Dion und Aya Nakamura zu hören waren, aber von Mylène Farmer nicht ein Ton. Vermutlich war jedoch für dieses Versäumnis gar nicht das Organisationsteam der Feierlichkeiten verantwortlich, sondern die allgemein bekannte Zurückgezogenheit von Mylène Farmer. Sie gibt durchschnittlich ein Interview pro Jahrzehnt und hält ihr Privatleben ansonsten komplett von der Öffentlichkeit fern. Die einzige Möglichkeit für die Fans, ihrem Idol nahe zu sein, sind ihre Tourneen, die folglich von der treuen Community wie Gottesdienste zelebriert werden.
Ihr jüngstes Album L’emprise (2023) bot den Anlass für die achte Tournee der Sängerin, allerdings trägt sie nicht denselben Titel – Nevermore ist das Motto des Abends. Dieser Titel sorgte in der Fangemeinde gleich für einige Diskussionen und vor allem Ängste: Könnte es sein, dass es sich nun um die letzte Tournee handelt? Nur noch dieses eine Mal und dann… nevermore? Die literarisch etwas Geschulten erkennen natürlich in „Nevermore“ ein Zitat aus dem wohl bekanntesten Gedicht (1845) des Grusel-Erfinders Edgar Allen Poe, der seinen Raben im gleichnamigen Gedicht immer wieder dieses eine Wort aussprechen lässt („Quoth the raven: Nevermore“).
Angesichts des Corporate Designs des Abends lässt sich immer wieder aufs Neue erleben, dass tatsächlich Poes The Raven Pate gestanden hat für Mylène Farmers rund zweistündiges Pop- und Camp-Spektakel: Als gegen halb neun endlich das Licht im Stadium erlischt, erscheint auf riesigen Bühnenleinwänden in der Ferne ein (KI-generierter) Schwarm schwarzer Vögel, der sich während der musikalischen Ouvertüre immer mehr dem Publikum nähert. Als die Raben in bester Hitchcock-Manier vor der Linse der Kamera zu erkennen sind, schwebt aus dem Boden wie von Geisterhand die Protagonistin des Abends empor, der ebenfalls gigantische schwarze Flügel erwachsen. Mit „Du temps“ eröffnet sie den Reigen ihrer größten Erfolge vor der längst kreischenden Menge. Der Bühnenraum verwandelt sich zusehends in einen wilden Stilmix aus Sci-Fi-Optik und gotischen Ruinen, wo auch der Rabe immer wieder seine Cameo-Auftritte bekommt, besonders prominent während eines Songs, als eine ca. zehn Meter große Rabenskulptur auf der Bühne erscheint, in dessen Innerem Farmer im Abendkleid „Rayon vert“ vom jüngsten Album zum Besten gibt. Später am Abend kommt eine weitere Riesen-Skulptur zum Einsatz, diesmal ein mönchartiger Kämpfer, der an die Assassin’s Creed-Reihe erinnert, auf deren Sockel die Sängerin ihren Hit „XXL“ performt, der gewissermaßen auch das Motto des gesamten Konzerts intoniert: Es ist von allem etwas dabei, vieles passt zusammen, anderes nicht, alles ist bunt, leuchtet und wirkt irgendwie viel zu groß, zu bombastisch. Im Vergleich zu früheren Konzerten fällt natürlich auf, dass die gigantische Inszenierung auch dazu dient, einige altersbedingte Schwächen zu überlagern: Farmer tanzt längst nicht mehr so viel und so ausgelassen wie bei ihren Tourneen in der Vergangenheit. Sie lässt nun eher ihre sehr viel jüngeren Tänzer und Tänzerinnen spektakuläre Choreografien aufführen. Ähnliches kennt man auch von ihren Kolleginnen Madonna oder Kylie Minogue. Das Spektakuläre, das immer schon zu ihren Auftritten gehörte, lässt aber dennoch Momente der Intimität zu, insbesondere während ihrer Balladen, wie „Rêver“ oder „Que l’aube est belle“ – beim ersten, das nur von einem Klavier begleitet wurde, hätte man eine Stecknadel fallen hören. Ein ganz besonderer Moment war schließlich die Performance von „Les mots“, ihrem 2000er-Duett mit Seal.
Während sie die erste Strophe ins Mikro hauchte, herrschte fieberhafte Unruhe im Publikum, ob denn tatsächlich auch ihr Duettpartner auf der Bühne erscheinen würde, der vor allem in den 1990er Jahren große Erfolge mit Hits wie „Crazy“, „Kiss from a Rose“ oder „Killer“ gefeiert hatte. Und tatsächlich: Seal erschien unter dem tosenden Applaus der Massen und lieferte mit Farmer die erste gemeinsame Live-Performance ihres Schmachtfetzens ab.
Der absolute Höhepunkt des Abends war dann aber das von allen sehnsüchtig erwartete „Désenchantée“, gut platziert vor der ersten Zugabe „Rallumer les étoiles“. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich das Publikum in einen 80.000-stimmigen Chor – jeder und jede unter ihnen tauchte für rund sechs Minuten in die ganz eigenen Erinnerungen mit diesem wahrhaft ikonischen Song ein, der zu Beginn der 90er zu einer regelrechten Hymne in stürmischen Zeiten avanciert war. Viele Desillusionierungen hatten damals zur Hoch-Zeit der AIDS-Krise die Gay Community heimgesucht, Studierende protestierten auf den Straßen für bessere Lebensbedingungen, und der Erste Golfkrieg machte insbesondere den jüngeren Generationen Angst. „Désenchantée“ blieb 1991 für zwei Monate an der Spitze der französischen Charts. Im Stade de France verfehlte der Song auch 33 Jahre später nicht seine Wirkung – die meisten der langjährigen Fans stimmten enthusiastisch in den Gesang ein, viele von ihnen mit einem Glitzern in den Augen.
Es war ein denkwürdiger Abend im Pariser Norden und vielleicht das letzte wahrhaft große Spektakel in diesem an Spektakeln nicht gerade armen Jahr 2024. Es war – wie auch die Olympischen Spiele – für viele Franzosen und Französinnen ein Korridor des Eskapismus, ein Fest der Gemeinschaftlichkeit, bevor ganz sicher wieder hässlichere Zeiten die Schlagzeilen bestimmen werden. Und es war wunderbar, dabei gewesen zu sein – auch für einen Deutschen.
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