Durch die Goutte d’or wie im Traum

Ein Spaziergang mit der französischen Schriftstellerin Sofia Aouine

Veröffentlicht am
24.5.2023

Lars Henk

RPTU in Landau

Lea Sauer

RPTU in Landau
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Sofia Aouine kommt auf die Sekunde pünktlich in ihre Lieblingsbuchhandlung La Regulière in der Goutte d’or im Norden von Paris. Mit einem Schwung und so, dass sofort klar ist, dass sie tatsächlich regelmäßig in diesem hellen, gut ausgewählten und zugegeben etwas hippen Buchladen vorbeischaut, in dem die Lektüre von französischen Klassikern sowie den noch zu entdeckenden Geheimtipps der Neuerscheinungen mit dem Konsum von leckerem, frisch aufgebrühtem Kaffee in allen denkbaren Variationen Hand in Hand geht. Diesen Eindruck vermitteln zumindest die drei Studenten und Studentinnen, die sich angeregt vor ihren offenen Laptops an einem Tisch auf Englisch unterhalten. Sofia Aouine begrüßt das Personal auf erfrischende Art und Weise und wir, die wir schon seit ein paar Minuten die große Auswahl an Literatur bewundern, kommen hinzu. Wir werden zu einem bunten Tisch geführt, der für uns reserviert ist. Aouine erklärt in ihrem schnellen Pariser Französisch: „Ah, ich habe einfach angerufen, das müssen die von selbst gemacht haben.“

Das Quartier rund um die Goutte d’or ist genau der Ort, an dem auch Rhapsodie des Oubliés (2019) (eine vollständige Rezension des Romans finden Sie hier), der Debütroman der französischen Autorin, spielt. Aus der Perspektive des 13-jährigen Abad erzählt, entsteht nach und nach ein schillerndes, aufregendes Mosaik der Gegend rund um die Rue de Léon, die auch heute wohl eher nicht in den gängigen Touristenführern vermerkt sein wird. Abad trifft auf unter falschen Versprechen nach Frankreich gelockte und ausgebeutete Sexarbeiterinnen, Kleinkriminelle, radikalisierte Muslime, einstmals nach Frankreich Geflohene, Arbeiter, Migranten und erzählt ihre Geschichte(n) mit dem unverstellten Blick eines Heranwachsenden. Dass habe ihr die Möglichkeit gegeben, freier zu schreiben, ohne Tabus, mit der Direktheit eines Jugendlichen, der sich mit der Welt der Erwachsenen konfrontiert sieht.

Die caféeigene Katze stromert um unseren Tisch, schnurrt, wir zahlen unseren Kaffee und spazieren noch ein wenig im Viertel herum, Aouine zeigt uns die Orte, die sie inspiriert haben, sie habe den Roman an sehr vielen öffentlichen Orten des 18. Arrondissements geschrieben; in Bibliotheken, Cafés, selbst draußen. Doch wie so vielerorts ist auch hier alles ständig im Umbruch, die Gentrifizierung hinterlässt ständig neue Spuren. Im Jahr 2020 betrauerten viele die Schließung des beliebten Kultkaufhauses Tati an der Station Barbès-Rouchechouart. Aouine sieht diese Veränderungen kritisch, sie hat in diesem Viertel schließlich einen Großteils ihres Lebens verbracht. Wie für viele andere ist Tati für sie ein Symbol für die gesellschaftlichen Veränderungen von Heute:

„Spricht man über Tati, gibt es da durchaus Verbindungslinien zu Bourdieu, denn dieser Ort war einmal die Utopie von Jules Ouaki, einem in den 1940er Jahren aus Tunesien nach Frankreich immigrierten sephardischer Straßenhändler, der einst Klamotten auf dem Boulevard Barbès verkauft hat. Er hatte diesen Traum, die Vision eines Kaufhauses, das wie ein Bazar für alle funktioniert. Was ist ein Bazar? Das ist ein Konsumort für die classes populaires; oder zumindest für die kleinen Leute. Ein Ort, an dem man alle möglichen Dinge erhält, die man zum Leben braucht, von der Hochzeit bis hin zur Geburt. Das war nicht einfach nur ein Konsumtempel, sondern ein Ort, an dem man sich getroffen hat und mit dem man sich identifizierte. Ouaki hat diese Utopie aus dem Boden gestampft und dann für über sechzig Jahre am Leben gehalten. Und jetzt ist es durch spekulative Käufer zerstört worden, das Ladenschild wurde ersetzt durch Wohnungen, ein Luxushotel und ein Kulturzentrum, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Das ganze kulturelle Gedächtnis der Immigration und der kleinen Leute ist gerade dabei zu verschwinden, ohne dass es irgendwo festgehalten würde. Auch deswegen habe ich darüber geschrieben: um es zu bewahren.“

Ihr sei es in Rhapsodie darum gegangen, die verschiedenen Ebenen der Erinnerung einzufangen und dabei immer persönliches und kulturelles Gedächtnis gegenüberzustellen.

Wir bewegen uns über den Square de Léon, der auch in ihrem Roman eine Rolle spielt, an der Kirche Saint-Bernard-de-la-Chapelle vorbei, die 1996 für mehrere Monate von sogenannten sans-papiers, also Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus besetzt wurde, um gegen ihre Ausweisung zu demonstrieren, wir kommen an dem interkulturellem Zentrum Echo-musée vorbei, nur einige Meter weiter die Rue Léon entlang liegt der Musikladen Pala Pala Music: „In den 1980ern und seit den 60ern gab es hier enorm viele Kassettengeschäfte, die sich auf Raï spezialisiert hatten, und es war zum Beispiel auch das Label Mali Musique hier ansässig. Das Viertel ist bekannt dafür, verschiedene Musik und Kulturstile zu vereinen, die im Zuge der anhaltenden Migrationsbewegungen entstanden – von Chaâbi über Hip Hop bis hin zur gesamten afrikanischen Musikszene. Und es entstehen auch immer mal wieder neue Sachen, das ist die DNA der Goutte d’or.“ Dass Musik eine wichtige Rolle in ihrem Roman spielt, fällt schon beim ersten Blick ins Buch auf, so findet sich am Ende gar eine Playlist mit Songs verschiedenster Epochen und Stilrichtungen: „Das ist meine Hommage an die verschiedenen Musikstile dieses Ortes.“ Dabei ist sie sich ebenfalls bewusst, dass ihre Playlist durchaus widersprüchliche Eindrücke um die Metro-Station Barbès-Rochechouart vermittelt. Ihr gehe es darum, zu sehen, wie sich das Quartier entwickle. Hinsichtlich der Tracks Barbès von Rachid Taha und B.E.Z.B.A.R – Verlan für Barbès – von Scred Connexion gerät sie buchstäblich ins Schwärmen und beantwortet unsere Frage danach, warum diese Titel so verschiedene Blicke auf die Gegend werfen:

„Das erste Lied Barbès, in dem es um das Leben im Exil geht und das von einem wirklich außergewöhnlichen Sänger namens Rachid Taha gesungen wurde steht für die Generation der Magrebiner in den 70er und 80er Jahren. Zusammen mit seiner Band Carte de séjour hat Taha damals den französischen Klassiker Douce France von Charles Trenet neuinterpretiert und wurden damit schnell zur symbolischen Stimme der jungen maghrebinischen Einwanderer der 80er Jahre und ihr Kampf für die Gleichberechtigung, der auch heute, also Jahrzehnte später, noch andauert. Das war so eine Art Mix aus französischem Punk-Rock und traditioneller arabischer Musik. Scred Connexion waren in den 90ern ein paar Jugendliche, die aus diesem Viertel hier kamen. Mittels Hip Hop und der ganzen Wut des Raps erzählten sie von der Straße, so wie sie sie sahen. Die beiden Songs in der Playlist am Ende des Romans legen somit eine Art Zeugnis über den Fortbestand des kulturellen Erbes in den die Kinder von Migranten dar und soll zeigen, wie dies auch wiederum ihren Blick auf die Umgebung prägt.“  

Ebenso kunstvoll und musikalisch liest sich auch Aouines Roman, der immer wieder genau mit diesen Gegensätzen spielt. Es wundert kaum, dass in allen Roman-Kritiken immer wieder der kunstvolle Mix und Remix von verschiedenen Registern, Slangs und Tonalitäten hervorgehoben wird, der Aouines Erstling zu einer einzigartigen Lektüre macht – hier, in der Goutte d’or spürt man ihn überall, diesen Mix zwischen Alt und Neu, zwischen Hochkultur und Pop, zwischen den verschiedensten kulturellen Einflüssen, Gerüchen, Geräuschen. Es ist ein schillerndes Viertel, das Aouine als Schauplatz gewählt hat. Es ist vielleicht das spannendste Viertel überhaupt in dem manchmal vielleicht doch sehr zum Museum verkommenen Paris. Ihr Roman ist Zeugnis dieser Vielfalt: Musikreferenzen fließen ebenso selbstverständlich in ihren eigenen Sound mit ein wie Anleihen von Zola oder französischer Cinéasten, wie beispielsweise Maurice Pialat oder François Truffaut, dessen Film Les Quatre Cents Coups (1959) sie erst dazu inspirierte, Rhapsodie aus der Perspektive eines kleinen Jungen zu erzählen. Durch diesen Materialmix versuche sie, die Gesellschaft auf eine regelrecht rohe Art und Weise darzustellen, führt sie aus: „Ich bin zudem der Ansicht, dass Literatur so populär wie möglich sein sollte. Die Leute mögen das Wort ‚populaire‘ in der Regel nicht besonders gerne, aber ‚populaire‘ ist keine Beleidigung, im Gegenteil, Popliteratur kann aufregend und poetisch sein.“

Beim Lesen ihres Romans ist diese ‚Volksnähe‘ spürbar, denn auch wenn die Gesellschaftskritik anders als bei anderen aktuellen Vertreter*innen, wie beispielsweise Édouard Louis, nicht konkret benannt wird, ist Rhapsodies doch auch eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Milieus und Klassenunterschieden, die in der Goutte d’or aufeinanderprallen. Natürlich ist das kein Zufall, wie Aouine auf Nachfrage bestätigt. Denn auch wenn sie sich nicht direkt an großen soziologischen Konzepten bedient habe, wie Aouine klarstellt, so zeige ihr eigener Lebensweg doch immer wieder Überschneidungspunkte mit der empirischen Beobachtung der Soziologie. Lange Zeit hat Aouine beim Radio Geschichten aus der Realität in Audioformate überführt, auch ist aufgrund ihres eigenen Backgrounds als Tochter algerischer Eltern, die in Frankreich keineswegs zur Elite des Landes gehörten, schon eine gewisse Wachsamkeit für die sozialen Ungerechtigkeiten der Gegenwartsgesellschaft vorhanden. Und diese Wachsamkeit spürt man. Selten trifft man Menschen, die so viel Hintergrundwissen zu ihrer ‚Hood‘ vorweisen können – Aouine scheint tatsächlich jeden einzelnen Pflasterstein der Goutte d’or zu kennen. Es ist genau diese Wachsamkeit, die dann wiederum sehr wohl eine Rolle für ihr Verständnis von Literatur spielt, denn:

„Mittels der Fiktion eine Gesellschaft in ihrer ganzen Rohheit darzustellen, so wie es auch die Soziologie tut, das ist für mich ein Mittel von Ungleichheiten zu erzählen – sogar in der Stimme eines Jugendlichen. Um die Ungleichheit schließlich zu bekämpfen, um von ihr zu berichten und über sie nachzudenken. Mein Ziel ist es, Fragen zu stellen, ohne den Anspruch, sie beantworten zu müssen.“

Wir haben Hunger und Aouine führt uns zum Institut des Cultures d’Islam, wo gerade eine Art KüFa (Küche für alle) stattfindet. Über unserem Tajine sprechen wir über Literatur, Aouines Vorbilder, Lieblingsbücher, das, was sie an Literatur interessiert. Sie ist eine eifrige Leserin, von Frankreich bis in die USA scheint sie alles, was in den jüngeren Jahren veröffentlicht worden ist, zu kennen. Angeregt sprechen wir über das literarische Frankreich, tauschen uns zu Emma Becker, Fatima Daas, Ernaux, Eribon und Louis aus. Hinsichtlich ihrer literarischen Vorlieben und Einflüsse nennt sie neben Zola, dessen Figuren Nana und Gervaise Patinnen für die gleichnamigen Figuren in Rhapsodie waren, auch Iceberg Slims Mama Black Widow (1969) oder den Roman Push (1996) der amerikanischen Autorin Sapphire, der 2009 mit dem Titel Precious verfilmt wurde. „Als ich ihn mit siebzehn zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich umgehauen.“ Was Aouine so faszinierte, war vor allem der Umstand, dass hier die Sprache der amerikanischen Großstadtghettos in Literatur überführt wurde. Doch zwanzig Jahre später, als sie schließlich an ihrem eigenen Roman arbeitete, stellte sich die Frage, wie sich ein solcher Effekt herstellen lässt, ohne dass die Jugendsprache schon nach einigen Jahren unmodern oder gekünstelt wirkt. „Ich habe versucht“, so erklärt sie, „ein gutes Gleichgewicht zwischen der sich ständig verändernden, urbanen Sprache einer bestimmten Generation und der Poesie zu finden.“

Und plötzlich stehen wir vor dem Lavoir Moderne Parisien, einem Theater, in der sich früher eine Wäscherei befand. Angeblich genau diejenige, in der Zolas Gervaise ihre Wäsche wusch. Aouine kommt sofort mit einer Gruppe Frauen ins Gespräch, die rauchend vor dem Eingang stehen. Ob wir nicht einmal kurz reinschauen dürften? Wir dürfen, aber nur leise, weil gerade eine Veranstaltung stattfindet und so landen wir schließlich unter dem Dach des heutigen Theaters. Zwischen einigen Requisiten kann man die Anwesenheit von Gervaise beinahe spüren, einem wird bewusst, dass sich in jeder Ecke dieses Viertels, unter jedem Stein, in jedem Baum eine Geschichte, Erinnerungen, Literatur, Film, Kunst befinden – zumindest wenn man mit den Augen Aouines durch die Straßen zieht. Müsste man dementsprechend Aouines literarisches Credo zusammenfassen, wäre es wohl auch genau das: „Ich wollte mit meinem Debütroman Paris, so wie ich es kenne, bewahren.“ Mit ihrem schillernden Roman Rhapsodies des Oubliés ist ihr dies auf ganzer Linie gelungen. Man darf mehr als gespannt sein, welche Werke von ihr noch folgen werden. Dass sie gerade an einem zweiten Roman über die Generation Z der digital natives arbeitet, hat sie uns verraten: Im Roman möchte ich einen biblischen Mythos umdeuten. Mehr verrate ich nicht, weil der Roman noch nicht fertig ist.“

Wir verabschieden uns am lauten Boulevard Barbès, es ist wie ein Auftauchen aus einem Traum oder die Rückkehr von einer Zeitreise: so wie mit den Augen dieser Schriftstellerin hat man Paris noch nie gesehen. Möge sie uns zukünftig noch öfter teilhaben lassen an ihrem Quartier, ihrer Straße, ihrem Blick auf die Welt.

Sofia Aouine: Rhapsodie des oubliés, Paris: 2019. Bislang ist leider noch keine deutsche Übersetzung vorhanden.

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Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.

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