In der Straßenbahn auf dem Weg zum Karlsruher Literaturmuseum höre ich folgenden Satz: „Gut, dass wir Männer dabei sind und aufpassen, wann wir aussteigen müssen. Die Frauen verquatschen sich immer“. Ich reagiere auf dieses sexistische Klischee mit innerem Augenrollen, frage mich, ob das reicht, und beschließe, mich rauszuhalten. Ein paar Haltestellen später dann die vermeintliche Bestätigung: Ein leicht genervter Bariton brummt in die Runde: „Hopp jetzt – wir müssen raus!“ Die Frauen, und ich gebe zu, sie erinnern mich dabei an aufgescheuchte Hühner: „Huch, ach schon hier?!“ Sie haben sich verquatscht.
Dass diese Szene trotz ihrer scheinbaren Eindeutigkeit tatsächlich nicht als Beweis für naturgegebene Unterschiede zwischen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ herhalten kann, macht die Ausstellung über Simone de Beauvoir auf eindrückliche wie zugängliche Weise nachvollziehbar. In drei Räumen werden Schlüsselzitate aus Le deuxième sexe (1949) (dt. Das andere Geschlecht) zusammen mit historischen Informationen zum Leben und Wirken Simone de Beauvoirs präsentiert. Mehrere Exemplare ihres bedeutendsten Werkes liegen aus und laden ein, darin zu blättern. Auf stimmig in die Ausstellungsräume eingebundenen Monitoren und mit den am Einlass ausgehändigten Audiowiedergabegeräten können die Besucher:innen Interviews mit verschiedenen Beauvoir- und Feminismus-Expertinnen sehen und hören. Außerdem werden eine von Alice Schwarzer realisierte Dokumentation in voller Länge sowie teils großformatige Fotografien verschiedener Fotograf:innen gezeigt.
Die Zeitreise von den Anfängen des Feminismus bis heute zeigt: Ohne Zweifel hat sich schon einiges geändert und vieles verbessert. Darüber kann man sich freuen, dafür kann man dankbar sein. Gleichzeitig kann man sich darüber empören, wie lange so manche Entwicklung blockiert wurde und was eben immer noch nicht passiert ist. Zum Beispiel wurde erst 1977 die sogenannte „Hausfrauenehe“ abgeschafft, „die Frauen gesetzlich zur Haushaltsführung verpflichtet und Lohnarbeit nur mit Erlaubnis des Ehemannes möglich macht“ (Ausstellungstext). Erst weitere zwanzig Jahre später machte die Bundesrepublik Deutschland Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das wirft Fragen auf: Warum dauert es oft so lange, bis diskriminierende Gesetze geändert und starre Rollenverständnisse aufgeweicht werden? Vermutlich, weil bestimmte Menschen davon profitieren, dass alles so bleibt, wie es ist. Doch wieso halten selbst manche der Menschen an den herrschenden Verhältnissen fest, deren Selbstbestimmung dadurch am stärksten eingeschränkt wid – und das, ohne dass sich dafür überzeugend argumentieren ließe? Vielleicht, weil es mindestens unbequem ist und nicht selten tiefgreifende Verunsicherungen nach sich zieht, das Geltende und richtig Geglaubte in Frage zu stellen. Selbst, wenn Traditionen, gesellschaftliche Erwartungen, Regeln und Normen die persönliche Freiheit massiv beschneiden, versprechen sie Verlässlichkeit und Orientierung. Doch der Preis für den Halt durch das Althergebrachte ist hoch.
Und das gilt – wenn auch nicht in gleicher Weise – für beide Geschlechter (Simone de Beauvoir geht von zwei Geschlechtern aus, was aus Sicht mancher heutigen Positionen kritisiert wird): In erster Linie natürlich für die innerhalb patriarchaler Strukturen benachteiligten Frauen. So wird ‚die Frau‘ Jahrhunderte lang als ‚das andere Geschlecht‘ vom Mann aus gedacht; er erscheint als das Eigentliche, sie nur als das, was dieser nicht ist. Doch auch Männer – und es wäre zu ergänzen: alle, die sich in keiner dieser beiden Beschreibungen wiedererkennen – leiden unter sexistischen Strukturen. Ist es nicht ermüdend, ständig den harten Kerl abzugeben, sich permanent als kompetenten Versorger zu inszenieren? Macht es nicht krank, seine zarten, gefühlvollen, verletzlichen Seiten permanent unterdrücken zu müssen? Und selbstverständlich können auch Frauen sexistisch sein, wenn sie in einer sexistisch geprägten Gesellschaft sozialisiert worden sind. Simone de Beauvoirs Feminismus ist demnach kein Feminismus der Frauen gegen die Männer: „Ist die Frau unfrei, ist der Mann unfrei“ (de Beauvoir).
Diese Zugeständnisse zu machen, bedeutet nicht, in Abrede zu stellen, dass in patriarchalen Gesellschaften die objektiven, beispielsweise rechtlichen, Freiheiten und Sicherheiten zwischen den Geschlechtern auch heute noch äußerst ungleich verteilt sind. Die Gender Pay Gap und die Geringschätzung der zumeist von Frauen ausgeführten Care-Arbeit gehören ebenso zur Realität sogenannter (post-)moderner Gesellschaften wie die anhaltende Vernachlässigung weiblicher Lebenswirklichkeiten in Wissenschaft und Forschung. Auch die Sexualisierung und Objektifizierung von Frauen in der Werbung, der Musik und im Film ist noch nicht überwunden. Erst recht darf darüber nicht vergessen werden, dass sehr viel häufiger Frauen Opfer von sexueller Belästigung, Vergewaltigung und anderen Formen geschlechtsbezogener Gewalt bis hin zum Femizid, also der sexistisch oder misogyn motivierten Tötung, betroffen sind. Mit Simone de Beauvoir sind Privates und Politisches bei alldem zusammenzudenken, ebenso wie Geschlechter- und Klassenkampf: „Feminismus ist eine Art, individuell zu leben und kollektiv zu kämpfen“ (de Beauvoir).
Gehaltvoll, abwechslungsreich und ganz ohne ermüdende Textmengen macht der Ausstellungsbesuch einmal mehr erlebbar: Der Beitrag der französischen Philosophin im Kampf gegen sexistische Benachteiligung, gegen Unterdrückung und für eine gerechtere Welt ist kaum zu überschätzen. Nur die Romanautorin Simone de Beauvoir kommt mir etwas zu kurz. Im Literaturmuseum hätte ich mir neben der, wie ich finde, sehr gelungenen Aufbereitung ihres philosophischen Schaffens und öffentlichen Wirkens auch tiefere Einblicke in ihr literarisches Werk gewünscht: Mit welchen ästhetischen Mitteln hat sie ihrem Feminismus Ausdruck verliehen? Wie hat sie ihren Existenzialismus und ihre Vorstellungen von Sexualität und Geschlechtlichkeit erzählerisch entfaltet? Welche Verbindung gibt es zwischen ihrem Denken und dem literarischen Schreiben anderer, z.B. Virginia Woolfs, Annie Ernaux‘ oder Tove Ditlevsens?
Die ständige Ausstellung des Literaturmuseums widmet sich deutscher Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie ist ebenfalls multimedial angelegt und bietet Audioführungen auf Deutsch und Französisch sowie eine Audioführung speziell für Kinder und Jugendliche. Informationen zur nächsten Wechselausstellung werden über die Homepage der Literarischen Gesellschaft und des Museums für Literatur am Oberrhein bekannt gegeben. Für die weitere Beschäftigung mit Simone de Beauvoir empfiehlt sich die Folge „Frauen, ihr verdankt ihr alles!“ der Zeit-Podcastreihe „Hinter der Geschichte“:
Inspiriert von Victor Hugos Roman ‚L’homme qui rit‘ (1869) inszeniert Sébastien Jacobi ‚Der Mann, der lacht‘ am Saarländischen Staatstheater. Moritz Heß hat sich das Stück angesehen und seine Gedanken dazu für unser Portal verschriftlicht.
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Jean Tévélis im Gespräch über seinen Kinder- und Jugendroman 'Frère' (2021)