Trajectoires. Lebenswege in der Romanistik

Partie II: Prof. Dr. Joseph Jurt im Interview

Veröffentlicht am
7.6.2024

Lars Henk

RPTU in Landau

Gregor Schuhen

RPTU in Landau

Lea Sauer

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Warum entscheidet sich jemand ausgerechnet für eine Karriere innerhalb der französischen Literaturwissenschaft? Was fasziniert an dem Fach? Und wie kann die Zukunft der Romanistik aussehen? In unserer Interviewreihe „Trajectoires. Lebenswege in der Romanistik“ wollen wir genau diesen Fragen nachgehen. Die Antworten unserer Interviewpartner und -partnerinnen sind so vielseitig wie sie selbst und zeigen, wie lebendig unser Fach ist.

Nach einem Gespräch mit Prof. Dr. Walburga Hülk hatten wir die Möglichkeit, den Schweizer Romanisten Prof. Dr. Joseph Jurt zu interviewen. Joseph Jurt promovierte nach seinem Romanistikstudium in Fribourg und an der Sorbonne in Paris mit einer Dissertation zu Les attitudes politiques de George Bernanos. Er gilt als einer der wichtigsten Vermittler des literatursoziologischen Ansatzes von Pierre Bourdieu im deutschsprachigen Raum. Im Interview verriet er uns nicht nur, wie sein eigener Weg in Literaturwissenschaft verlief, sondern auch, wie er die persönlichen Begegnungen mit Pierre Bourdieu erlebte.

Lieber Herr Jurt, was hat Sie bewogen, Romanistik zu studieren?

Die Entscheidung für die Romanistik war fast selbstverständlich für mich. Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem drei romanische Sprachen gesprochen werden: in der Schweiz. Das will natürlich überhaupt nichts heißen. Denn ich bin im Herzen der Zentralschweiz groß geworden, in einer Gegend, wo man nur Schweizerdeutsch spricht. Als Schüler besuchte ich ein humanistisches Gymnasium mit den Fächern Latein und Griechisch als erste Fremdsprachen. Die zweite Sprache war wie überall in der Deutschschweiz Französisch. Unser Französischlehrer stammte aus dem französischssprachigen Wallis und unterrichtete nur in seiner Muttersprache. Er unterstützte meine Begeisterung für das Französische und für Frankreich. Neben Französisch ist im Gymnasium Philosophie mein Lieblingsfach gewesen. Die Existentialismus-Welle war Ende der 1950er Jahre in unsere Schule eingedrungen. Wir gaben uns „existentialistisch“: finsterer Blick, das Haar in die Stirn geschlagen, schwarze Rollkragenpullover. Sartre-Zitate waren für uns Erkennungszeichen. Sartre und Camus gehörten damals zum Standardrepertoire. Ich besorgte mir als Gymnasiast auch die Taschenbuchausgaben von Autoren wie Bernanos, Mauriac, Julien Green, Jean Cayrol. Über das französische Geistesleben erfuhr ich viel durch die Zeitschrift Dokumente/DocumentsZeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, die ich schon im Gymnasium abonniert hatte.

Frankreich war für unsere Generation das Topland, nicht nur wegen der Literatur, sondern auch wegen den Filmen der Nouvelle Vague und natürlich den Chansons. Meine erste große Reise führte mich im letzten Gymnasialjahr per Autostop nach Paris. Ich stand in Kontakt mit einer Familie, die mich sehr gastfreundlich aufnahm und mit der ich bis heute verbunden bin. In Paris fand ich nicht nur ein lebendiges Kulturerbe, sondern eine große Meinungsvielfalt und viel intensivere politische Debatten als in der „braven“ Schweiz.

Wo haben Sie dann studiert?

Als ich mich entschied, Romanistik zu studieren, war für mich klar, dass ich an einer französischsprachigen Universität mein Studium aufnehmen werde. Ich entschied mich für Fribourg in der Schweiz. Das war die nächstliegende Hochschule an der Sprachgrenze. Zudem war die Uni nicht so groß; das bedeutete gute Betreuungsverhältnisse.

Was unterscheidet ein Romanistikstudium in Deutschland von dem in der Schweiz?

Das Romanistik-Studium war anders organisiert als in Deutschland. Es gab das Fach „Philologie romane“. Hier wurde romanische Sprachgeschichte behandelt und die Literatur des Mittelalters aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Für die französische, italienische und spanische Literatur gab es je einzelne Lehrstühle, die von Muttersprachlern vertreten wurden. Alle Vorlesungen wurden in der jeweiligen romanischen Muttersprache abgehalten. Die akademischen Arbeiten mussten auf Französisch oder Italienisch oder Spanisch abgefasst werden. Die Deutschschweizer wählten zumeist Sprachwissenschaft als Schwerpunkt. Hier galt es Kärrnerarbeit zu leisten. Das behagte den Westschweizern weniger. Sie entschieden sich fast immer für den Schwerpunkt Literatur. Hier ging es ebenfalls darum, brillant zu sein. Das, was gefragt war, das war auch – oder in erster Linie – eine persönliche Auseinandersetzung mit den Texten.

Was für wichtige Strömungen gab es in Fribourg und wer waren die einflussreichen akademischen Persönlichkeiten, die Ihnen diese Auseinandersetzung mit den Texten nahebrachten?

Pierre-Henri Simon, mein erster Professor in französischer Literaturwissenschaft, war eine beeindruckende Persönlichkeit. Er stammte aus einem links-katholischen Milieu, war während des Krieges als Kriegsgefangener in einem Oflag in Deutschland gewesen. Er war aber auch ein „intellectuel“. Er hatte während des Algerienkrieges in mutiger Weise gegen die Folter Stellung bezogen (Contre la torture (1957)). Er war aber auch der führende Literaturkritiker von Le Monde. Später wurde er in die Académie française gewählt. Was mich faszinierte, war der stringente, klare Aufbau seiner Vorlesungen. Hier bekam ich etwas von französischer Rhetorik mit.

Noch wichtiger für mich war jedoch sein Nachfolger René-Marill Albérès. Er war mehr international ausgerichtet, hatte er doch in Florenz und Buenos Aires gelehrt. Er nahm auch Bezug auf nicht-französische Literatur. Die Vorlesungen von Albérès sind mir in bester Erinnerung geblieben. Er definierte selber die Themen und behandelte sie in analytisch griffiger Weise. Er betonte immer wieder, er wolle nicht das wiederholen, was schon in den Handbüchern stehe. So entwickelte er einen ganz persönlichen Zugang zu den Texten. Ich habe auch später auf seine Vorlesungen zurückgegriffen.

Das, was damals das romanistische Feld der Schweiz ebenfalls bestimmte, das war die Ecole de Genève mit Jean Rousset und Jean Starobinski in Genf und Georges Poulet in Zürich. Die Vertreter dieser Schule hatten sich von der in Frankreich noch herrschenden positivistisch-biographistischen Literaturbetrachtung abgewandt, um in der Literatur, angeregt von der deutschen Geistesgeschichte, den Ausdruck des ‚Geistes‘ zu sehen. Ich begegnete den Vertretern dieser Schule in Vorträgen und bei Kolloquien.

Wurde in Fribourg auch die Forschung der deutschen Romanistik rezipiert?

Nein, auf deutschsprachige Forschungsliteratur wurde nie verwiesen. Ich habe in meinem Literaturstudium in Fribourg nie den Namen eines deutschen Literaturwissenschaftlers gehört, weder Auerbach noch Hugo Friedrich noch Curtius.

Womit haben Sie sich in Ihrer eigenen Forschung beschäftigt?

Was mich faszinierte, war das kritische Bild der bürgerlichen Welt, aber auch die Dimension des Tragischen, die in der Literatur von Autoren wie Bernanos, Mauriac, Julien Green oder Jean Cayrol zum Ausdruck kam. Auch den Nouveau Roman fand ich spannend wegen der formalen Qualitäten und dem Versuch, die Dinge als solche zu erfassen. Lieblingsautoren waren dann vor allem Flaubert und Rousseau. Gemäß dem Vorschlag von Georges Poulet versuchte ich, neben den literarischen Werken auch die Korrespondenz der beiden Autoren zu lesen, beides als Ausdruck eines Bewusstseins. In Rousseau, namentlich in seinen Confessions, begegnete ich dem ersten modernen Menschen. Ich schätzte auch Émile Zola sehr, wegen seiner packenden Milieu-Schilderung und insbesondere wegen seines politischen Engagements im Kontext der Dreyfus-Affäre. Das Konzept des engagierten Schriftstellers erschien mir als vorbildlich. Ich konnte das schließlich auch für die Schriftsteller der Résistance untersuchen, namentlich bei der Pléiade-Edition der Essais et écrits de combat von Bernanos, wo ich für einen Teil des kritischen Apparates verantwortlich war. Durch die Mitarbeit an dieser Edition kam ich unmittelbar nach dem Doktorat mit der Forschung in Kontakt. Forschungsort war meist die Pariser Bibliothèque nationale mit ihren reichen Beständen. Ich interessierte mich übrigens zudem sehr für die französische Shoah-Literatur. Drei meiner Doktorandinnen widmeten ihre Dissertation deren Vertretern. Die intellektuelle Neugierde für neue Gegenstände und innovative Theorien ist auch später nicht erlahmt.

Sie haben den Ansatz von Bourdieu in Deutschland bekannt gemacht. Wie kam es dazu?

Ich erinnere mich noch, wie Pierre-Henri Simon in einer Vorlesung Lucien Goldmanns Analyse der tragischen Weltanschauung von Racine und Pascal vorstellte. Das sprach mich unmittelbar an, weil Literatur und Denken in einem sozialen Kontext verortet wurden, ohne die Werke bloß als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sehen. Goldmann interpretierte die tragische Weltanschauung in den Werken von Pascal und Racine als kohärente Übersetzung der Weltanschauung des jansenistischen Amtsadels. Als Goldmann sich daran machte, die zeitgenössische Romanproduktion zu analysieren, da konnte er zwischen den ökonomischen Strukturen und denjenigen des literarischen Werkes nicht mehr ein aktives Kollektivbewusstsein als Bindeglied entdecken; der moderne Roman scheint nach ihm eine Suche nach Werten auszudrücken, die keine einzige soziale Gruppe mehr tatsächlich verkörpert. Die These einer solch abstrakten Strukturhomologie erschien aber keineswegs als zwingend. Christophe Charle hatte schon auf die heuristische Problematik des Homologie-Begriffs von Lucien Goldmann hingewiesen. Racine und Pascal übersetzten wohl die tragische Weltanschauung der Jansenisten. Aber nicht jeder Jansenist schreibe Tragödien wie Racine oder Pensées wie Pascal. Auch Sartre hatte auf ähnliche Weise die Bedeutung der Rückbindung der Werke allein auf die soziale Klasse in Frage gestellt: Valéry ist ein Kleinbürger, stimmt; aber nicht jeder Kleinbürger ist Valéry.

Konnten Sie den Einwand von Christophe Charle teilen?

Durchaus. Seine Kritik nahm ich sehr ernst. Mehr per Zufall stieß ich auf seinen Artikel „Champ littéraire et champ du pouvoir: les écrivains et l’affaire Dreyfus“ (1977). Charle bezog sich auf die Grundkonzepte von Pierre Bourdieu. In seiner Analyse, die mich vollkommen überzeugte, begegnete ich zum ersten Mal dem Begriff des literarischen Feldes. Ich besorgte mir daraufhin alle von Pierre Bourdieu veröffentlichten Texte über das intellektuelle Feld. Das war für mich eine Offenbarung. Ich traf dort auf eine soziologische Herangehensweise an das literarische Geschehen, die den reduktionistischen Ansatz vermied, Werke lediglich als Ausdruck der Bestrebungen einer sozialen Klasse zu interpretieren. Bourdieu nahm die wachsende Autonomisierung eines als ‚Feld‘ definierten literarischen Bereiches ernst. Das soziale Phänomen der Literatur wurde von ihm gerade nicht in einem als ‚Gesellschaft‘ bezeichneten Anderswo angesiedelt, sondern innerhalb eines literarischen Feldes selbst, in dem die Autoren um die dominante Position kämpfen, die es ermöglicht, literarische Legitimität zu definieren. Bourdieu setzte sich auch mit der Literatur-Konzeption von Sartre auseinander. Dieser sah in literarischen Werken die Realisierung eines „projet“. Bourdieu hinterfragte diesen Ansatz, der auf einer absoluten Freiheitsphilosophie beruhte. Er führte das Konzept des Habitus ein, der durch die Sozialisation und den Kenntnisstand bestimmt wird und eine Disposition schafft, die der einzelne Autor in Bezug auf die Struktur des Feldes einbringt.

Um mich mit diesem Ansatz vertraut zu machen, hatte ich mir vorgenommen, auf der Tagung des Deutschen Romanistenverbandes im Oktober 1979 in Saarbrücken einen Vortrag mit dem Titel „Das literarische Feld im 19. Jahrhundert“ zu halten. Vorab übersandte mir Bourdieu eine Fotokopie seiner ersten Texte, die in Les Temps Modernes erschienen waren, überdies seinen Artikel über Flaubert sowie seine Texte zum religiösen und zum wissenschaftlichen Feld, in denen er dieselbe Methode auf andere Bereiche anwandte. Bei meinem Vortrag in der von Peter Bürger geleiteten Sektion musste ich feststellen, dass der Begriff des literarischen Feldes und die Arbeiten aus dem Umkreis von Pierre Bourdieu in Deutschland unbekannt waren, selbst bei Kollegen, die für eine Sozialgeschichte der Literatur aufgeschlossen waren. Erich Köhler, einer der Pioniere der Literatursoziologie in Deutschland, veröffentlichte meinen Vortrag 1981 in seiner Romanischen Zeitschrift für Literaturgeschichte. Pierre Bourdieu dankte mir in sehr persönlichen Worten für meinen Text, der wohl eine der ersten Präsentationen der Theorie des literarischen Feldes und ihrer frühen Anwendungen in Deutschland war.

Wie gestaltete sich anschließend Ihre Beziehung zu Bourdieu?

Pierre Bourdieu interessierte sich sehr für die neuen Richtungen der Sozialgeschichte der Kunst und der Literatur in Deutschland. Im Mai 1987 lud er mich für einen Monat als assoziierter Forscher in sein Zentrum ein. Er war so großzügig, diese Einladung gleich viermal in den folgenden Jahren zu erneuern (1989, 1993, 1997 und 1998). Diese Aufenthalte ermöglichten es mir, mich länger mit ihm zu unterhalten als bei unseren kurzen Treffen in Paris. Und ich wurde von den Mitarbeitern seines Zentrums am Collège de France immer sehr gastfreundlich aufgenommen.

Bourdieu selbst nahm vier Mal meine Einladung zu Vorträgen und Kolloquien an der Universität Freiburg an. Bei der Eröffnung des Frankreich-Zentrums hielt er einen wichtigen Vortrag zu den sozialen Bedingungen des internationalen Austauschs der Ideen und der Werke. Das war dann auch die Grundlage zu einem gemeinsamen Forschungsprojekt zu diesem Thema. 1995 organisierten wir gemeinsam ein Kolloquium zum Thema ‚Algérie-France-Islam‘, bei dem er die Kontakte zu wichtigen Forschern vermittelte. Ich konnte die Freiburger Vorträge von Pierre Bourdieu übrigens 2004 in einem Sammelband in der französischen Fassung und einer deutschen Übersetzung herausgeben (Pierre Bourdieu, Forschen und Handeln/Recherche et Action. Vorträge am Frankreich-Zentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (1989-2000). Freiburg/Paris, 2004).

Was faszinierte Sie persönlich an Bourdieu?

Im November 1980 traf ich Pierre Bourdieu zum ersten Mal persönlich bei einem Aufenthalt in Paris. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Begegnung. Er hieß mich in seinem Büro willkommen, ohne jede professorale Attitüde. Er interessierte sich sehr für meine Arbeiten und lud mich zum Mittagessen in das kleine Restaurant Le Raspail in der Nähe der MSH (Maison des Sciences de l’Homme) ein. Ich war vom ersten Moment an von seiner starken intellektuellen Präsenz und seiner menschlichen Wärme fasziniert. Sein kritisches Denken hörte nie auf, war Tag und Nacht am Werk. Verärgert über die Ethnologen, für die das Beobachtungsfeld ein begrenztes Territorium sei, sagte er mir, dass das Feld überall sei, hier in diesem Café oder anderswo. So war sein Denken ständig in Bewegung. Diese andauernde Aufmerksamkeit für die Welt um ihn herum erklärt, wie mir scheint, den enormen Reichtum seiner Studien. Sie ging Hand in Hand mit einer ebenso großen, ungeteilten Aufmerksamkeit für die Menschen, die den Kontakt zu ihm suchten. Trotz seiner überwältigenden Verpflichtungen als Professor, als Studiendirektor im CNRS, Herausgeber einer Zeitschrift und Autor nahm er sich immer Zeit für die Menschen.

Was löste die Nachricht seines Todes in Ihnen aus?

Die Nachricht hat mich in immense Traurigkeit versetzt. Mir wurde klar, dass ich mich auch nach seinem Tod bei jedem Ereignis, jeder Debatte fragen werde, was er wohl dazu sagen würde. Und gleichzeitig war ich sehr dankbar, dass ich über zwanzig Jahre lang mit einer Persönlichkeit von der Statur Pierre Bourdieus in Kontakt sein durfte. Durch ihn habe ich viele seiner Mitarbeiter und Freunde in zahlreichen Ländern kennenlernen können. Bourdieu liebte es, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Dank der vielen Menschen, die er mit seiner intellektuellen Stringenz und seiner menschlichen Wärme zu erreichen wusste, wird sein Werk fortbestehen.

Wie bewerten Sie den Boom von Bourdieu bzw. seiner Gesellschaftstheorie in der (französischen) Gegenwartsliteratur?

In vielen Darstellungen wird der Eindruck erweckt, Bourdieus Esquisse pour une auto-analyse (2004) sei das unmittelbare Vorbild für die heutigen Autosoziobiographien. Bourdieu war aber gegenüber der Gattung der Autobiographie sehr skeptisch. „Ceci n’est pas une autobiographie“ steht schon eingangs seiner Esquisse. 1986 hatte Bourdieu in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales einen viel beachteten Aufsatz über die „biographische Illusion“ veröffentlicht. Was Bourdieu an der Gattung ‚Lebensgeschichte‘ kritisierte, die in die Ethnologie und dann in die Soziologie eingeführt worden war, war die exklusive Orientierung an der zeitlichen Linearität, die sich auch in den entsprechenden Metaphern wie ‚Weg‘, ‚Straße‘, ‚Karriere‘ widerspiegle. Das Leben wird als ein zielgerichtetes Ganzes verstanden. Die biographischen Elemente sind für Bourdieu nicht irrelevant; es ist aber nicht adäquat, sie nur auf der Basis einer chronologischen Kontinuität zu interpretieren, und nicht in Bezug auf die Position der anderen Akteure im jeweiligen Feld. In seiner Abschiedsvorlesung am 28. April 2001 am Collège de France, an der ich teilnehmen konnte, entschloss sich Bourdieu, auch von sich selbst zu sprechen. Es ging ihm dabei aber um einen Objektivierungsvorgang; es ging darum, seine soziologischen Analysekategorien auch auf sich selbst anzuwenden. Er sprach darum von sich auch in der dritten Person: „P.B.“ teilte diese oder jene Eigenschaft mit dieser oder jener sozialen Gruppe. Bourdieu überarbeitete diesen Text im Herbst 2001. Seine Selbstanalyse erschien posthum zunächst auf Deutsch noch im Jahr 2002 unter dem Titel Ein soziologischer Selbstversuch. Der französische Originaltext Esquisse pour une auto-analyse erschien erst 2004. Bourdieu schrieb explizit: „Ich beabsichtige hier nicht, einer Schriftgattung zu huldigen, von der ich oft genug gesagt habe, wie gefällig und zugleich trügerisch sie ist: die Autobiographie.“ Es geht ihm in der Tat nicht darum, alle Etappen seines Lebensweges nachzuzeichnen, sondern nur die Aspekte zu berücksichtigen, die aus soziologischer Sicht relevant und für ein soziologisches Verständnis notwendig sind. Die Darstellung folgt darum nicht einer chronologischen Anordnung. Erst ganz am Schluss spricht er von seinem Herkunftsmilieu.

A propos Herkunftsmilieu, Ernaux, Eribon und Louis erzählen ihre Aufstiegsgeschichte aus dem Milieu der classes populaires und weisen dabei auf den Einfluss Bourdieus in ihren Werken hin.

Annie Ernaux lernte ich 1986 kennen, als sie in Freiburg La Place vorstellte – das Werk war eben in deutscher Übersetzung erschienen. Ich habe kaum je eine Veranstaltung erlebt, bei der in der Diskussion die Teilnehmer in so persönlicher Weise reagierten. Ich blieb seither mit der Schriftstellerin in Kontakt. Sie fühlte sich, wie sie schrieb, durch Bourdieu ermutigt, das sozial Verdrängte in ihrem literarischen Werk in Worte zu fassen. Sie hatte schon in den 1970er Jahren Les Héritiers, La Reproduction und später La Distinction gelesen. Das habe bei ihr einen heftigen „ontologischen Schock“ ausgelöst, wie sie einmal geschrieben hat. Sie habe danach gespürt, dass der Platz in der Gesellschaft, aber auch der eigene Lebensstil keineswegs selbstverständlich, keineswegs etwas „Natürliches“ seien. Das bedeutete auch, aus dem Gefangensein in der partikulären Existenz, aus dem Gefühl der Schuld und eines persönlichen Malaise auszubrechen. Die Kenntnis der Strategien der sozialen Gewalt ermögliche es, eine fatalistische Haltung zu überwinden.

Wenn Annie Ernaux von der Erfahrung der symbolischen Gewalt ausgeht, so unterscheidet sich ihr Vorhaben von dem der Soziologie. Sie spricht von einem parallelen Weg. Sie teilt mit der Soziologie wohl den kognitiven Ansatz, den Willen, die soziale Welt zu erfassen, dies jedoch mit literarischen Mitteln. Wenn sie auch von einem autobiographischen Substrat ausgeht, handelt es sich niemals um ein rein partikuläres, sondern um ein soziales Ich, in dem sich auch die Leser wiederfinden können. Insofern kann man bei ihr auch nicht von Autobiographien im engeren Sinn sprechen.

Im Juli 2001 organisierten Jacques Dubois, Pascal Durand und Yves Winkin in Cerisy-La-Salle unter dem Titel „Le Symbolique et le Social“ eine Tagung zur internationalen Rezeption des Denkens von Bourdieu, an der ich ebenfalls teilnehmen konnte. Annie Ernaux war auch eingeladen und sie beschrieb in ihrem Beitrag all das, was sie Bourdieu verdankte. In der Diskussion fragte sie der Philosoph Maurice de Gandillac, einer der Dauergäste der Kolloquien von Cerisy-la-Salle, ob sie nicht auch fiktionale Werke schreibe. Sie antwortete schlicht, aber kategorisch: „Nein“. Annie Ernaux reiste früher ab und traf dann Bourdieu nicht mehr persönlich, der erst gegen Ende der Tagung eintraf, die neun Tage dauerte. Annie Ernaux bedauerte später sehr, dass sie Bourdieu verpasst hatte, dem sie auch vorher nie begegnet war.

Eribon war wohl noch intensiver mit Foucault verbunden, dem er auch eine exzellente Biographie widmete. Er war ja von seiner Ausbildung her auch Philosoph. Foucault verdankte er sicher auch sein outing sexuel. Sein outing social kam erst sieben Jahre nach dem Tod von Bourdieu mit Retour à Reims zum Ausdruck, in dem sich Eribon auch explizit auf Bourdieus Selbstversuch bezieht. Eribon wirft Bourdieu indes vor, vieles aus seinem Leben offen zu lassen. Man kann hier einwenden, dass Bourdieu gar nicht die Intention eines Rousseau teilte, „alles zu sagen“. Er war ja gerade gegenüber der Gattung der Autobiographie sehr skeptisch.

Wie Ernaux spricht Eribon von einem ‚sozialen Ich‘. Zuletzt in Vie, Vieillessee et mort d’une femme du peuple (2023), dem Buch über seine Mutter.

Mir gefiel sein Mutter-Buch ganz gut. Das Bild der Mutter war schon in Retour à Reims positiv, im Gegensatz zum Bild des Vaters und der Brüder. Mit dem Ausdruck „une femme du peuple“, der an Annie Ernaux’ Une femme erinnert, unterstreicht Eribon, dass es ihm nicht nur um seine Mutter geht, sondern um das Schicksal einfacher Frauen im Alter. Die persönliche Erfahrung der Mutter im Altersheim wird ausgeweitet durch den Einbezug der Reflexionen von Simone de Beauvoir über das Alter (La Vieillesse) und Norbert Elias’ Ausführungen in Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen.

Édouard Louis hat Bourdieus Arbeiten über seinen Lehrer Eribon kennengelernt.

Das ist richtig. Édouard Louis bezieht sich ebenfalls auf Bourdieu, zu dem er sogar eine Tagung organisiert hat. Er zählt wie Eribon zu den „transfuges“ der ersten Generation. Das Bild der Herkunftsfamilie ist relativ negativ. Beim Frankoromanistentag in Wien merkte die französische Philosophin Chantal Jaquet auch an, dass das Bild, das Édouard Louis von seiner Familie entwerfe, ähnlich distanziert sei wie das eines bourgeoisen Autors. Ähnlich urteilt der Schweizer Literaturwissenschafter Jérôme Meizoz. Bourdieu und Annie Ernaux waren im Unterschied zu Eribon und Edouard Louis „transfuges“ der zweiten Generation. Ihre Familie hatte schon einen (bescheidenen) sozialen Aufstieg geschafft. Beide sehen den Abstand zum Ursprungsmilieu, suchen es aber über das literarische Schreiben oder die soziologische Analyse zu überwinden.

Machen Sie abseits von Ernaux, Eribon und Louis noch von Bourdieu beeinflusste Autosoziobiographien aus?

Hinweisen möchte ich auf die Autosoziobiographie von Rose-Marie Lagrave Se ressaisir. Enquête autobiographique d’une transfuge de classe féministe (2021). Die Autorin spricht nie nur von sich. Sie bat alle ihre zahlreichen Geschwister, ihre Erfahrungen in der Großfamilie aufzuzeichnen und ließ deren Aussagen in ihr Buch einfließen. Zudem stützt sie die Erzählung auch mit statistischen Untersuchungen. So belegen diese etwa, dass die Herkunft aus einer Großfamilie wohl soziale Kompetenzen vermittelt, aber nicht unbedingt für den sozialen Aufstieg förderlich ist. Die Autorin hegt keine literarischen Ansprüche. Der Lebensrückblick erscheint gleichzeitig auch als eine soziologische Untersuchung. Rose-Marie Lagrave kannte Bourdieu; sie war seine Kollegin an der (männerdominierten) EHESS. Sie hatte aber eine eigene Professur, die der Soziologie des ländlichen Raumes und später dem Feminismus gewidmet war. Bourdieu gab ihr das Manuskript seines Werkes La domination masculine vor der Veröffentlichung zur Durchsicht. Rose-Marie Lagrave trat dann auch in mehreren Vorträgen zusammen mit Annie Ernaux auf, in denen die beiden ihre Erfahrungen austauschten. Zuletzt erschienen diese auch gebündelt in dem von beiden herausgegebenen Buch Une conversation (2023).

Finden Sie, dass Bourdieu gegenwärtig sehr präsent ist?

Ich denke, dass Bourdieu in Frankreich vor allem als Denker und Soziologe präsent ist. Die Diskussion beschränkt sich dort nicht auf Ernaux, Eribon und Edouard Louis. Sie wird auch nicht so sehr unter dem Fachbegriff Autosoziobiographie geführt, sondern mehr unter dem Begriff „transfuges de classe“. Im Jahr 2021 erschienen fast zeitgleich Rose-Marie Lagraves Buch Se ressaisir und Edouard Louis’ Changer: méthode. Ebenfalls 2021 veröffentlichte Adrien Naselli eine Untersuchung über die Eltern von Klassenflüchtlingen: Et tes parents ils font quoi ? Enquête sur les transfuges de classe et leurs parents. Im selben Jahr erschien das Buch von Chantal Jaquet Juste en passant, das sie zusammen mit Jean-Marie Durand publizierte. Die Journalistin Valentine Faure stellte daraufhin einen regelrechten Boom von „transfuges de classe“-Publikationen fest (Libération, 21. Oktober 2021). Laut ihrer These würden Verleger gerne solche Berichte veröffentlichen, denn diese würden das meritokratische Credo bestätigen: Man kann den Aufstieg schaffen, wenn man sich anstrengt. Aber sowohl Rose-Marie-Lagrave als auch Chantal Jacquet denunzieren die Meritokratie als Ideologie, die bei der Mehrheit, die es nicht schafft, Schuldkomplexe auslöse.

Es gibt auch sehr kritische Stimmen vor allem in Frankreich.

Der genannte Boom löste in der Tat eine richtige Debatte aus. Der Soziologe Gérald Bronner lancierte im Januar 2023 mit seinem Buch Les origines. Pourquoi devient-on qui l’on est ? eine Breitseite gegen die Berichte der „transclasses“, denen er eine gewisse Wehleidigkeit („dolorisme“) und sozialen Determinismus vorwarf. Chantal Jaquet widersprach energisch seiner Determinismus-These, die man im Übrigen immer wieder gegen Autosoziobiographien vorbringt. In Deutschland ist die Debatte nicht so intensiv. Sie beschränkte sich mehr auf die drei Autoren Ernaux, Eribon, Edouard Louis. Und natürlich auf zahlreiche deutschsprachige Autoren von Autosoziobiographien, die sich häufig auf Eribon beziehen.

Wie lange, glauben Sie, hält der Boom der Autosoziobiographien noch an?

Das Denken von Pierre Bourdieu hat sicher dazu beigetragen, die soziale Scham zu überwinden. Dieser Ansatz stellt sicher auch eine Bedingung der Möglichkeit weiterer Autosoziobiographien dar. Diese Tendenz lässt sich einem größeren Kontext situieren, von der François Dosse in seinem Buch Les vérités du roman. Une histoire du temps présent (2023) spricht. Einerseits rekurrierten heutige Historiker auch auf literarische Verfahren. Der Autor verweist auf die Untersuchung des Historikers Ivan Jablonka Histoire des grands-parents que je n’ai jamais eus (2012). Jablonka verfolgt die Spuren seiner Großeltern aus einem Shtetl in Polen, die in Auschwitz umgebracht wurden. Da Zeugnisse fehlen, muss der Historiker, ähnlich wie der literarische Autor, ihr Schicksal imaginieren. Ein ähnliches Verfahren manifestiere sich im Werk des Historikers Stéphane Audoin-Rouzeau, Quelle histoire. Un récit de filiation (1914-2014) (2013), in dem der Autor auch sein historisches Wissen über den Krieg benutzt, um seine Familiengeschichte zu rekonstruieren.

Andererseits findet man in der heutigen Literatur immer weniger fiktionale Werke, sondern Werke, die Fakten darstellten. Dosse kommt darum am Ende seiner Untersuchung auf Annie Ernaux zu sprechen. Ihr sei es gelungen, ein spezifisches Bild der Gegenwart zu entwerfen, indem sie eine Infra-Histoire beschreibe, das heißt, all das schildere, was die professionellen Historiker nicht beachteten. Wenn sie sich auf Bourdieu beziehe, dann auch um dessen deterministische Sicht zu überwinden. Diese deterministische Sichtweise wird auch häufig, aber zu Unrecht Bourdieu zugeschrieben. In seinen Augen muss man zuerst die Zwänge erkennen, um sich von ihnen befreien zu können. Im Buch von François Dosse werden viele Autoren erwähnt, doch Eribon und Edouard Louis erstaunlicherweise nicht.

Wie blicken Sie auf die Zukunft des Faches Romanistik?

Ich bin nun schon lange pensioniert und überblicke die aktuellen Entwicklungen nicht mehr ganz genau. Ich stelle nur eine große Differenzierung des Faches fest, bei der auch die Frage der Medien einbezogen wird. Immer wieder wird auf das Alleinstellungsmerkmal der deutschen Romanistik verwiesen, die verlangt, dass man Kompetenzen in zwei romanischen Sprach- und Literaturbereichen nachweist. Das führt auch dazu, dass es nur wenige ausländische Romanistik-Professoren in Deutschland gibt, weil es diese Tradition etwa in den romanischen Ländern nicht gibt. Man könnte sich fragen, ob man nicht Professuren für französischsprachige, spanischsprachige Literatur schaffen sollte. Eine gewisse Entwicklung zeichnet sich schon durch die Gründung von einzelsprachlichen Fachverbänden, wie beispielsweise dem Frankoromanistenverband, ab. Andererseits nimmt die aktuelle Romanistik auch die Funktion von Komparatistikstudien wahr, die in Deutschland als Fach wenig institutionalisiert sind.

Sie haben letztes Jahr noch einmal ein sehr umfangreiches Buch zu Bourdieus Feldtheorie und zu ihrer Anwendung veröffentlicht. Woran arbeiten Sie gerade?

Ich bin froh, dass mein Buch über das Konzept des literarischen Feldes 2023 erscheinen konnte. Ich stehe immer noch mit dem Bourdieu-Kreis in Verbindung. Ich war Mitglied des Comité scientifique des Dictionnaire international Bourdieu (2020), für das ich auch einige Artikel verfasst habe. Im November 2022 war ich im Rahmen einer Tagung der Forschungsgruppe ‚Germanisten mit Bourdieu‘ an der Universität Wien zu einem Abendvortrag zu Bourdieus literatursoziologischem Ansatz eingeladen. Im Mai traf ich Jérôme Bourdieu, um ihm meine Korrespondenz mit Pierre Bourdieu zu übergeben. Jérôme Bourdieu führt das Vorhaben seines Vaters weiter als Leiter der Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales und als Herausgeber der exzellenten Reihe „Raisons d’agir“.  Ich bereite zurzeit eine Besprechung eines Sammelbandes der literatursoziologischen Aufsätze von Anna Boschetti vor, die in der einschlägigen Zeitschrift Contextes. Revue de sociologie de la littérature erscheinen soll. Ich arbeite jetzt vor allem auch zur Frage der Migration. Es geht hier vor allem um die Schweizer Auswanderung nach Brasilien. Neben dem historischen Kontext interessiert mich insbesondere auch die literarische Transposition dieser nicht einfachen Erfahrung.

Wir danken Ihnen für das Gespräch, Herr Jurt.

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